Photo: © Alhil Villalba
Die weltweite kapitalistische Krise macht auch vor Frankreich nicht halt. Seit Jahren sieht sich die französische ArbeiterInnenklasse mit einer immer radikaleren Sparpolitik konfrontiert. In den Fabriken und Universitäten brodelt es. Die sowohl von der konservativen UMP unter Ex-Präsident Sarkozy als auch von der sogenannten „sozialistischen“ Regierung unter Präsident François Hollande eingeführten „Reformen“ der letzten Jahre bedeuten für die Masse der arbeitenden Menschen, Jugendlichen und Studierenden verschlechterte Arbeits- und Lebensbedingungen. Auf der anderen Seite hat sich seit 2012 das Vermögen der reichsten Franzosen verdoppelt, die Arbeitslosigkeit hingegen steigt weiterhin an.
Allen Versprechen der Regierung zum Trotz haben die Arbeitsmarktreformen keinen einzigen Arbeitsplatz geschaffen. Ihr einziges Ziel ist die immer intensivere Ausbeutung der Arbeitskräfte. Die Arbeitsmarktreform, die nun eingeführt werden soll, kommt vielmehr einer Konterreform gleich. Sie beinhaltet neben der Aufweichung des Kündigungsschutzes, niedrigeren Löhnen und der Verschlechterung der arbeitsmedizinischen Versorgung eine generelle Erhöhung der Ausbeutungsrate und erlaubt es etwa den Arbeitgebern, die Arbeitszeiten zu liberalisieren und flexibilisieren. Das bedeutet konkret, dass Unternehmen durch Betriebsvereinbarungen die reguläre Arbeitszeit auf bis zu 12 Stunden täglich und 46 Wochenstunden im Durchschnitt ausdehnen können.
Nuit debout
Die Stille und Passivität, welche die letzten Monate nach den Pariser Terroranschlägen im vergangenen November kennzeichnete, wurde nun durchbrochen. Die Beängstigung und Verunsicherung, die mit den ausgerufenen Notstandsgesetze und der Bekundung „nationaler Einheit“ in der Bevölkerung geschürt wurden dienen nichts anderem als den Interessen der Bourgeoisie. Der bis heute andauernde Ausnahmezustand, welche der Staatsgewalt fast Rechte eines Polizeistaats einräumt, erzürnt immer weitere Teile der Bevölkerung. Die ersten Demonstrationen in diesem Frühjahr entwickelten sich rasch zu andauernden landesweiten Strassenprotesten unter dem Banner „nuit debout“ (wörtlich: „die Nacht über wach bleiben“, übertragen: „aufrecht bleiben“). Dabei blieben die Menschen nachts einfach auf der Strasse und grossen Plätzen in den Städten. Die Entbehrungen, welche in den letzten Jahren noch geduldet wurden, brechen sich nun endlich Bahn.
Schon im Vorfeld der Proteste drückten ArbeiterInnen, SchülerInnen und Studierende ihre Missbilligung gegenüber den angekündigten Reformen aus: die Petition „loi travail – non merci!“ (übersetzt: „Arbeitsmarktgesetze: Nein danke!“), welche von einem Kollektiv von Gewerkschaftern und Einzelpersonen ins Leben gerufen wurde, konnte Millionen Unterschriften sammeln. Jugendorganisationen haben die Gelegenheit ergriffen und zu einem Aktionstag am 9. März aufgerufen, sowie die Forderung lanciert, die Reformvorhaben unverzüglich zu stoppen.
Die Mehrzahl der nationalen Gewerkschaftsapparate hingegen wollen diesen Schritt nicht gehen und treten gemässigt auf. So spielt unter anderem auch die Führung des immer weiter nach rechts und ins liberal-konservative Spektrum tendierenden französischen Gewerkschaftsbundes CFDT eine perfide Rolle in dem Spiel: CFDT-Generalsekretär Laurent Berger hat die von der Regierung Hollande eingeführten Konterreformen im Prinzip befürwortet. Selbst der in Tradition der Kommunistischen Partei stehende Gewerkschaftsbund CGT macht nur zaghafte und halbherzige Versuche, die Massen zu organisieren.
Zu gut weiss die CGT-Führung um das revolutionäre Potenzial, das eine Streikbewegung von solchem Ausmass birgt. Eine solche revolutionäre Bewegung hätte ihre ganz eigene Dynamik und entzöge sich rasch der Kontrolle der Gewerkschaftsapparate. Dieses potentielle revolutionäre Moment allein vermag es die Bourgeoisie in existentielle Angst zu versetzen und Zugeständnisse zu machen. Wichtige Teile der obersten Gewerkschaftsführung tun jedoch ihr Bestes, ihrer historischen Rolle als Verräter der Arbeiterklasse gerecht zu werden. Sie haben kein Interesse an einer revolutionären Bewegung und verharren lieber in ihrer hemmenden Rolle. Der Kampf muss dementsprechend an mehreren Fronten geführt werden – gegen die herrschende Klasse, gegen die sogenannte „sozialistische“ Regierung und gegen ihre Unterstützer in den Reihen der Gewerkschaftsapparate.
Jugend als treibende Kraft
Die moderate und schwerfällig anmutenden Gewerkschaftsapparate stehen in eklatantem Gegensatz zur Motivation und der Radikalität der revoltierenden Jugend. Es ist nicht das erste Mal in der jüngeren Geschichte Frankreichs, dass die Jugend revoltiert – der Mai des Jahres 1968 ist im kollektiven Gedächtnis der herrschenden Klasse Frankreichs verankert. Auch 1986, 2006 und 2010 hatte es Massenproteste gegeben, in denen die Jugend eine tragende Rolle spielte. Der unkontrollierbare Charakter dieser Proteste und die Erfahrung, dass die Radikalisierung der Jugend in der Vergangenheit eine zentrale Rolle im Prozess der Radikalisierung der Arbeiter spielte, bietet der Regierung Hollande Anlass zu Sorge. Während der Proteste kam es zudem zu heftigen Zwischenfällen mit der Polizei, zeitweise wurde sogar eine Barrikade auf dem Platz der Republik in Paris errichtet, viele fliegenden Steine und zerbrochene Scheiben sind nun keine Seltenheit mehr. Die Tatsache, dass die Lage so aufgeheizt ist erklärt auch, weshalb der Polizeieinsatz, der die Proteste begleitete, so massiv und teilweise brutal ausfiel. Auch der zweite Entwurf des Arbeitsmarktgesetzes, der am 14. März vorgelegt wurde und im Übrigen keinen Deut besser ist als der erste, konnte die Protestwellen nicht zum Abebben bringen, im Gegenteil: die Politik des „kleineren Übels“, die von den Gewerkschaftsführungen verfolgt wird, vermag die Jugend nicht zu überzeugen.
Die radikalisierten Jugendlichen haben verstanden, was die Reformen tatsächlich und ganz konkret bedeuten: Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, Prekarisierung. Um die jugendlichen Protestanten zu besänftigen, regiert die Regierung mit finanziellen Massnahmen: die sogenannte “Jugendgarantie“ bietet hunderttausenden Jugendlichen einen finanziellen Zuschuss von 461 Euro monatlich, um den Arbeitseinstieg zu erleichtern, aber den Kern ihrer Forderungen – einen sicheren Arbeitsplatz und akzeptable Lebensbedingungen – lässt sie unberührt.
Für viele ist es nicht mehr nur eine Frage der Verhinderung dieses konkreten Gesetzesvorhabens, längst stellen sie schon den Gesamtzusammenhang, das kapitalistische System in Frage. Eine klare Ausrichtung und Ausformulierung dessen, was sie anstelle des Systems stellen wollen fehlt jedoch. Die Regierung um Präsident Hollande und Premierminister Valls üben sich in Standhaftigkeit und in ihrer Rolle als Lakaien des Grosskapitals. Frankreichs Linke befindet sich seit langer Zeit in der Defensive, anstatt mit einem eigenen Standpunkt und Klarheit an die Öffentlichkeit zu treten ordnete sich die Linksfront immer mehr der Linie von Hollande unter und stimmte Ende 2015 sogar selbst für den Ausnahmezustand. Umfragen zufolge soll der jetzige Präsident Hollande sogar noch unbeliebter sein als sein verhasster Vorgänger Sarkozy. Die Ursachen dafür, dass die Linksfront nun von einem Aufschwung der sozialen Bewegungen nicht profitieren sind klar ersichtlich. Es ist ein weiteres exemplarisches Beispiel dafür dass es für eine Linkspartei keine andere Möglichkeit gibt als konsequent die Interessen der ArbeiterInnen und Jugendlichen zu vertreten, wenn sie erfolgreich sein und bleiben will. Es fehlt derzeit aber ein geeignetes Ventil für den Frust der Ausgebeuteten und eine sozialistische Massenpartei, welche ihren Namen wirklich verdient.
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