Vor mehr als 20 Jahren, am Vorabend der Einführung des Euro, sagte die marxistische Tendenz voraus, dass die gemeinsame Währung angesichts neuer und unlösbarer Probleme „inmitten gegenseitiger Schuldzuweisungen zusammenbrechen“ würde. Diese Schuldzuweisungen begannen am vergangenen Donnerstag in einer fünfeinhalbstündigen Telefonkonferenz zwischen den Staats- und Regierungschefs der EU.
Die Frage, die den Europäischen Rat spaltete, war die Frage der Coronabonds: ein eurozonenweites Schuldeninstrument, das den Zugang der angeschlagenen Staaten Südeuropas zu Finanzmitteln für gesundheitliche Notfall- und Wirtschaftsförderungsmaßnahmen erleichtern und verbilligen würde.
Am Vorabend des Gipfels verfassten die Staats- und Regierungschefs von neun Ländern der Eurozone, darunter Frankreich, Italien und Spanien, einen Brief an den Vorsitzenden des Europäischen Rates Charles Michel, in dem sie einen gemeinsamen Schuldtitel forderten, „der von einer europäischen Institution ausgegeben wird, um auf dem Markt Mittel zum Nutzen aller Mitgliedsstaaten zu beschaffen.“
Dieser Vorschlag wurde jedoch von den wohlhabenderen nördlichen Staaten wie Deutschland, den Niederlanden und Finnland, die sich seit der Einführung der Idee während der Krise in der Eurozone 2009 konsequent gegen die Schaffung so genannter Euroanleihen in jeglicher Form gewehrt haben, zurückgewiesen.
Italiens Primierminister Guiseppe Conte: „„Wenn sich Europa dieser beispiellosen Herausforderung nicht stellt, verliert die gesamte europäische Struktur ihre Daseinsberechtigung für die Menschen.“ /Bild: NAJ OLEARI
Diese nördlichen Staaten haben sich immer gegen diese Idee ausgesprochen, aus dem einfachen Grund, dass sie effektiv für die Ausgaben anderer Staaten zahlen würden. Der herablassende Begriff „moralisches Risiko“ wurde wiederholt von deutschen und niederländischen Politikern aufgeworfen und bezog sich auf die Gefahr, dass faule und verschwenderische Südstaatler sich auf Kosten der nördlichen Steuerzahler mit nicht nachhaltigen Lebensstilen (wie z.B. dem täglichen Essen) überhäufen würden. Anstatt dazu beizutragen, diese giftige Debatte über „Streber“ und „Drückeberger“, die wir in allen Ländern gesehen haben, zu unterdrücken, scheint die europäische Integration sie auf eine kontinentale Ebene zu erweitern.
Die Staaten des Südens fürchten jedoch ein ganz anderes moralisches Risiko: Wenn der Rest der Union sich weiterhin vom Leiden der europäischen Mitbürger distanziert – und, was noch wichtiger ist, wenn dies deutlich erkennbar ist -, könnte dies jede verbleibende pro-EU-Stimmung in der Bevölkerung untergraben und weitere „Brexit-ähnliche“ Krisen unausweichlich machen.
Italiens Premierminister Giuseppe Conte, der bei der Forderung nach Coronabonds nicht überraschend an vorderster Front stand, brachte die Angelegenheit auf den Punkt, als er am Wochenende sagte: „Wenn sich Europa dieser beispiellosen Herausforderung nicht stellt, verliert die gesamte europäische Struktur ihre Daseinsberechtigung für die Menschen.“ Der französische Präsident Emmanuel Macron ging sogar so weit zu erklären, dass „das Überleben des europäischen Projekts auf dem Spiel steht“.
Die Spannungen kochten während des „virtuellen Gipfeltreffens“ des Rates über, als die italienischen und spanischen Staats- und Regierungschefs sogar damit drohten, die gemeinsame Erklärung des Rates am Ende des Treffens nicht zu unterzeichnen, wenn die Idee eines gemeinsamen Schuldeninstruments nicht unterstützt würde. Um eine unschöne Spaltung zu vermeiden, hat Michel einen Kompromiss ausgearbeitet, der Folgendes vorsieht:
„In dieser Phase laden wir die Eurogruppe ein, uns innerhalb von zwei Wochen Vorschläge zu unterbreiten. Diese Vorschläge sollten den beispiellosen Charakter des COVID-19-Schocks, der alle unsere Länder betrifft, berücksichtigen, und unsere Reaktion wird, falls erforderlich, mit weiteren Maßnahmen in einer integrativen Art und Weise im Lichte der Entwicklungen verstärkt werden, um eine umfassende Antwort zu geben.“
Ein weiterer Klassiker in der reichen Tradition von EU-Erklärungen, die absolut nichts aussagen; die Erklärung läuft auf eine einstimmige Zustimmung hinaus, sich in ein paar Wochen etwas einfallen zu lassen. In der Zwischenzeit sterben mehr Menschen, vor allem in den am stärksten betroffenen Ländern Italien und Spanien, und alte Wunden öffnen sich weiter.
Die Aussichten auf eine einheitliche und wirksame Reaktion der europäischen Staats- und Regierungschefs sind nicht gut. Angela Merkel erläuterte, dass Deutschland es vorziehe einen bereits existierenden Mechanismus anzuwenden, der speziell für diese Art von Situation entwickelt wurde – den europäischen Stabilitätsmechanismus. Das Problem dabei ist, wie bei dem Ruf nach dem IWF, dass dieser an Bedingungen geküpft ist. Nämlich an eine Reihe von „Reformen“, die darauf abzielen, die Defizite zu verringern, wie den Verkauf von öffentlichen Vermögenswerten, die Kürzung der Löhne und Renten im öffentlichen Sektor und den Angriff auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Das Heilmittel ist schlimmer als die Krankheit, und keine Regierung, die bei klarem Verstand ist, würde es akzeptieren, insbesondere nach den Erfahrungen in Griechenland.
Aber der Krieg der Worte hatte gerade erst begonnen. Nach dem Gipfel provozierte der niederländische Finanzminister de Jager eine wütende Gegenreaktion, als er vorschlug, Brüssel solle „untersuchen“, warum einige Länder finanziell nicht in der Lage seien, einen Abschwung zu verkraften. Dieser offensichtliche Seitenhieb auf Italien und Portugal löste eine empörte Reaktion aus, wobei der portugiesische Premierminister die Bemerkungen seines niederländischen Kollegen als „widerwärtig“ bezeichnete und andere auf das niederländische Steuersystem verwiesen, das beschuldigt wurde, Unternehmen dabei zu unterstützen, die Zahlung von Steuern in anderen europäischen Ländern zu vermeiden.
Zu sehen, wie sich die europäischen Staats- und Regierungschefs streiten, während die EU vor der größten Krise in der Geschichte ihrer Existenz steht, hat die weitsichtigeren Strategen des Kapitals in einen Panikzustand versetzt. Sie haben erkannt, wohin dies führen wird: zu einer Zunahme des Protektionismus, der diese Rezession in die tiefste Depression seit den 1930er Jahren, wenn nicht sogar noch tiefer, verwandeln würde. Wie ein Leitartikel in der Financial Times betonte: „Der Protektionismus hat die Katastrophe der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre noch verstärkt. Diesmal darf er das nicht tun.“
Dementsprechend fordern sie von ihren Führern, „die Lehren aus der Geschichte zu ziehen“ und den Kurs zu ändern. Aber diese Spaltung ist nicht das zufällige Produkt der Blindheit oder Unnachgiebigkeit der politischen Führer. Sie ist ein notwendiges Produkt der fundamentalen Natur des Kapitalismus, der nicht in der Lage ist, die Grenzen des Nationalstaates zu überwinden.
Dies gilt in doppelter Hinsicht für die EU – ein Versuch, kapitalistische Nationalstaaten, jeder mit seiner eigenen Gruppe von Kapitalisten und seinen eigenen nationalen Interessen, zu verbinden. Während eines Booms können die unvermeidlichen Widersprüche zwischen ihnen teilweise und vorübergehend überwunden werden. In Krisenzeiten allerdings bewegen sich die nationalen herrschenden Klassen in unterschiedliche Richtungen, das haben wir 2009 gesehen und sehen es heute.
Das Aufkommen nationalistischer und protektionistischer Tendenzen ist seit einem Jahrzehnt ein erkennbares Merkmal der europäischen Politik. Oftmals dem schlechten Einfluss der „Populisten“ zugeschrieben, gehen diese in Wirklichkeit direkt auf die unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Staaten selbst zurück, die trotz aller Rede von europäischer Brüderlichkeit doch in Konkurrenz zueinanderstehen.
Die Geschwindigkeit, mit der die Mehrheit der Gründungsprinzipien des Binnenmarktes aus dem Fenster geworfen wurden, spiegelt einfach die Tatsache wider, dass es derzeit nicht im Interesse der Großmächte liegt, sie aufrechtzuerhalten. Über die Abschaffung der Personenfreizügigkeit und der Beschränkungen des freien Warenverkehrs gibt es wenig Kontroversen, da mächtige Staaten wie Frankreich und Deutschland zu den ersten gehörten, die diese Regeln gebrochen haben.
Trotz der Rede von der europäischen Brüderlichkeit stehen die verschiedenen Nationalstaaten in Konkurrenz zueinander. /Bild: The Kremlin
Die Aussetzung der EU-Regeln für staatliche Beihilfen spiegelt ebenfalls die wachsende Besorgnis der herrschenden Klassen Europas wider, dass ihre „nationalen Interessen“ durch den Zusammenbruch wichtiger Unternehmen oder deren Übernahme durch ausländische Firmen geschädigt werden könnten. Dies ist selbst ein starkes Zeichen für die Zunahme protektionistischer Tendenzen in gesamten EU, da die Mitgliedstaaten den Aufkauf von Unternehmen von nationaler, nicht europäischer Bedeutung planen. Dies wirft die ernsthafte Möglichkeit auf, dass protektionistische Maßnahmen innerhalb des Freihandelsblocks selbst angewandt werden und nicht nur gegen externe Konkurrenten wie die USA gerichtet sind.
Dieses gemeinsame Interesse gilt jedoch nicht, wenn es um Coronabonds geht. Im Gegenteil, die Interessen der nördlichen und südlichen Staaten sind in dieser Frage diametral entgegengesetzt und werden im Laufe der Krise immer weiter auseinandergehen.
Es liegt nicht im Interesse der deutschen oder niederländischen Regierung, ihre Kreditkosten, und sei es auch nur um einen geringen Betrag, zu erhöhen, um zur Finanzierung der Politik ausländischer Staaten beizutragen, über die sie so gut wie keine Kontrolle haben. Dies würde bedeuten, dass sie ihre rechte Flanke nationalistischen Parteien wie der AfD aussetzt, die bereits von den Ressentiments profitiert, die sich aus den jahrelangen Sparmaßnahmen und dem Fehlen einer echten linken Alternative ergeben haben.
Auf der anderen Seite haben die Regierungen des Südens, wie zum Beispiel die italienische, keine andere Wahl, als auf eine größere Lastenverteilung in der gesamten Union zu drängen. Strenge Bedingungen für die Unterstützung zu akzeptieren, wie sie im Rahmen des ESM gefordert werden, oder die steigenden Schuldenkosten stillschweigend hinzunehmen, während die nördlichen Staaten (die so sehr vom europäischen Projekt profitiert haben) sich entspannt zurücklehnen, würde effektiv die Machtübernahme von Rechtsnationalisten wie Salvini garantieren und könnte sogar dazu führen, dass sie ihren Austritt aus dem Euro androhen. Kurz gesagt, wenn sie diese Forderungen nicht stellen, wird es jemand anderes tun.
Dies hat die EU-Institutionen in eine völlige Sackgasse geführt, wie aus den schwankenden Positionen der EZB-Präsidentin Christine LaGarde und der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen – der Chefin der Exekutive der EU – ersichtlich ist.
Die EU-Institutionen sind in einer Sackgasse, wie aus den schwankenden Positionen der EZB-Präsidentin Christine LaGarde und der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen – der Chefin der Exekutive der EU – ersichtlich ist. /Bild: PoR
Lagarde erfreute zunächst die Bundesbank mit der Bemerkung, dass es nicht Aufgabe der EZB sei, den Spread (Handelsspanne zwischen dem Rücknahme- und dem Verkaufskurs eines Zertifikats) zwischen italienischen und deutschen Anleihen zu schließen, nur um dann angesichts der Panik und Wut der Investoren unter den Südstaaten eine spektakuläre Kehrtwende zu vollziehen. Die gleiche politische Akrobatik vollzog dann von der Leyen, als sie sagte: „Das Wort Corona-Bond ist ja eigentlich nur ein Schlagwort. Dahinter steht doch eher die größere Frage der Haftung“, was ihre Nähe zu ihrem früheren Arbeitgeber, der deutschen Regierung, widerspiegelt. Nachdem ihre Äußerungen einen Aufschrei provozierten, verkündete sie plötzlich, dass „alle Optionen“ auf dem Tisch lägen und die EU „Italien und Spanien sehr intensiv helfen“ würde.
Es ist faszinierend zu sehen, dass diese beiden Personen auf so ähnlichen Bahnen wandeln, und es spiegelt letztlich die Tatsache wider, dass die transnationalen Institutionen der EU nicht unabhängig von den großen Mitgliedsstaaten existieren und daher deren Interessen widerspiegeln müssen. Wenn ihre Interessen so klar und streng geteilt sind, ruhen sie beide zunächst auf dem mächtigsten Teil – Deutschland – und rudern dann aus Angst, eine Spaltung mit der großen und lautstarken Minderheitsfraktion zu provozieren, zurück.
Dieser fröhliche Tanz bestimmt seit 2008 die ausweichende und unwirksame Politik der EU. Die Probleme wurden immer wieder auf die lange Bank geschoben, wie man sich an diesem Punkt erinnern kann. Am Donnerstag geschah das erneut, und in naher Zukunft wird es mit Sicherheit wiederum passieren.
Die unvermeidliche Abrechnung lässt sich nicht auf unbestimmte Zeit verschieben. Entweder wird sich die Eurozone in eine einzige, einheitliche Föderation verwandeln, in der die Frage der Lastenverteilung hinfällig wird, oder die Frage, wer für all diese Schulden aufkommt, wird immer wieder gestellt, bis der Block zusammenbricht. Die Ereignisse über mehr als ein Jahrzehnt haben bestätigt, welches dieser Ergebnisse am wahrscheinlichsten ist.
Die europäische Integration ist schon vor langer Zeit ins Stocken geraten, aufgehalten durch den Widerspruch, den bürgerlichen Nationalstaat auf kapitalistischer Basis überwinden zu wollen. Echte Integration und Vereinigung sind auf der Grundlage eines Ausbeutungssystems unmöglich. Heute sind die europäische Einheit und „Solidarität“ ebenso eine Täuschung wie die „nationale Einheit“, die in der ganzen Welt von Regierungen propagiert wird, die Billionen an die Ausbeuter ausgeben, während Arbeiter gezwungen sind, für ihre Profite zu arbeiten und zu sterben.
Durch die gegenwärtige Krise droht mehr als nur der Zusammenbruch des Euro. In allen Ländern hat die durch das Coronavirus ausgelöste Krise bereits dramatische Bewusstseinsverschiebungen hervorgerufen. Überall entwickelt sich das, was Trotzki den „molekularen Prozess der Revolution“ nannte zu einer gewaltigen Explosion, die nicht nur das europäische Projekt, sondern den europäischen Kapitalismus selbst bedrohen wird.
Echte Solidarität kann nur aus echter Gleichheit hervorgehen. Nicht die europäische Brüderlichkeit, sondern die Klasseneinheit wird Europa vor dieser Katastrophe retten. Wir müssen für ein Europa der Arbeiterinnen und Arbeiter kämpfen: frei von Grenzen, Bankiers und Bossen.
„Arbeiterinnen und Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!“
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024