Sogar die Strategen der herrschenden Klasse warnen vor einem apokalyptischen Szenario für den britischen Kapitalismus, da die Pandemie, der Brexit und das wirtschaftliche Chaos zusammen einen perfekten Sturm auslösen. Wir treten in eine Periode revolutionärer Erschütterungen ein.
Vor dem Krieg schrieb Leo Trotzki, dass die herrschende Klasse mit geschlossenen Augen auf die Katastrophe zusteuerte. Dies ist eine treffende Beschreibung der gegenwärtig herrschenden Klasse in Britannien. Der britische Kapitalismus blickt in einen Abgrund. Er steht gleichzeitig vor einer Wirtschafts-, einer Pandemie- und einer Brexit-Krise – die sich alle auf katastrophale Weise gegenseitig befruchten.
Für die britische Wirtschaft wird in diesem Jahr ein Rückgang von 11,3 % prognostiziert, der tiefste Einbruch seit 300 Jahren. Und die Arbeitslosigkeit wird innerhalb weniger Wochen um eine Million steigen. Es handelt sich hier um noch nie da gewesene Krise.
Wir können diesem Szenario noch eine weitere Wendung hinzufügen: das mögliche Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs mit der Abspaltung Schottlands und sogar Nordirlands. In Schottland spricht sich jetzt eine stabile Mehrheit für die Unabhängigkeit aus, die die Tories verzweifelt zu blockieren versuchen. Dies könnte zu einer Situation wie in Katalonien führen – d.h. zu einem Kräftemessen zwischen Holyrood und Westminster. Hinzu kommt, dass wir die unfähigste und politisch bankrotteste Tory-Regierung in der Geschichte haben, mit einem politischen Clown an der Spitze.
Die ganze Situation bereitet eine soziale Explosion oder eine Reihe von Explosionen vor. Dies ist keine Worthülse, sondern das, wovor die Strategen des Kapitalismus selbst warnen. In einem kürzlich veröffentlichten vertraulichen Dokument des Kabinetts – das als „vertraulich“ bezeichnet wird und im September verfasst wurde – wird zugegeben, dass Grossbritannien beim Austritt aus der Europäischen Union mit einer „systemischen Wirtschaftskrise“ konfrontiert ist.
„Im Winter 2020 könnte es vor dem Hintergrund des Endes der [Brexit-]Übergangsperiode zu einer Kombination aus schweren Überschwemmungen, einer Grippepandemie, einer neu auftretenden Infektionskrankheit und koordinierten Arbeitskampfmassnahmen kommen“, stellt das Dokument bedenklich fest.
Da nur noch wenige Wochen bis zum Austritt Grossbritanniens aus der EU verbleiben, wurden alle Regierungsabteilungen angewiesen, sich auf einen Austritt ohne Abkommen vorzubereiten. Aber ob mit oder ohne Abkommen, Grossbritannien wird extrem hart getroffen werden. Internationale und inländische Lebensmittelversorgungsketten werden durch „Umstände, die am Ende des Jahres gleichzeitig auftreten“, so das Papier, unterbrochen werden. Die Lagerbestände haben während der Pandemie stark abgenommen und können nicht ohne weiteres wieder aufgebaut werden. Die Versorgung mit frischen Lebensmitteln wird ebenfalls betroffen sein und die Preise in die Höhe treiben. Es gibt auch Bedenken hinsichtlich der Wasserversorgung.
Die Reichen werden davon natürlich nicht betroffen sein. Stattdessen sind es diejenigen mit niedrigem Einkommen, die am stärksten von Ernährungsunsicherheit bedroht sein werden, wenn das Vereinigte Königreich aus Europa herausbricht. Die „Planungsprämissen“ des Kabinettsamtes sagen ein wirtschaftliches Chaos und einen möglichen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung aufgrund zunehmender „innergesellschaftlicher Spannungen“ voraus. Der Bericht spricht sogar von einer nationalen Krise der psychischen Gesundheit.
Ein Regierungssprecher sagte, dass die Regierung sich nicht zu undichten Stellen äussere. Er fügte jedoch hinzu, dass diese Prognose
„eine verantwortungsbewusste Regierung widerspiegelt, die sicherstellt, dass wir auf alle Eventualitäten vorbereitet sind.“
Das Dokument enthält Warnungen vor einem „hohen Mass an Veränderungen“, unabhängig davon, ob die Tory-Regierung ein Handelsabkommen mit Brüssel vereinbaren kann oder nicht. Es warnt vor einem möglichen Arbeitskräftemangel in der Sozialfürsorge für Erwachsene durch den Brexit angesichts der Abhängigkeit des Sektors von europäischen Arbeitskräften, was zu einem „Versagen der Dienstanbieter“ führen könnte.
Tatsächlich beziehen sich einige der ernsthaftesten Kommentare auf die Gesundheits- und Sozialfürsorge. „Die Pandemie hat die Fähigkeit des Gesundheits- und Pflegesektors, sich auf das Ende der Übergangsperiode vorzubereiten und darauf zu reagieren, eingeschränkt und wird dies auch weiterhin tun“, warnt der Bericht und stellt eine „anhaltende Störung des Systems von November bis mindestens April“ fest.
Ein Rückgang der Arzneimittelimporte wird ebenfalls als ernstes potenzielles Problem hervorgehoben, mit „einer annehmbaren Versorgungsrate, die im schlimmsten Fall bei 60-80% des derzeitigen Niveaus liegt“. Dies stellt ein Sicherheitsrisiko für die Patienten dar.
Die Wirtschaft Grossbritanniens steht vor einer Katastrophe, Investitionen und Kapazitäten sind im Niedergang begriffen. „Die Unternehmen sind in vielen Sektoren anfälliger, und dies wird sich gegen Ende der Übergangszeit auf die Geschäftsbereitschaft und Anfälligkeit auswirken“, heisst es in dem Dokument. Es verweist auf die gestiegene „Wahrscheinlichkeit geschäftlicher Misserfolge, auch die von grossen staatlichen Vertragspartnern“.
In dem Bericht ist die Rede davon, dass die Finanzen der Kommunen in einem besonders prekären Zustand sind. Tatsächlich heisst es darin, dass – selbst mit staatlicher Unterstützung während der Pandemie – etwa 5% der Gemeinden vor dem Bankrott stehen. Das jüngste Beispiel ist Croydon.
Die Tory-Regierung hat weitere Kürzungen der Mittel für die Kommunalverwaltungen angekündigt und zwingt die Räte, die kommunalen Steuern zu erhöhen. Während die öffentlichen Dienstleistungen drastisch gekürzt werden, spricht das Kabinettsamt davon, dass die Bedürftigsten sogar Hilfe von der Armee erhalten müssen.
Das Office of Budgetary Responsibility (Amt für haushaltspolitische Verantwortung/OBR) hat ebenfalls Analysen veröffentlicht, die sich mit einem No-Deal-Szenario befassen. Die OBR-Studie sagt eine permanente Erosion der Wirtschaft um fast 2% des BIP voraus, zusätzlich zu dem bereits einkalkulierten Rückgang von 4%. Dies wird die Staatsfinanzen weiter belasten und die Zahl der Arbeitslosen bis zum nächsten Sommer um weitere 300.000 ansteigen lassen.
Die Tory-Regierung macht unbekümmert weiter und rennt von einer Katastrophe in die nächste. Ihre Rücksichtslosigkeit ist ein Spiegelbild des Bankrotts des britischen Kapitalismus, der auf die Felsen zusteuert. Das soziale Gefüge der britischen Gesellschaft wird auseinandergerissen. Das bisschen „Stabilität“, das aus der Vergangenheit übrig geblieben ist, hat ein jähes Ende gefunden. Wir stehen vor einer Rückkehr zu den dickens’schen Zuständen. Bereits 15,2 Millionen Einwohner leben unterhalb der Armutsgrenze und diese Zahl steigt.
Wenn die Urlaubsregelung ausläuft, werden Millionen auf den Müllhaufen geworfen, zusätzlich zu den bereits in Armut lebenden Menschen. Viele werden von der Vertreibung aus ihren Häusern und Wohnungen bedroht sein, zusammen mit denen, die bereits gezwungen sind, in provisorischen Unterkünften, in Autos und Zelten oder auf der Strasse zu schlafen.
Die Arbeiterklasse steht vor einer Katastrophe schlimmsten Ausmasses. Wiederum sind es die Arbeiterinnen und Arbeiter, die für dieses Debakel bezahlen müssen, und zwar durch verstärkte Sparmassnahmen und ein Absinken des Lebensstandards. Aber die Arbeiter werden das nicht einfach hinnehmen. Der Bericht des Kabinetts warnt, wie gesagt, auch vor Arbeitskämpfen. Die Kämpfe, die in Tower Hamlets und anderswo ausbrechen, sind ein Vorbote dessen, was noch kommen wird.
Da die Tory-Regierung gespalten und im Chaos versunken ist, versucht die herrschende Klasse verzweifelt, ihre Kontrolle über die Labour-Partei mit Hilfe der Vertreter des rechten Flügels wiederzuerlangen. Die Linken innerhalb der Partei müssen den wahren „inneren Feind“ erkennen und entsprechend handeln, um diese rechten Scharlatane und Karrieristen zu vertreiben. Mit solchen Leuten kann es keine „Einheit“ geben. Es muss ein Kampf bis zum Ende sein.
Britannien tritt in eine Periode revolutionärer Erschütterungen ein. Auf kapitalistischer Basis gibt es keine Lösungen für die Probleme, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert ist, sondern nur zunehmendes Elend. Kein noch so grosses Herumbasteln an diesem bankrotten System wird irgendetwas lösen. Nur ein kühnes sozialistisches Programm – die Übernahme der Banken und Monopole unter der Kontrolle und Leitung der Arbeiter – kann einen Weg nach vorn bieten. Nur wenn die Wirtschaft in den Händen der Werktätigen ist, kann sie im Interesse der Mehrheit und nicht im Interesse der Milliardäre geplant und betrieben werden.
Gigantische Ereignisse stehen auf der Tagesordnung. Wir müssen uns daher dringend auf das vorbereiten, was vor uns liegt. Wir müssen die Kräfte des Marxismus in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und besonders unter der Jugend, die der Schlüssel zur Zukunft ist, mit verstärkter Energie aufbauen.
Wie Trotzki schrieb, ist das Problem – damals wie heute – letztlich eine Führungskrise. Wir müssen eine marxistische Führung aufbauen, die in der Lage ist, den Bedürfnissen der Arbeiterklasse in dieser Zeit der beispiellosen Krise gerecht zu werden. Das Schicksal der Menschheit hängt von dieser Frage ab. Wir appellieren an euch, sich uns bei dieser Aufgabe anzuschliessen!
von Rob Sewell
Übersetzung des Artikels „British capitalism’s ‘systemic crisis’: social explosion brewing“ welcher am 8. Dezember 2020 erschien.
Bild: Socialist Appeal
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