„Oft braucht es gerade eine Situation, in der alles blockiert wurde, um die Blockade in der Gesellschaft auszuheben!“, rief Frédéric Lordon mit der zerbrechlichen Stimme eines Volkswirtschaftsprofessors der Menge von „Nuit debout“ zu. Knapp zehntausend Menschen fanden sich am 31. März, am Abend des frankreichweiten Aktionstages auf dem Platz der Republik ein. Seither treffen sich täglich mehrere tausend Protestierende auf den Plätzen Frankreichs, um zusammen zu diskutieren. Ihr Ziel? „Gegen die Arbeitsmarktreform der Ministerin El Khomri und die ganze El Khomri-Welt“ zu kämpfen. So zumindest fasst es Lordon zusammen.
Bild © Info’Com CGT
Das Paket „El Khomri“
Ein Jahr vor Ende seiner Amtszeit versucht Präsident Hollande eine Arbeitsmarktreform durchzupeitschen, welche die Errungenschaften der französischen ArbeiterInnenschaft nicht frontaler angreifen könnte. Die drei wichtigsten Neuerungen sind: eine Höchstgrenze der Abfindungen für unrechtmässige (Massen-)Entlassungen, Abschaffung der 35-Stunden Woche und Begünstigung von Betriebs-Gesamtarbeitsverträgen gegenüber von Branchenverträgen.
Nach französischem Arbeitsrecht ist eine Entlassung um einiges schwieriger als in der Schweiz, sehr zum Leid der Arbeitgeber. Das hält sie aber nicht davor ab, Betriebe zu schliessen und Belegschaften auf die Strasse zu stellen. Doch im Unterschied zum schweizer Arbeitsrecht (das im OR nur gerade 44 Gesetzesartikel vorweist, gegenüber 10’628 im Code de Travail) können Arbeitnehmende in Frankreich ihre Entlassung vor einem Schiedsgericht anfechten und beträchtliche Abfindungen erkämpfen. Indem eine Obergrenze für solche Entschädigungen eingeführt wird, können die Kosten einer Firmen-Auslagerung bereits im Vornherein berechnet werden. Die Höhe der Abfindungen wird sinken und die CEO ersparen sich die Gerichtsverhandlungen und die damit verbundenen Arbeitskämpfe.
„Schau auf deine Rolex – es ist Zeit für eine Revolte“
Les 35 Heures
Trotz gleichnamigem Gesetz war die 35-Stunde Woche in Frankreich niemals Realität. Laut Eurostat arbeiten unsere westlichen Nachbarn im Durchschnitt 40.7 Stunden pro Woche. Für die ersten acht Überstunden gilt ein Lohnaufschlag von 25%. Durch die Reform würde die Anzahl normal entlohnter Wochenstunden auf 46 Stunden im Durchschnitt und bis zu 60 Stunden in Ausnahmefällen erhöht werden. Das führt nicht unbedingt dazu, dass länger gearbeitet wird. Doch durch Wegfallen des Lohnaufschlages entsteht am Ende des Monats eine beträchtliche Lücke auf dem Lohnausweis.
Eine solche Ausnahmeregelung setzt voraus, dass das jeweilige Unternehmen über einen eigenen Gesamtarbeitsvertrag verfügt und die Erhöhung der Arbeitszeit mit einem Betriebsreferendum bestätigt worden ist. Diese Regelung greift die Branchenverträge frontal an, stellt die bürgerliche Normhierarchie (der Arbeitsvertrag muss den Gesamtarbeitsvertrag respektieren, dieser wiederum muss das Arbeitsgesetz respektieren, etc.) auf den Kopf und setzt die Belegschaften einzeln unter Druck. Im einzelnen Betrieb heisst es: „Stimmt zu oder euer Werk wird geschlossen“. Nur Branchenverträge lösen die Belegschaften aus der Isolation, da sie dadurch betriebsübergreifend verhandeln können.
Staubtrockenes Unterholz
Nach den Attacken in Paris und dem andauernden Ausnahmezustand erachtete die Hollande-Regierung das Gefühl der „Nationalen Einheit“ wohl als stark genug. Der Moment war gekommen, um die El-Khomri-Reform umzusetzen. Doch dies stellte sich als Fehlkalkulation heraus.
Schon vor Bekanntgabe der Reform lag die Unterstützung der Regierung bei der Bevölkerung bei unter 15%. Ein solch tiefer Wert wurde nicht einmal während der Amtszeit von Sarkozy erreicht. Die Mehrheit der Menschen leidet unter den drastischen Sparplänen der Regierung und der kontinuierlich steigenden Arbeitslosigkeit. Der Druck in der arbeitenden Bevölkerung steigt. Die Belegschaft der Air France veranschaulichte diese Spannung, als sie dem CEO das Hemd vom Körper riss, als dieser ein weiteres Mal 1300 Arbeitsplätze strich.
Die Bewegung gegen die El Khomri-Reform, welche sich seit dem 9. März formiert, traf die Regierung wie eine kalte Dusche. Gleichzeitig ist sie der Beweis, dass der Aufstieg des rechten Front National (FN) nicht einem Rechtsrutsch der Bevölkerung gleichzusetzen ist, sondern dass sich generell eine Radikalisierung der Bevölkerung abzeichnet. Laut Umfragen unterstützen 67% der FN-WählerInnen die Studentenproteste.
Die Forderung nach dem Rückzug der Reform bringt seit einem Monat wöchentlich hundertausende Menschen auf die Strasse. Doch die Regierung hat keinen Spielraum. Die Arbeitgeber – allen voran die grösste Arbeitgeberorganisation MEDEF – stellen sich resolut gegen jede Abschwächung der Reform.
Gib ihnen, was sie brauchen
Die französische Wirtschaftselite hat die El Khomri-Reform bitter nötig, um die Profite ihrer Unternehmen im internationalen Konkurrenzkampf wieder in Ordnung zu bringen. Die Abfindungen und der Schutz vor Entlassungen sind Hindernisse auf dem Weg der „Strukturanpassungen“, sprich Werkschliessungen und durch das Ende der 35-Stunden Woche können Lohnkosten in Millionenhöhe gespart werden. Durch das Einführen der Betriebs-GAV kann die Belegschaft wieder einzeln ausgebeutet werden, ohne dass dabei Rücksicht auf die Branchenverträge genommen werden muss, welche die Arbeitnehmenden bis anhin geschützt haben. Die fortschrittliche Gesetzeslage, welche nur durch den Druck der ArbeiterInnenbewegung durchgesetzt werden konnte, beeinträchtigt direkt die Profitbedingungen der französischen Kapitalisten. In der Situation einer globalen und andauernden Krise kann sich die Bourgeoisie française den „Luxus“ von Arbeitsplatzsicherheit und bezahlten Überstunden nicht mehr leisten. Die aktuelle „sozialistsiche“ Regierung ist mit der Reform definitiv dazu übergegangen, offen und konsequent die Interessen der Kapitalistenklasse zu vertreten und schreckt dabei nicht vor einer massiven polizeilichen Repressionskampagne zurück.
Politische Pubertät
Nun ist es die Jugend, die sich wehrt. Es sind die GymnasiastInnen und StudentInnen, welche sich zu Tausenden zum Kampf gegen die Reform formieren. Mit der Forderung der bedingungslosen Rücknahme des Vorschlags wurde am 9. März erstmals zu einem Aktionstag aufgerufen, weitgehend über Facebook. Die Gewerkschaften verhielten sich passiv. Doch unter steigendem Druck der SchülerInnen sahen sich auch grosse Organisationen, wie zum Beispiel die historische Gymnasial- und Unigewerkschaft UNEF, welche mit der parti socialiste verbandelt ist, gezwungen, ebenfalls die Rücknahme fordern.
Dass die junge Generation als erstes der Regierung den Fehdehandschuh hingeworfen hat, ist ein weiterer Beweis für ihr hohes politisches Bewusstsein. In Frankreich belastet die wirtschaftliche Verschlechterung junge Menschen sehr. Bis zu 70 % der Studierenden müssen einem „Neben“-Job nachgehen und enden dabei zehn Mal wahrscheinlicher in einem befristeten oder temporären Arbeitsverhältnis als ältere Angestellte. Dieser prekäre Zustand kristallisiert sich im Widerstand gegen die El Khomri-Reform. Gerade in Frankreich gibt die Jugend gesellschaftliche Radikalisierungsprozesse unmittelbarer wieder.
Wo bleiben die Gewerkschaften?
Die Reform ist ein Frontalangriff auf die Arbeitnehmerrechte. Doch die Gewerkschaften verharren mit dem Kopf im Sand. Der SP nahe Gewerkschaftsbund CFDT hat bereits eingelenkt. Die Führungen der anderen Gewerkschaften versuchen die Bewegung zurückzuhalten, werden aber von der radikalisierten Basis weitergepeitscht. Beim Ansetzen jedes Aktionstages verstecken sie sich der Reihe nach hinter der zögerlichen Haltung der anderen Gewerkschaftsführer. So schenkt die Basis zur Zeit keiner einzigen traditionellen Gewerkschaft mehr das Vertrauen.
Trotz der massiven Beteiligung an den Aktionstagen (500’000 am 9. März, 1.2 Millionen am 31. März) setzen immer mehr Arbeitende die Strategie der zahlreichen, aber isolierten Aktionstage in Frage. Wieso für die Demonstration streiken, wenn man damit den eigenen Job verlieren kann und die Reform trotzdem nicht zurückgezogen wird?
Politische Freinacht
Aus diesem Widerspruch entstand die Bewegung „Nuit debout“ (in etwa „Die Nacht über wach“). In den Tagen vor dem 31. März verbreitete sich die Stimmung, dass man es nicht bei einem Demonstrationszug belassen dürfe. Seither füllt sich der Platz der Republik in Paris jeden Abend mit Diskutierenden. Die Indignados-Kopie breitete sich rasch auf über sechzig Städte aus. Die Ideen sind, wie beim spanischen Vorbild, noch nicht ausgereift, der Kontext unterscheidet sich jedoch grundlegend. Denn parallel zu „Nuit Debout“ wächst die Studierenden- und SchülerInennbewegung weiter an und strukturiert sich. Die Bewegungen stärken sich wechselseitig.
Das Gespenst von Mai 68
Der Schrecken der Verbindung der Studentenproteste mit der ArbeiterInnenbewegung vom Mai 1968 sitzt den Bürgerlichen immer noch tief. Nach einer blutigen Polizeirepression eines Studentenprotestes traten damals über 10 Millionen Arbeitende in den Streik. Diese Erinnerung findet heute den Weg zurück ins Bewusstsein vieler.
Genauso treten die kollektiven Erfahrungen aus den Kämpfen von 2006 und 2010 erneut an die Oberfläche. Im Jahr 2006 wurde das Erstarbeitsvertragsgesetz (CPE), welches alle Arbeitsverträge von jungen ArbeiterInnen prekarisiert hätte, mit einer kämpferischen Bewegung erfolgreich zurückgedrängt. Der Rest der damaligen Arbeitsgesetzreform kam aber durch.
In dieser Bewegung entstand die Tradition der demokratischen Vollversammlungen an den Unis und Schulen, an denen Entscheidungen und Ziele gemeinsam diskutiert und verabschiedet werden. Diese Art, die Bewegung demokratisch abzustützen, kam auch 2010 wieder zum Einsatz. Im Kampf gegen die damalige Rentenreform beliessen es die Gewerkschaftsführer ebenfalls bei einer Reihe von Aktionstagen. Ein unbefristeter Streik der RaffineriearbeiterInnen und gewissen Sektoren des öffentlichen Dienstes wurde nicht verallgemeinert. In diesem Kampf zeigte sich zum ersten Mal offen die Perspektivenlosigkeit der Gewerkschaftsführungen und die Unzulänglichkeit der isolierten Aktionstage. Zwar begann sich damals die Basis der Gewerkschaften nach dem Vorbild der StudentInnen in Vollversammlungen zu organisieren und es bildete sich ein nationales Mobilisierungskomitee aus Studierenden- und Arbeitendendelegierten, ein sehr mächtiges Werkzeug, aber im Kampf gegen die Rentenreform entstand dieses zu spät. Doch diese Erfahrung könnte sich heute als sehr nützlich erweisen.
Grève Générale !
Jede Vollversammlung, jede Diskussion an den „Nuit Debout“ Versammlungen, jede Kundgebung vor den besetzten Gymnasien gipfelt im Thema eines Generalstreiks. Die Radikalisierung unter den StudentInnen ist soweit fortgeschritten, dass die Vorschläge, mit denen der Premier Valls die Studentenschaft de facto kaufen wollte (z. B. 500€ Erhöhung der Stipendien), als Beleidigung abgetan wurden. Allerdings ist den Studierenden klar, dass der nötige Druck, die Reform zu verhindern, erst durch das Eintreten der arbeitenden Bevölkerung in den gemeinsamen Kampf aufgebaut werden kann. Da sich die Regierung mit dem Rücken zur Wand, respektive zum MEDEF, befindet, zeichnet sich weiterhin kein Ausweg ab.
Die hoffnungslose Sicht der Gewerkschaften kommt nicht von ungefähr. Der heutige Kapitalismus hat weder der französischen Studierendenschaft noch der ArbeiterInnenklasse mehr zu bieten als Sozialabbau, Sparmassnahmen und intensivierte Ausbeutung. Nur auf der Basis einer sozialistischen, demokratisch kontrollierten Wirtschaft ist es möglich, die aktuellen Probleme zu überwinden. Über genau diese Fragestellung diskutieren heute hunderttausende SchülerInnen, GewerkschafterInnen, manuelle und intellektuelle, temporär Angestellte und solche, die unter prekären Bedingungen arbeiten, auf den Plätzen Frankreichs. Und wenn sie sich entschieden haben, „wach zu bleiben“, werden sie nicht so schnell wieder nach Hause gehen.
Caspar Oertli
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