Das Scheitern der ukrainischen Offensive im Krieg gegen Russland wird ein politisches Problem für die westlichen Regierungen. Ursprünglich publiziert am 16. Oktober auf marxiste.org.
Zahlreiche westliche Kommentatoren schrieben den Ausbruch eines Bürgerkriegs herbei, als Jewgeni Prigoschin am 23. Juni seinen Putschversuch unternahm. Es hiess, dieser Putsch würde Putins Regime wegfegen und den Krieg in der Ukraine entscheiden. Nur wenige Stunden später fand die Offensive des Wagner-Chefs ein jähes Ende. Die Diktatur Putins wurde vorläufig gestärkt.
Dennoch erlaubte diese Episode dem Kreml, in den eigenen Reihen aufzuräumen. Eine Repressionswelle brach über die Militärs herein, die im Verdacht standen, Komplizen Prigoschins zu sein, ebenso aber über zahlreiche Kritiker und Oppositionelle. Linke Aktivisten wurden verhaftet, darunter der Akademiker Boris Kagarlizki, doch auch Nationalisten wie das ehemalige Oberhaupt der russischen Paramilitärs im Donbass, Igor Girkin, der eine «nicht ausreichende Härte» des Kremlins bei der Kriegsführung in der Ukraine bemängelte. Und fast zwei Monate nach dem fehlgeschlagenen Putsch war es Jewgeni Prigoschin selbst, der bei einem äusserst suspekten Flugzeugabsturz ums Leben kam.
Das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive
Nach den erfolgreichen ukrainischen Feldzügen im September 2022 ergriff der Kreml eine Reihe an Massnahmen, womit der Kriegsverlauf wieder zu seinen Gunsten umschwang. Die Mobilisierung von 300’000 Reservisten erlaubte es, die zahlenmässige Unterlegenheit auszugleichen, wenn nicht sogar die Überzahl zu erlangen. Durch den Rückzug aus Cherson und vom rechten Dnepr-Ufer wurde die Front kürzer und leichter zu verteidigen. Die von Wagnertruppen geführte Offensive in Bachmut im vergangenen Frühling führte zu erheblichen Verlusten auf ukrainischer Seite. Gleichzeitig erlaubten grossflächige Befestigungsarbeiten der russischen Armee in der Region Saporischschija, starke Verteidigungslinien aufzubauen – genau da, wo die ukrainische Gegenoffensive ihre Kräfte bündeln musste.
Im NATO-Lager wurde die Gegenoffensive schon Monate im Voraus in den Himmel gelobt. Nach den Lobreden aus Kiew und den westlichen Medien sollten nicht nur die russischen Linien durchbrochen werden, sondern auch ein Vorstoss bis zum Schwarzen Meer erfolgen, was die besetzten Gebiete zweiteilen würde. Einige sagten gar die «Befreiung der Krim» im Sommer 2023 voraus. Für diesen Kraftakt sollte die Ukraine sich auf frisch im Westen ausgebildete Truppen verlassen können sowie auf NATO-Waffenlieferungen, zu denen moderne Leopard 2-Panzer gehörten.
Die Gegenoffensive begann am 4. Juni mit einer Reihe selbstmörderischer und insgesamt fruchtloser Angriffe. Ohne Luftunterstützung näherten sich ukrainische Kolonnen durch Minenfelder, Artilleriefeuer und Luftbeschuss den russischen Linien. Die ukrainischen Verluste waren enorm: So berichtete ein amerikanischer Freiwilliger am 17. August, dass die Verluste in seiner Einheit 85 % betrügen. Insgesamt ist wohl mit Zehntausenden Toten und Verletzten zu rechnen.
Auch die westliche Kampfausrüstung litt schwer: Von den ungefähr 50 gelieferten Leopard 2-Panzern seien mindestens 15 schon in den ersten Wochen zerstört oder stark beschädigt worden. Funktionstüchtige westliche Panzerfahrzeuge sind sogar von russischen Truppen erbeutet und in Russland öffentlich ausgestellt worden: Für die NATO eine richtiggehende Demütigung.
Die Erfolge der Gegenoffensive sind läppisch. Nur an einigen Punkten gelang es den ukrainischen Angriffen, die russischen Linien zu durchbrechen. Nach vier Monaten wurden bloss einige bereits vollständig verwüstete Dörfer zurückerobert. Unter diesen Bedingungen leidet die Moral der ukrainischen Truppen stark, wie auch die ukrainische Presse zugibt. Am 22. Juli schrieb die Kyiv Post:
«Frontsoldaten berichten, dass ihre Einheiten wegen ständiger und immer grösserer Verluste, mangelnder Unterstützung und den schwachen Ergebnissen der Offensive stark demoralisiert sind (…)».
Seit dem Oktober erschweren Regen, Schlamm und der erste Schnee – die sogenannte Rasputiza – den Transport mit schwerem Gerät auf den ukrainischen Ebenen erheblich. Auch der Durchfluss des Dnepr steigt mit den Regenfällen, der von der ukrainischen Armee dann schlechter überquert werden kann. Kurz gesagt ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Ukraine in den nächsten Monaten grosse Erfolge einfahren kann.
Krise im Westen
Für die herrschenden Klassen der westlichen Mächte kommt diese militärische Sackgasse zu den bereits bestehenden wirtschaftlichen und politischen Kosten des Kriegs hinzu. Die Milliardeninvestitionen in einen verloren scheinenden Krieg zu rechtfertigen, wird immer schwieriger, wenn gleichzeitig Wirtschaftskrise und Inflation wüten. Diesen Sommer hat eine US-amerikanische Umfrage erstmals ergeben, dass sich eine Mehrheit gegen jede weitere Unterstützung der Ukraine ausspricht. In den kommenden Präsidentschaftswahlen ist diese Entwicklung ein entscheidender Faktor im Wahlkampf Trumps und der Republikanischen Partei.
In Europa ist dieses Phänomen noch ausgeprägter, da die Sanktionen gegen Russland grosse Nachwirkungen haben. Der Unterbruch der Gasversorgung aus Russland hat die wirtschaftliche Krise verschlimmert und die Inflation befeuert. Die europäischen Herrschenden können der Krise kaum Herr werden, ohne wieder Kontakte nach Russland zu knüpfen. In dieser Lage gerät die Mehrheit der europäischen herrschenden Klasse unter Druck, und ein Teil von ihnen möchte auf diesem oder jenem Wege den Krieg beenden. Dies erklärt die öffentlichen Aussagen von Nicolas Sarkozy Mitte September: «Wir brauchen die Russen und sie brauchen uns».
Unter der Last der Wirtschaftskrise bröckelt die NATO-Fassade. Am 20. September gab die polnische Regierung bekannt, die Ukraine militärisch nicht länger zu unterstützen. Dieser Kurswechsel ist leicht erklärt: Nach Kriegsausbruch baute die EU Schutzzölle für ukrainisches Getreide ab, was die polnische Landwirtschaft hart traf. Unter Druck der öffentlichen Meinung opferte Warschau also Kiew, um nicht einen wichtigen Wähleranteil zu verlieren.
Währenddessen gewann in der Slowakei die Partei des Rechtspopulisten Robert Fico am 1. Oktober die Wahlen, mit der ausdrücklichen Position, jegliche Hilfe für die Ukraine einzustellen. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise kann sich das in anderen europäischen Ländern wiederholen. So hat sich auch die deutsche AfD von Beginn an gegen jede Waffenlieferung ausgesprochen und wirbt für eine neuerliche Annäherung an Russland. Die AfD nun noch vor der SPD zweitgrösste Partei.
Ein imperialistischer Krieg
Wie wir von Anfang an erklärt haben, wird dieser Krieg nicht für die Unabhängigkeit der Ukraine oder für die «westlichen, demokratischen Werte» geführt. Zwei Imperialismen stehen sich gegenüber: Einerseits der russische, andererseits der amerikanische, der mächtigste der Welt, der die Ukraine als Waffe gegen Russland nutzt. Diesen Sommer fasste US-Senator Mitt Romney das auf seine Art zusammen, als er twitterte: «Die Unterstützung der Ukraine schwächt einen Feind, stärkt unsere nationale Sicherheit, und vergiesst kein amerikanisches Blut». Die Regierung Biden schätzt die Ehrlichkeit Romneys nicht besonders, genau weil sie die echten Ziele des amerikanischen Imperialismus offenlegt.
Da sich nun aber eine Niederlage abzeichnet und die Kosten untragbar werden, werden die Ukrainer dasselbe Schicksal erleiden wie die Kurden und Syrer. Beide wurden unterstützt, solange sie dem US-Imperialismus nützlich waren, und wurden fallen gelassen, als Erdoğan in Syrien einmarschierte.
Angesichts der fehlgeschlagenen Gegenoffensive brach der hochrangige NATO-Beamte Stian Jenssen ein Tabu, als er Mitte August vorschlug, dass die Ukraine Territorien abtreten und den Krieg so beenden könnte. Damit drückte er aus, was zahlreiche westliche Diplomaten insgeheim denken.
Dieser Kurswechsel macht sich sogar in der westlichen Presse bemerkbar. Immer mehr Artikel betonen jetzt, dass der ukrainische Sieg keinesfalls garantiert sei, dass die ukrainischen Verluste sehr hoch seien – und sogar, dass in den ukrainischen Reihen tatsächlich Neonazis kämpfen! Vor nur wenigen Monaten verwarfen dieselben Zeitungen diese Tatsachen kategorisch. Doch gemäss dem Sprichwort «Wes Brot ich ess, dess Lied ich sing» muss der westliche Imperialismus jetzt die öffentliche Meinung auf eine Niederlage vorbereiten.
Auf welche Art dieser Krieg auch immer ausgehen mag, es wird nicht das Ende der globalen Wirtschaftskrise bedeuten, die von diesem Krieg nur angeheizt wurde. Die Arbeiterklasse wird weiterhin den Preis dafür bezahlen, während der dahinsiechende Kapitalismus neue Kriege und neues Leiden hervorrufen wird. Nur die sozialistische Revolution wird den «Schrecken ohne Ende» des Kapitalismus beenden, wie schon Lenin feststellte.
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