Wenige Wochen vor dem Austritt Grossbritanniens aus der EU liegen die Nerven auf beiden Seiten blank: Tusk, der Präsident des Europarates, spricht von einem speziellen Platz in der Hölle für die Befürworter des Brexits. In Grossbritannien lallt Anna Soubry, eine konservative Abgeordnete, sturzbetrunken in ein BBC Mikrophon, dass die Lage zum verzweifeln sei.
Aus der Sicht der herrschenden Klasse haben beide Recht, der Brexit ist für sie eine wirtschaftliche und politische Katastrophe ohne Ausweg. Damit Grossbritannien geordnet am 29. März aus der EU austreten könnte, müssten nämlich schon jetzt die Vorbereitungen beginnen, ohne Einigung ist das unmöglich.
May und das britische Parlament sind gelähmt
Soubrys Premierministerin Theresa May hat in den letzten Wochen im britischen Parlament keine Fortschritte erzielen können. Stattdessen erlitt sie bei der Abstimmung um den Ausstiegsvertrag, den May mühsam mit der EU verhandelt hatte, die grösste Niederlage in der Geschichte des britischen Parlaments.
Für die herrschende Klasse wäre dieser Ausstiegsvertrag extrem wichtig gewesen. Er hätte sichergestellt, dass Grossbritannien vorläufig Teil der europäischen Zollunion bleibt. Fast die Hälfte aller britischen Exporte geht nämlich in EU-Länder. Interessanterweise waren es aber gerade VertreterInnen des rechten Flügels der Konservativen Partei, die die Abstimmung im Parlament scheitern liessen. Das ist historisch einzigartig, die Konservative Partei war nämlich immer die Partei, die die Interessen der herrschenden Klasse vertreten hat. Diese hat also zu einem unglaublich ungünstigen Zeitpunkt die Kontrolle über ihre eigene Partei verloren!
Hinzu kommt, dass sie neben den Tories auch die Kontrolle über Labour verloren hat. Bis vor wenigen Jahren war diese die zuverlässige zweite Wahl der herrschenden Klasse und sprang immer wieder für sie ein, falls die Konservativen zu unbeliebt wurden. Doch zehn Jahre Krise und Austerität haben im Land, in dem inzwischen ein Sechstel der Erwachsenen aus Armut regelmässig Mahlzeiten streichen muss, zu einer Radikalisierung geführt. Diese drückt sich in der Labour-Party mit dem Aufstieg Corbyns, der klar linke Positionen vertritt, aus.
Die drohende Katastrophe
Eine Corbyn Regierung mit der radikalisierten Labour ist eine Gefahr für die herrschende Klasse und muss daher aus ihrer Sicht verhindert werden. Die einzige Hoffnung, die noch bleibt, wäre eine Art inoffizielle Koalition derjenigen Vertreter der Konservativen und der Labour, die noch auf die Kapitalisten hören. Doch der eigentlich sehr kapitalistenfreundliche Flügel der Labour hört auch nicht auf die herrschende Klasse. Statt den Deal zu unterstützen fordern diese ein Referendum: das so genannten «People’s Vote». Dabei soll die ganze Bevölkerung über den Deal abstimmen können und eventuell sogar den Brexit rückgängig machen. Für die herrschende Klasse ist das aber keine Option, wie beim ersten Referendum wäre auch hier der Ausgang extrem ungewiss.
Premierministerin May, die nicht dem rechten Flügel ihrer Partei angehört, versucht jetzt verzweifelt, die Interessen des britischen Grosskapitals zu vertreten und irgendwie eine Mehrheit im Parlament zu gewinnen. Dafür versucht sie neue Verhandlungen mit Brüssel zu starten. Die EU hat aber schon davor mehrmals sehr deutlich kommuniziert, dass weitere Zugeständnisse an Grossbritannien nicht möglich sind.
Selbst wenn es May irgendwie noch gelingt, die wirtschaftliche Katastrophe eines ungeregelten Brexits zu verhindern, indem sie mit Unterstützung des rechten Labour Flügels oder sogar dank eines zweiten Referendums die Unterstützung für ihren Ausstiegsvertrag erkämpfen kann, wäre die Krise überhaupt nicht vorbei. Jedes Zugeständnis an die EU wird von den erzreaktionären Brexit-Fanatikern der Tories als Verrat gesehen und wird die Konservative Partei, die älteste bürgerliche Partei Europas, spalten. May sieht sich damit mit einem Dilemma konfrontiert: sie kann einen Vertrag abschliessen und so ihre Partei zerstören, oder keinen Vertrag abschliessen und die britische Wirtschaft in den Abgrund stossen.
Die EU ist unter Druck
Die EU scheint im Vergleich zu Grossbritannien am längeren Hebel zu sitzen. Diese Stärke ist aber nur relativ. Wie Tusks Tirade gegen den Brexit erahnen lässt, würde der vertragslose Ausritt der zweitgrössten Wirtschaft der EU auch für diese schwerwiegende Folgen haben. Grossbritannien ist der drittwichtigste Handelspartner Deutschlands, der grössten Volkswirtschaft der EU. Deutschlands Wirtschaftswachstum fiel letztes Jahr auf sehr tiefe 1.5% (2017 waren es noch 2.2%). Die deutliche Verteuerung der Exporte nach Grossbritannien könnte das Exportland Deutschland endgültig in eine Rezession stürzen.
In der EU kriselt es aber nicht nur wegen des Brexits. So ist etwa die Beziehung zwischen der EU und mehreren Regierungen, allen voran Italien, mehr als angespannt. Ein wichtiger Grund dafür sind die strengen EU-Richtlinien für die Staatsbudgets. Damit versucht die EU, die schnell wachsende Staatsverschuldung unter Kontrolle zu behalten. Inzwischen liegt die durchschnittliche Staatsverschuldung der EU-Länder bei fast 90% des BIP. Wenn die EU versucht, die negativen Folgen des Brexits durch Zugeständnisse abzuschwächen, führt das dazu, dass andere Mitglieder ebenfalls Extrawürste verlangen oder sich sogar überlegen, auch aus der EU auszutreten. Das würde die EU endgültig zerstören. Um eine weitere Desintegration zu verhindern, müssen Tusk und die EU jetzt Härte gegenüber Grossbritannien zeigen und damit allen klar machen, dass es keine Alternative zur EU-Mitgliedschaft gibt. Dabei riskieren sie aber gleichzeitig die Katastrophe eines No-Deal Brexits. Auch die EU steht vor einem Dilemma.
Die Gründe der Krise der EU
Für eine lange Zeit war die Situation in Europa viel stabiler und die europäische Integration schien konstant voranzuschreiten. Im wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg war es im Interesse der Bourgeoisien der einzelnen europäischen Länder, die engen Grenzen des nationalen Marktes zu überwinden und einen gemeinsamen Markt zu schaffen. Der Zusammenschluss war notwendig, um sich gegen den gestärkten US-amerikanischen Kapitalismus und die ebenfalls gestärkte Sowjetunion zu behaupten. Mit der Zeit wurde dieser Zusammenschluss weiter ausgebaut.
In den Neunzigern, als der Kapitalismus einen Aufschwung erlebte, kam zum gemeinsamen Markt die EU und schliesslich die gemeinsame Währung dazu. Der Euro ermöglichte es vor allem Deutschland, sich gegen die weniger produktiven Länder Europas durchzusetzen. Für diese war es wegen der Währungsunion nicht mehr möglich, durch die eigene schwächere Währung international ähnliche günstige Waren anzubieten wie die produktivere Konkurrenz. Dadurch konnten die Exporte Deutschlands auch innerhalb der EU massiv gesteigert werden.
Deutschlands Exportüberschuss wuchs immer mehr. Scheinbar ausgeglichen wurde dieses Ungleichgewicht durch immer mehr Kredite. Durch diese konnte der Absatzmarkt künstlich ausgeweitet werden. Solange die Wirtschaft boomte, schienen alle EU-Staaten zu profitieren. Doch die tieferliegenden Widersprüche verschärften sich und die Ungleichgewichte wuchsen.
Die Widersprüche brechen auf
Der Crash 2007-2008 brachte all die angehäuften Widersprüche an die Oberfläche. Banken, die sehr grosszügig Kredite vergeben hatten, kollabierten. Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, sah sich die EU gezwungen, noch mehr Kredite zu vergeben. Der Leitzins wurde immer wieder gesenkt. Heute liegt er bei 0%. Die Staaten sahen sich mit immer grösseren Schulden konfrontiert. Denn einerseits sanken durch die Krise ihre Einnahmen. Andererseits wurde dies noch verstärkt durch die Steuersenkungen, mit denen versucht werden sollte, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Die astronomischen Schulden müssen logischerweise irgendwie bezahlt werden.
Wie immer musste auch dieses Mal die ArbeiterInnenklasse bezahlen. Und so begann die EU in ganz Europa brutalste Austerität durchzudrücken. Dass auf der Grundlage von brutalsten Angriffen und Verschlechterungen für die allermeisten Leute die europäische Integration nicht voranschreiten kann, ist kaum überraschend. Die Ursache dieser vielen Krisen in der EU ist damit letzten Endes die Krise des Kapitalismus. Auf der Grundlage der Krise driften die verschiedenen Nationalstaaten auseinander, der Zusammenhalt der herrschenden Klassen unter dem Schirm der EU wird zunehmend schwerer. Der nächste wirtschaftliche Einbruch steht am Horizont und wird diese Spannungen weiter verschärfen. Die Brexit-Sackgasse ist nur ein krasser Ausdruck davon, nicht der letzte.
Die Herausforderungen einer Labour-Regierung
Grossbritannien steckt heute in der grössten politischen Krise seit über hundert Jahren. In den regierenden Tories herrscht Bürgerkrieg. Diese Regierung wird nicht mehr lange überleben. Corbyn und Labour versprechen mit ihrem Programm echte Verbesserungen. Neuwahlen werden fast mit Sicherheit eine Labour-Regierung bringen. Die Leute haben genug von dem Elend der Austeritätspolitik und den Lohnkürzungen, erstere ist seit 2010 für den Tod von mindestens 120 000 Menschen in Grossbritannien verantwortlich. Entsprechend schädlich wäre es, wenn Corbyn auf den rechten Flügel der Partei hört und mit einem neuen Referendum versucht, die unlösbaren Probleme der herrschenden Klasse zu lösen. Die einzige korrekte Forderung der Labour sind jetzt Neuwahlen.
Eine Labour-Regierung wird allerdings selbst mit grossen Herausforderungen konfrontiert sein. Die brutale Sparpolitik basiert nicht auf dem bösen Willen der Kapitalisten oder der Ideologie der Konservativen. Sie ist eine Notwendigkeit für das Kapital in der Krise. Corbyns soziales Programm ist im heutigen Kapitalismus eine undurchführbare Utopie. Die herrschende Klasse wird die Labour-Regierung unter Androhung von Abwanderungen, Kapitalflucht und weiteren Sabotageakten zur Abkehr vom Reformprogramm zu zwingen versuchen.
Der Kampf gegen die Sparpolitik bedeutet heute den Bruch mit dem Kapital und seinem System. Dazu mag Corbyn selbst nicht bereit sein. Aber die Massenbasis von Labour hat sich unter Corbyn stark nach links bewegt. Ihr Kampf würde durch eine Labour-Regierung nur weiter befeuert und wird einen enormen Druck auf die Regierung ausüben. Grossbritannien steht erst ganz am Anfang einer heissen Phase des Klassenkampfes, der auf ganz Europa Auswirkungen haben wird. Die Rolle der MarxistInnen ist es, in der Labour aufzuzeigen, dass nur ein klares sozialistisches Programm einen Ausweg bietet.
Flurin A.
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