Die Weltwirtschaft befindet sich im Aufschwung, an den Börsen ist es ruhig – denkt man. Auf einen Schlag brechen die Aktienmärkte Anfang Februar ein, Panik macht sich breit. Wie kann sowas passieren?
Der Schock kommt aus scheinbar heiterem Himmel. Da zieht die Weltkonjunktur endlich wieder an – laut OECD schnuppert die BIP-Wachstumsrate 2017 am Vorkrisenniveau – und auch die Börsenkurse zeigen jahrelang nach oben. Doch plötzlich sackt der Dow-Jones-Index am 5. Februar binnen eines Tages um 6,3% seines Wertes ab. Die Stimmungsbarometer der Aktienmärkte Asiens und Europas stürzen am nächsten Morgen ähnlich tief. Solch heftige Einstürze in Aufschwungszeiten sprechen kaum dafür, dass die wirtschaftliche Erholung der letzten Semester auf solidem Boden fusst. Investoren sprechen von der «unbeliebtesten Hausse» überhaupt.
Die Staaten kurbeln die Wirtschaft seit der Krise 2008 hauptsächlich mit drei Mitteln an: Erstens verschulden sie sich massiv, um vor allem die maroden Grossbanken zu retten. Zweitens überfluten ihre Zentralbanken die Finanzmärkte, indem sie Milliarden ihrer jeweiligen Währung drucken («quantitative easing») und sie an Banken, Grosskonzerne und Regierungen leihen. Drittens senken sie dabei gleichzeitig die Leitzinse auf historische Tiefstwerte; in einigen Ländern – so auch in der Schweiz – bis in den Negativbereich. Die Absicht: Auf Kosten der SteuerzahlerInnen am Leben gehaltene Firmen zum Schuldenmachen und Investieren anregen und dadurch der Wirtschaft zum Wachstum verhelfen. Die Massnahmen verfehlen jedoch ihren Zweck: Investitionen in den Produktionsapparat wachsen nicht, sondern stagnieren seit Ausbruch der Krise.
Genau diese produktiven Investitionen wären jedoch nötig, um Arbeitsplätze zu schaffen und durch die so gesteigerte reale Nachfrage Profite zu erzielen. Die Maschinerie stockt, weil sie überladen ist: Grosskonzerne könnten mehr herstellen, als sie profitabel loswerden können – in der Stahlbranche beispielsweise belaufen sich diese sogenannten Überkapazitäten auf einen Drittel der gesamten Produktionskapazitäten. Diese Verlustgeschäfte erhöhen den Druck hinzu Fabrikschliessungen und Entlassungen – Abbau statt Ausbau also. Gleichzeitig sind die Firmen in der zugespitzten Konkurrenz auf den übersättigten Märkten zu Lohnkürzungen gezwungen und der Staat kürzt die Ausgaben, um ihnen mit Steuersenkungen unter die Arme zu greifen. Das Resultat: Immer weniger Grosskonzerne sitzen auf immer mehr Profit und günstigen Krediten rum und mangels profitabler Investitionsmöglichkeiten blasen sie – auf der Suche nach schnellen Profiten – die Aktienmärkte horrend auf. Es kommt zu einer regelrechten Spekulationsorgie – weitaus gewaltiger als vor dem Crash 2007/08: Der Dow-Jones-Index zum Beispiel schiesst von 14’000 Punkten im Oktober 2017 auf 26’600 im Januar dieses Jahres.
Unter «normalen» Umständen müssten solch horrende Kreditsummen die Warenpreise relativ zum Geldpreis ansteigen lassen (Inflation). Wird das Geld jedoch kaum in die Produktion investiert, sickert es nicht in Form von höheren Löhnen zu den konsumierenden Arbeitenden durch. In der aktuellen Krise beschränken Stellenabbau, Lohnkürzungen und Sparmassnahmen die Nachfrage an Waren und verhindern somit eine Inflation. Die einstige Krisenbewältigungs-Kombination aus Tiefzinspolitik, ansteigender Verschuldung und Angriffen auf die Arbeitenden verkehrt sich in ihr Gegenteil – sie bereitet den nächsten Einbruch vor. Geldpolitisch bieten sich den Kapitalisten und ihren Handlangern zwei Optionen: die expansive Geldpolitik fortführen oder die Zinsen erhöhen. Vor beiden fürchten sie sich – zurecht.
Vorerst halten die Zentralbanken ihre Leitzinssätze tief – die Geldquellen sprudeln auf Pump weiter. Dadurch bleibt das Aufnehmen von Krediten im Schnitt fast gratis, was spekulative Investitionen weiter ankurbelt. Während die Inflation bei den Waren ausbleibt, verzerrt der massive Preisanstieg im Anlagebereich (Immobilien, Wertpapiere) den Markt. Denn solange die Tiefzinspolitik anhält, überleben sogenannte Zombie-Firmen dank der künstlichen Erweiterung der Nachfrage durch Verschuldung. Einzig dadurch scheiden diese nicht aus dem Wettbewerb aus, es kommt zu keiner Marktkorrektur und somit auch nicht zu einer Erweiterung der profitablen Investitionsmöglichkeiten in «bereinigter» Konkurrenz. Hinter der sich bedrohlich aufblähenden Blase steckt ein schrumpfendes Vertrauen in die Fähigkeit zur Rückzahlung der Schulden – der Druck für eine Zinserhöhung nimmt mehr und mehr zu.
Aus Furcht vor einem erneuten Platzen der Blase pocht ein Teil der Bourgeoisie auf die Rückkehr zu einer restriktiveren Geldpolitik. Der Börseneinbruch Anfang Februar hat jedoch gezeigt, dass auch dieses Szenario zu Panikreaktionen führt. Damals stiegen kurz zuvor die Zinsen auf dem US-Obligationenmarkt. Gleichzeitig wurden Kennzahlen publiziert, die anziehende Stundenlöhne aufzeigten. Tendenziell führen Lohn- und Kaufkrafterhöhungen zu steigender Inflation, welche die Zentralbanken nur durch höhere Zinsen im Griff behalten können. Das wiederum würde aber die Konjunktur massiv dämpfen, weil die Produktion und das Kredite-Aufnehmen teurer werden. Dadurch Pleite gehende, verschuldete Zombie-Firmen und Haushalte würden die Wirtschaft in eine tiefere Rezession schleudern. Es käme zu einer Verschärfung des Klassenkampfes und der politischen Instabilität.
Entweder setzen die Kapitalisten also die bisherige Strategie fort und blähen die Blase weiter auf oder sie provozieren sofort die nächste Rezession. Aber wenn die Zentralbanken die Zinsen nicht erhöhen, stehen sie in der nächsten Rezession umso mehr mit leeren Händen da. Ohne dass damit die Krise tatsächlich gelöst worden wäre, haben die Kapitalisten ihre Mittel zur Bewältigung der Krise verschossen: Die Leitzinsen sind historisch tief, die Märkte massiv mit Geld überflutet und der Verschuldungsgrad (öffentliche und private Verschuldung zusammengenommen) so hoch wie seit der Nachkriegszeit nicht mehr.
Der aktuelle leichte Aufschwung macht ihnen deshalb Angst, weil seine Ermöglichung zugleich die Verunmöglichung der nächsten Krisenbekämpfung mit sich trägt.
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