Anders als in der Schweiz, kennt das britische System weder Referendum noch Initiative. Damit es zu einer Abstimmung kommen kann, muss diese vom Premierminister ausgerufen werden. Bis heute wurden nur zwei Referenden abgehalten, welche das Volk im gesamten Vereinigten Königreich an die Urne riefen. Das erste über die Mitgliedschaft beim EU-Vorgänger, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG im Jahr 1975 und das zweite über das alternative Wahlsystem (Wahl mit sofortiger Stichwahl).
Das Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union ist somit erst das dritte Referendum im Königreich. Auf teilstaatlicher Ebene oder lokaler Ebene gab es weitere Referenden. Das letzte, welchem grosse Beachtung zukam, war jenes über die Unabhängigkeit Schottlands. Die Referenden sind jedoch nicht rechtlich bindend, da das Parlament der Souverän (Herrscher) ist und somit über den Vorgaben des Volks steht. Das Parlament kann somit (zumindest theoretisch) das Abstimmungsresultat ignorieren.
Was bewegte Cameron zur Abstimmung?
Der britische Kapitalismus befindet sich wie die gesamte Weltwirtschaft in einem angeschlagenen Zustand. Das Resultat davon sind jährliche Sparmassnahmen, welche in erster Linie von den Lohnabhängigen und den StudentInnen getragen werden. Dies führte zu grossen Spannungen innerhalb der Britischen Gesellschaft und zum Sieg Jeremy Corbyns. Um sozusagen «seinen Arsch aus der Schusslinie zu bewegen», versucht Cameron nun den Blick der Britischen Gesellschaft weg von den inneren Problemen – und damit von sich – zu lenken, indem er ein Referendum über den Verbleib in der EU lancierte.
Ein weiterer Faktor, welcher Cameron zu dieser Entscheidung drängte, war das Erstarken der rechtskonservativen und EU-skeptischen UKIP. Diese konnte sich, ähnlich wie die SVP in der Schweiz, auf das Kleinunternehmertum stützen, welches überwiegend für den Binnenmarkt produziert und unter der latenten Furcht leidet, von ausländischen Markt aufgefressen zu werden. Das Referendum verfolgte unter anderem das Ziel, der UKIP diese Stimmen streitig zu machen, welche Cameron dringend nötig hätte, angesichts der Tatsache, dass er aufgrund der Sparmassnahmen innerhalb der britischen Gesellschaft einen sehr schweren Stand hat.
An dieser Stelle muss betont werden, dass es nicht Camerons Absicht ist, mit der EU zu brechen. Das Referendum verfolgte das Ziel, die Stimmen der EU-Skeptiker in den Reihen der Tories zu vereinen und von den Sparmassnahmen abzulenken. Der Schuss ging nach hinten los: Cameron und die Tories sind an einem historischen Tiefpunkt und das Referendum hat das Potenzial zu siegen und die Tories zu zerreissen.
Krieg bei den Tories
Im Januar hat Cameron seinen Ministern erlaubt für einen EU-Austritt zu werben, trotz der gegenteiligen Position der Regierung. Ein ehemaliger Minister bezeichnete den Premier darauf als «durchgeknallt». Ganz falsch lag er damit nicht. Inzwischen ist nicht nur Camerons Partei über den Verbleib in der EU zerstritten. Auch fünf Mitglieder des Regierungskabinetts werben für den Brexit.
Im Februar trat der damalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der bei den Tory-WählerInnen grosse Beliebtheit geniesst, dem «Out Lager» bei. Er nutzt dies auch, um seine Chancen auf den Vorsitz der Tories zu verbessern, ist doch die Basis der Partei mehrheitlich EU-kritisch. Dies war ein harter Schlag für die EU-BefürworterInnen, denn wie die Financial Times den Beitritt zum «Out-Camp» von Johnson und dem Justizminister Michael Gove analysierte, führt dies dazu, dass die Kampagne für den EU-Austritt nicht mehr von politischen Sonderlingen und EU-Hassern geführt werde, sondern von gestanden Politikern.
Nach Camerons Kalkül hätte alles anders ablaufen sollen. Vom EU-Gipfel im Februar kam er als «Sieger» zurück und hatte der EU einige Zugeständnisse abgerungen. Dies hätte seine Partei und die EU-KritikerInnen (in und ausserhalb jener) besänftigen sollen. Die Schlagzeilen in den Zeitungen kommentierten den Deal zwischen Cameron und den EU-Regierungschefs, in welchem Grossbritanniens Sonderrolle festgeschrieben wurde und die Sozialleistungen für MigrantInnen aus EU-Staaten gekürzt werden, wie folgt: «Camerons EU-Deal ist ein Witz» (Daily Express) und «Minister trotzen Camerons Europapolitik» (Daily Telegraph).
Die Strategie, die Tories durch das Referendum wieder zusammenzuschweissen, ist auf jeden Fall gescheitert. Um die 150 von insgesamt 330 Tory-Abgeordneten wollen für den Brexit stimmen. Für die Kampagne «Britain stronger in Europe» (Britannien stärker in Europa) ist der Premier selbst ein Hindernis. Seine Zustimmungswerte sind im Keller, nach Jahren der Sparpolitik setzten ihm auch noch die Enthüllungen der Panama Papers zu. An einer Offshore-Firma beteiligt zu sein scheint für die BritInnen nicht so normal wie für den Premier.
Wenn die BritInnen sich für den Austritt aus der EU entscheiden sollten, wäre dies wohl die grösste und folgenschwerste Fehleinschätzung eines Premierministers in der Nachkriegszeit. Es ist unwahrscheinlich, dass die AnhängerInnen des EU-Austritts ihn, den Unterstützer des Verbleibens in der EU, dann noch weiter als Premier oder Parteivorsitzenden wollen. Aber auch bei einem Verbleib in der EU ist der Premier arg in Bedrängnis. Die Abstimmungskampagne diskreditiert ihn in den Augen der Parteimitglieder der Tories. Die Situation sieht nach einer Spaltung der Partei und Neuwahlen aus.
Der Streit in der Konservativen Partei und die Gefahr ihres Auseinanderbrechens kommt für die herrschende Klasse in Britannien natürlich zur dümmsten Zeit. Gerade in der tiefen Krise des Kapitalismus wären sie angewiesen auf eine starke und einheitliche Partei, um die vom Kapital geforderten Sparmassnahmen durchzusetzen.
Should I stay or should I go?
Die Positionen der politischen Rechten zur EU sind kurz zu erklären. Die UKIP und der eurokritische Teil der Tories sehen die EU als Hindernis für die Entwicklung der Wirtschaft und als Grund allen Übels im Land. Sie machen die Union auch verantwortlich für die Migration und die Kürzungspolitik. Die BefürworterInnen der europäischen Integration argumentieren, dass der europäische Markt erst den Wohlstand ermögliche und dass dieser bei einem Brexit gefährdet sei. Cameron mahnte beispielsweise, dass ein Austritt, zu sieben Jahren Verunsicherung führen könnte. Die CEOs der 36 grössten britischen Unternehmen eilten ihm sofort zu Hilfe. In einem Brief warnen sie, dass ein Brexit «Investitionen verhindern», «Jobs bedrohen» und «die Wirtschaft in Gefahr bringen» würde.
Mit den linken EU-AnhängerInnen wie der Labour Partei wollen wir uns hier etwas genauer auseinandersetzen. Der Präsident der Partei, Jeremy Corbyn, empfiehlt zusammen mit der Transport-Gewerkschaft TCU zu bleiben, um für «ein Europa mit anständigen Arbeitsplätzen und Gleichheit für alle» zu kämpfen. Doch wieso kämpfen denn nun gerade die grössten britischen Unternehmer für das Verbleiben in jener EU?
Die Argumentation der linken EU-BefürworterInnen besteht aus zwei Teilen. Erstens sollen die von der EU garantierten Arbeitsrechte, welche bei einem Brexit verschlechtert werden könnten, erhalten bleiben. Zweitens soll die Mitgliedschaft weitergeführt werden, um die EU von innen zu reformieren – «Wir müssen in Europa bleiben, um Europa zu ändern». Ein Argument welches auch die Schweizer EU-Beitritts-BefürworterInnen ins Feld führen.
Dass die EU die Arbeitsrechte schütze ist ein eher neues Argument. 1975 waren die meisten GewerkschafterInnen gegen einen EWR Beitritt. Nicht etwa aus Angst vor Einwanderung, sondern aus Ablehnung gegen den «einheitlichen Markt zugunsten der Kapitalisten». In den 1980er erlitt die ArbeiterInnenbewegung herbe Rückschläge, die Minenstreiks wurden verloren und die Labour-Partei rückte nach rechts. In diesem Umfeld begannen die Gewerkschaftsführungen sich immer mehr als VermittlerInnen, statt als AnführerInnen von Kampforganisationen, zu sehen, und in Brüssel und den Maastrichtverträgen ihre VerteidigerInnen gegen die eigene Regierung.
Das Argument, die EU sei Verteidigerin der Arbeitsrechte, kann man spätestens seit der letzten Periode nicht mehr aufrechterhalten. Beobachten kann man dies auch in Britannien, wo 3.5 Millionen ArbeiterInnen mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiten. Das sind 10% mehr als noch im Jahr 2010. Die Ereignisse in Griechenland zeigen die Natur der EU aber am offensichtlichsten. Gesamtarbeitsverträge wurden auf Direktive der EU aufgelöst und die GriechInnen arbeiten heute länger als alle anderen in Europa.
In der EU bleiben (oder beitreten), um sie von innen heraus zu reformieren ist die «realistische» Argumentation der reformistischen Linken ganz Europas. Der neuste Anlauf dazu kommt vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, DiEM25 – Bewegung Demokratie in Europa 2025. Das Ziel ist es, «bis 2025 zu einem vollkommen demokratischen, funktionierenden Europa zu gelangen». Ob es die EU in neun Jahren noch gibt, sei dahingestellt.
Die EU ist nicht Europa. Sie ist eine Allianz kapitalistischer Staaten und ihrer jeweiligen herrschenden Klasse. Vom Kohle und Stahl-Kartell über die Europäischen Union bis hin zur Währungsunion ist die EU aufgebaut, um Märkte und Menschen zugleich auszubeuten. Nach dem grandiosen Scheitern der Syriza die EU zu reformieren, wird der Versuch nun auf höherer Ebene erneut unternommen. Die falsche Annahme, dies könne gelingen, ist dieselbe wie jene, man könne Ausbeutung und Krisen, welche dem Kapitalismus verinnerlicht sind, auf dem Reform-Weg eliminieren.
Kapitalismus ist keine Perspektive!
Die EU-kritische Linke bezeichnet die EU berechtigterweise als «neoliberal». Dies suggeriert allerdings meist, dass die Privatisierungen und Sparmassnahmen aufgrund von falscher Ideologie zustande kämen. Es ist jedoch nicht eine Ideologie, welche diese Massnahmen aufzwingt, sondern es sind die Profitbedingungen des Kapitalismus. Die Linke in Britannien, ob nun für oder gegen das Verbleiben in der EU, stolpert in ihren Argumentationen immer wieder über das Selbe. Egal ob in oder ausserhalb der Union, das Vereinigte Königreich bleibt ein kapitalistischer Staat. In der herrschenden Wirtschaftskrise bedeutet dies Kürzungen und Angriffe auf die Arbeitsrechte.
Um die Rechte der Arbeitenden zu verteidigen und die Sparprogramme zu stoppen, müssen wir kämpfen. Kämpfen gegen den Kapitalismus, welcher der Grund für diese Angriffe auf den Lebensstandard ist. Eine wirkliche Alternative für die Arbeitenden im Vereinigten Königreich, dem Rest der EU und der Schweiz ist der gemeinsame Kampf für den Sozialismus, gegen den Kapitalismus.
Für ein vereinigtes sozialistisches Europa!
Sebastian Walter
Juso Bern
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