In diesem Herbst jährt sich in Burkina Faso der historische Volksaufstand und somit der Sturz der 27-jährigen Präsidentschaft von Blaise Compaoré zum zweiten Mal. Inzwischen hat sich eine degenerierte bürgerliche Demokratie breitgemacht. Wie sind diese Entwicklungen zu erklären? Und welche Perspektiven können für den Klassenkampf in Burkina Faso aufgestellt werden?

Blaise Compaoré kam 1987 an die Macht, nachdem er die Ermordung Thomas Sankaras angeordnet hatte. Die vierjährige sankaristische Revolution gilt zu Recht als eine der prägendsten Perioden in der Geschichte eines afrikanischen Landes. Sankara ordnete Landenteignungen und landesweite Gesundheits- und Bildungsprogramme an. Auch verweigerte er die Anerkennung der Schulden gegenüber den imperialistischen Institutionen. Dank seiner Massnahmen erlebten die Produktivkräfte in den vier Jahren seiner Präsidentschaft das gleiche Wachstum wie in den folgenden 30 Jahren zusammen. Allerdings war die Wirkung dieses Fortschrittes durch seine zwar anti-imperialistische, aber autoritäre und staatskapitalistische Politik der Selbstversorgung stark eingeschränkt. Als er zur afrikaweiten Revolution aufrief, stellten sich ihm der französische Imperialismus und dessen regionale Vertreter aus der Elfenbeinküste entgegen. Blaise Compaoré war der Nutzniesser.

Konterrevolution einer fauligen Kompradoren-Bourgeoisie
Bei der darauf kommenden Konterrevolution – dazu kann man die gesamten folgenden 27 Jahre zählen – spielten Strukturanpassungsprogramme die Hauptrolle. Die mechanische Überstülpung der, dem westlichen, neoliberalen Trend folgenden Privatisierungen entblösste die schematische Denkweise des internationalen Kapitalismus. Dabei wurde die bereits wenig produktive Wirtschaft weiter verstümmelt. Die zuvor staatliche und für die burkinischen Klimaverhältnisse produktive Rohrzuckerindustrie war auf dem internationalen Markt nicht mehr konkurrenzfähig. Nach der Privatisierung wurden innert kürzester Zeit statt der 10´000 ha nur noch 4000 ha bewirtschaftet. Das gleiche Schicksal ereilte die innovative Reisproduktion. Bei den Behörden, wo sich bereits zuvor jährlich 300´000 Menschen für 10´000 freie Funktionärsposten bewarben, wurden Stellen gestrichen. Eine direkte Folge dieser Wirtschaftspolitik war das bis heute anhaltende Wachstum des informellen Sektors, welcher überwiegend von der Jugend besetzt wird. Teilweise waren unglaubliche 91% der Erwerbstätigen unter 25 Jahren im informellen Sektor beschäftigt. Ihre Prekarität bezeichnet das Amt für Statistik als flächendeckend.
In der letzten Periode der Amtszeit von Blaise wurde das zutiefst rückständige Regime durch die Ankunft der grossen Goldgewinnungsfirmen zunehmend destabilisiert, weil ihm dadurch die Kontrolle über die Handelsbilanz entglitt. Im Jahre 2005 noch nicht aufgeführt, waren 2014 55% der Exporte Gold.
Dazu kommt die grenzenlose Selbstbereicherung der korrupten Regierung. Die Einnahmen aus den Verkäufen der Staatsbetriebe wurden in grosse (oft sinnlose) Bauprojekte investiert. Wer nicht zum Clan von Blaise gehörte, hatte daran keinen Anteil. Grund und Boden wurden unter der Hand verschachert, „Freunde“ besassen plötzlich 500 Parzellen. Die Privatisierung der unter Sankara staatlich organisierten Parzellierung attackierte sowohl die Wohnsituation der StädterInnen als auch die wirtschaftliche Lebensgrundlage der Landbevölkerung. Im gleichen Zeitraum stiegen Indikatoren, welche bereits rekordverdächtig hoch waren, wie die Armutsgrenze, Arbeitslosigkeit, Landflucht, Geschlechterungleichheiten und die Aidsrate, noch weiter an.

Nach 27 Jahren Repression (sämtliche Oppositionsformen wurden sabotiert, gekauft oder ausgelöscht) unter dem Deckmantel einer präsidentiellen Demokratie, brachte ein Versuch der erneuten Mandatsverlängerung das Fass zum überlaufen: Im gesamten Land mobilisierten sich während Monaten Millionen von Menschen. Sie stürzten am 31. Oktober 2014 nicht nur Blaise Compaoré, sondern in den Folgetagen auch dessen designierter Nachfolger.

Die „Insurrection“ von 2014 ist somit als Reaktion der Massen auf die gesamte Ära Blaise Compaoré zu verstehen. Die jahrzehntelangen Attacken auf ihre Lebensgrundlagen waren tiefgreifend, kontinuierlich und flächendeckend. Diese Schlussfolgerung ist wichtig, um die aktuelle politische Situation in Burkina Faso zu verstehen.

Alternanz oder Alternative?
Die ersten zivilen Wahlen in der Geschichte Burkina Fasos im November 2015 gewann die MPP. Beim Anblick der Führungsriege läuft es einem kalt den Rücken hinunter. Der amtierende Präsident Roch Kaboré war unter Blaise Premierminister, Parlamentspräsident Salifou Diallo besetzte verschiedene Ministerposten und der aktuelle Verteidigungsminister Simon Compaoré (nicht verwandt) verbot als Bürgermeister von Ouagadougou Demonstrationen für Norbert Zongo. Opportunismus ist seit jeher ihre Daseinsberechtigung: Sie gründeten gemeinsam Anfangs 2014 die MPP, als nur noch die Form von Blaises Abgang zu bestimmen war. Sie werden unterstützt vom städtischen Kleinbürgertum, das die ländlichen Gegenden sowohl ideologisch (Demokratie als Allerheilmittel) als auch finanziell korrumpiert und der MPP einen Grossteil der Gemeindeparlamente sichert. Doch die Bevölkerung hat keinerlei Vertrauen in die Regierung: Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 60%, was unglaublich tief ist in Anbetracht der Tatsache, dass 90% der Bevölkerung den Sturz befürworteten und Millionen von Menschen sich monatelang an den Kämpfen dafür beteiligten.

Dieser Staatsapparat erfüllt aktuell sehr wohl seine Rolle, indem er zum Schutz des Systems und der herrschenden Klasse als Blitzableiter zwischen den Klassen agiert. In den Monaten nach dem Sturz erschütterten qualitativ hochstehende (Streik-) Bewegungen täglich das Land. Der Übergangsregierung gelang es, mit den, nach kurzfristigen Erfolgen strebenden, Gewerkschaften Deals abzuschliessen. Die heutige Regierung hingegen verweist jetzt auf die leeren Staatskassen, verweigert die Umsetzung dieser Deals und zieht den neuesten Streikbewegungen somit den Boden unter den Füssen weg.
Es ist offensichtlich, dass das neue Regime keinerlei Absichten hat, die Lebensbedingungen der Massen zu verbessern. Nach einem Jahr an der Macht wurde noch immer kein politisches Programm präsentiert. Vielmehr versucht man, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf ihren demokratischen Deckmantel und die gänzlich oberflächlichen Unterschiede zum Regime Blaise zu lenken.
Das Verlangen der Burkinabè nach demokratischen Abläufen ist sehr verständlich. Die Jugend stellt den grössten Bevölkerungsanteil, über 50% der Bevölkerung sind nach der Machtübernahme Blaises geboren. Sie haben die Tendenz, ihre Unterdrückung mit dessen jahrzehntelanger Präsidentschaft gleich zu setzen. Allerdings lernen sie jetzt, dass die Demokratie kein statisches Konzept, sondern immer durch die Kräfteverhältnisse instrumentalisiert ist. Und in Burkina Faso hat sich die Bourgeoisie augenscheinlich als unfähig erwiesen, eine bürgerliche Demokratie aufzubauen.

Heterogenität der unterdrückten Massen
Seit der Kolonialisierung haben sich die Interessen des internationalen Kapitalismus in Burkina Faso kaum verändert. Als Binnenland, umgeben von den ressourcenreichsten Ländern Westafrikas, dient es einerseits als Lieferant von günstiger Arbeitskraft (5 Millionen Burkinabè arbeiten alleine in der Elfenbeinküste) und andererseits als Puffer für die, als Folge der kolonialen Verstümmelungen, ethnischen, religiösen oder landwirtschaftlichen Interessenskonflikte. Das Land hat überhaupt keine Industrie und deshalb auch nie eine homogene ArbeiterInnenklasse entwickelt. Dazu kommt, dass durch die sankaristischen Landreformen sowie den feudalistischen Konterreformen das Bauerntum (70% der Bevölkerung) heterogener als je zuvor ist.

Perspektiven für den Klassenkampf?
Diese Zersplitterung der Klassen in ex-kolonialen Ländern ist jedoch kein neues Phänomen, sondern eine Tendenz, die Leon Trotzki 1928 in seinem Werk „Die permanente Revolution“ theorisiert hat. „Die Möglichkeit des Erfolges in diesem Kampfe wird selbstverständlich in hohem Masse von der Rolle des Proletariats in der Wirtschaft des Landes, also vom Grade ihrer kapitalistischen Entwicklung bestimmt. Dies ist jedoch keinesfalls das einzige Kriterium. Keine geringere Bedeutung besitzt die Frage, ob im Lande ein so weitgehendes und brennendes „Volksproblem“ besteht, an dessen Lösung die Mehrheit der Nation interessiert ist, und das für seine Lösung die kühnsten revolutionären Massnahmen verlangt.“
Die „brennenden Volksprobleme“ sind in Burkina Faso klar vorhanden. Zunächst einmal wären da die Grundbedürfnisse wie Gesundheit, Wasser und Bildung. Noch grösseres Potenzial, um das ländliche und das städtische Prekariat zu vereinen, hat jedoch die Bodenfrage. Sie bedroht die Lebensgrundlage beider Gruppen, steht im direkten Zusammenhang mit den Bereicherungen der Bourgeoisie und ist offensichtlich an die Enteignung als Lösung geknüpft. In den Worten des Marxisten Ted Grant: „Die grosse Unterstützung für den “Sozialismus” in den Kolonialländern nicht nur in der Arbeiterklasse, sondern auch in der Bauernschaft und grossen Teilen des städtischen Kleinbürgertums ist Ausdruck der blinden Allianz zwischen den Grossgrundbesitzern und dem Kapitalismus in der modernen Kolonialwelt.“ [1]
Auch die ArbeiterInnen des Minensektors könnten übergreifend vereinen. Dabei stehen auf der einen Seite die grossen ausländischen Unternehmen, in denen nur 6’500 Angestellte mit modernster Technologie tätig sind und enorme Gewinne erwirtschaften. Auf der anderen Seite leben über eine Million Burkinabè von der handwerklichen Goldgewinnung.

Balai Citoyen als Massenpartei?
Bei diesen nächsten, entscheidenden Kämpfen könnten die Positionen des Balai Citoyen (deutsch: Besen der BürgerInnen) entscheidend sein. 2013 gegründet, spielte die Organisation während der Insurrektion und dem Militärputsch eine wichtige mobilisierende Rolle. Ab 2017 plant der “Balai” die gesamten Minenarbeiter gewerkschaftlich zu organisieren. Dabei – oder spätestens bei den nächsten Wahlen 2020 – wird sich zeigen, ob der Balai Citoyen bereit ist, die Rolle einer Massenpartei anzunehmen und sich zu entwickeln oder ob er– wie zahlreiche „Bewegungen der Zivilbevölkerung“ vor ihm – in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.

Dabei wird der Balai nicht nur von seinen eigenen Erfahrungen profitieren können, sondern vor allem vom Selbstvertrauen der Massen. „Sollte die Regierung Mist bauen, wird sie gestürzt“ ist praktisch eine Redewendung geworden. Hinzu kommt der hohe politische Bildungsgrad in den Städten durch die traditionell starken Gewerkschaften und Studentenorganisationen. Ihr Bewusstsein wird in den kommenden Jahren weiter geschärft werden, wenn sich die Enttäuschung über das aktuelle Regime vertiefen wird. Die Frage ist kaum, wann es zu den nächsten grossen Massenbewegungen kommen wird, sondern ob die Organisationen damit Schritt halten können. An den sozialistischen Positionen führt dabei kein Weg vorbei.

Dersu Heri
JUSO Genf

[1] The Colonial Revolution and the Deformed Workers‘ States, https://www.marxists.org/archive/grant/1978/07/colrev.htm