Am 26. November wurden zwei Trauerzüge in den Strassen Ägyptens zu Massenprotesten. Während der letzten fünf Tage sind Tausende Menschen auf die Strasse gegangen, um gegen ein vom ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi erlassenes Dekret, dass ihm faktisch erlaubt mehr oder weniger autokratisch zu regieren, zu protestieren.

 

Diese Ereignisse haben die wahre Natur der Muslimbruderschaft, die vor nicht zu langer Zeit noch von sich behauptete, Vertreterin der Demokratie in Ägypten zu sein, öffentlich gemacht. Gleichzeitig zeigen diese Ereignisse auf, dass die Widersprüche, die zur Revolution führten, keineswegs aufgelöst sind und unter der Oberfläche eine neue revolutionäre Welle vorbereitet wird.

„Wenn ich nicht zurückkomme, werde ich die Menschen auffordern, die Revolution weiterzuführen und unsere Rechte einzufordern,“ schrieb der 16jährige Gaber Salah auf seine Facebook-Seite kurz bevor er nach Auseinandersetzungen mit Polizeikräften in der Nähe des Tharir-Platzes in Kairo letzten Freitag den Tod fand. Heute folgten Tausende seiner Aufforderung und schlossen sich dem Trauerzug an, der über diesen symbolträchtigen Platz führte.

Auch an der Beerdigung des 15jährigen Islam Masoud, der am Samstag bei einem Kampf mit Mitgliedern der Muslimbruderschaft getötet wurde, nahmen Tausende in Damanhur teil. Salah wurde getötet, als er an einer Demonstration teilnahm, in deren Verlauf die Büros der Muslimbruderschaft in Damanhur angegriffen wurden. Bevor er am Freitag, dem Jahrestag der tödlichen Zusammenstösse zwischen Revolutionären und Sicherheitskräften, auf der Mohamed-Mahoud-Strasse nahe dem Tahrir-Platz zu einer anderen Protestveranstaltung gegangen war, schrieb Salah auf seine Facebook-Seite:

„Ich gehe um das Blut unserer Brüder und Schwestern willen. Ich gehe zur Mohamed-Mahoud-Strasse um der Revolution willen. Ich gehe aber auch, weil ich meinen Freund Ahmed Osama auf meinen Händen getragen habe, nachdem er getötet wurde. Ich gehe, um mein Land zurückzugewinnen.“

Der neue Pharao

Seit dem 22. November 2012, als Präsident Mohamed Mursi eine Erklärung verfasste, die es ihm ermöglicht, praktische alle Macht im Staat in seine Hände zu legen, ist es täglich zu Massenprotesten gekommen. Er erklärte, dass alle von ihm erlassenen Entscheidungen und Gesetze unanfechtbar seien. Er sagte, dass keine Justizbehörde die verfassungsgebende Versammlung, in der fast nur noch Mitglieder von Mursis Muslimbruderschaft sitzen, auflösen könne. Nicht einmal der gestürzte Präsident Hosni Mubarak genoss eine solche Machtfülle.

Während er versucht, die Kernaussagen seiner Verfügungen abzusichern, verkündigte er einige Zugeständnisse, wie z. B. die Untersuchung verschiedener Straftaten, die von Mitgliedern des alten Regimes begangen wurden. Dies ist eine Forderung, für die die Revolutionäre seit dem ersten Tag der Revolution gekämpft haben. Aber es ist allen klar, dass Mursi dies nicht umsetzen wird, zumindest nicht auf oberster Ebene, wo die Mitglieder des Obersten Rates der Streitkräfte (SCAF) und sogar einige Minister seiner Regierung, wie z. B: Ahmed Gamal, der verhasste Innenminister, direkt mit dem alten Regime in Verbindung standen.

Im Juni, als Mursi zum Präsidenten gewählt wurde, stützte er sich auf die Massen, um Angriffe von Teilen des alten Regimes, die nicht bereit waren, die Macht mit ihm zu teilen, abzuwehren. Es ist offensichtlich, dass Mursi und der SCAF direkt nach der Wahl eine Übereinkunft trafen, mit der der SCAF der Muslimbruderschaft die Teilhabe an der Macht gestattete und diese dafür zugestand, den alten Staatsapparat einschliesslich der Streitkräfte intakt zu lassen.

Nachdem er die Armee abgeschüttelt hatte, glaubte Mursi nun, dass er die Bewegung spalten und seine wichtigsten Forderungen durchsetzen könne, wenn ein paar Zugeständnisse mache und sich darauf konzentriere, der verhassten Justiz Machtbefugnisse zu nehmen.

Die Justiz reagierte zunächst mit der Ausrufung eines nationalen Streiks, löste sich aber schnell von dieser Massnahme, nachdem der Oberste Richterrat seine Opposition zu den Dekreten abschwächte.

Er forderte die Richter und Staatsanwälte auf zur Arbeit zurückzukehren und erklärte, seine Mitglieder würden Mursi heute treffen, um zu versuchen ihn zu überzeugen, die Immunität auf wichtige staatliche Entscheidungen, wie z. B. eine Kriegserklärung, die Verhängung des Kriegsrechtes oder den Abbruch diplomatischer Beziehungen mit ausländischen Staaten, zu beschränken. Mit anderen Worten heisst das, dass die Richter bereit sind, mit Mursi zu einer Übereinkunft zu kommen.

Heftige Auseinandersetzungen

Mursis Griff nach der Macht wurde von den Jugendlichen korrekterweise als Angriff auf die Revolution betrachtet. Am Freitag strömten Tausende auf Kairos Tahrir-Platz, um ihre Opposition zum Präsidenten zu bekunden. Die Bilder dort ähnelten denen zu Beginn der Revolution und die Demonstranten skandierten: „Die Menschen wollen das Regime stürzen.“ und „Nieder mit Mursi-Mubarak!“

Im Laufe des Tages versammelten sich immer mehr Menschen auf dem Platz und es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und Sicherheitskräften.

Die Proteste beschränkten sich nicht nur auf Kairo. Am Wochenende kam es in Alexandria, Port Said, Suez, El Behaira , Dakhalia , Assuit, Qena , Luxor, Aswan, Damanhur, Tanta und vielen anderen Städte zu grossen Protestveranstaltungen.

In den Hochburgen der Muslimbrüder Alexandria, Port Said und Suez wurde die Büros der Partei angegriffen. In der Industriestadt El-Mahalla El-Kubra liess die Muslimbruderschaft eigene Sicherheitseinheiten aufziehen, um wütende Demonstranten davon abzuhalten, ihre Büros anzugreifen.

In Damietta wurde eine Protestaktion vor der Zentrale der Muslimbrüder von einer kleinen Gruppe angegriffen, während die Polizei abzog. Auch in Aswan kam es vor dem MB-Hauptquartier zu Kämpfen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften.

Ein Blogger schrieb das Folgende über Port Said und Suez:
„Port Said stand gestern Abend wirklich in Flammen. Es gab Versuche die Zentrale der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) zu stürmen, genauso wie in Alexandria, aber bewaffnete Salafisten attackierten die Protestierenden. Laut Augenzeugenberichten hatten diese Salafisten automatische Waffen und kamen auf LKWs. Es gab bei den Kämpfen viele Verletzte. Die Polizei taucht nicht auf. Mursi erhielt dort 46% der Stimmen.

In Suez griffen Demonstranten das Hauptquartier der Muslimbrüder mit Steinen und Molotowcocktails an. Sie griffen ebenfalls die Parteizentrale der FJP in Suez an und es kam zu Kämpfen mit Salafisten, die urplötzlich zur Verteidigung auftauchten. Die Demonstranten beschuldigten Anhänger der Muslimbrüder mit Kugeln und Schrot auf sie geschossen zu haben.“

Die Reaktion der Staatsorgane gegen die Proteste war sehr brutal. Es ist offensichtlich, dass in vielen Fällen die Muslimbruderschaft, die Salafisten und die Polizei ihre Einsatzkräfte koordiniert haben, wobei die Polizei als Verteidigungs- und die Salafisten als Sturmtruppe fungierten. Am Wochenende wurden mehr als 500 Menschen verletzt und einige, alle aus den Reihen der Opposition, getötet.

Welche Etappen durchlaufen wir?

Die ägyptische Revolution tritt in eine neue Etappe ein. „Vieles hat sich verändert, aber eigentlich hat sich nichts verändert“ ist in Ägypten eine viel gehörte Feststellung. Die revolutionären Massen haben ein furchtbares Regime, das einen riesigen Staatsapparat und ein voll entwickeltes Unterdrückungssystem und zusätzlich die volle Unterstützung durch die mächtigsten Staaten der Welt besass, gestürzt. Dies geschah ohne einen Plan, ohne ein Programm, ohne eine Organisation und ohne eine revolutionäre Führung.

Nach fast zwei Jahren des Kampfes hat sich in der Gesellschaft nichts Grundlegendes geändert. Die Menschen sind müde von den andauernden Demonstrationen und Mobilisierungsaktionen, die keine spürbaren Ergebnisse gebracht haben. Sie sind deshalb seltener bereit ziellos auf die Strasse zu gehen, die meisten fühlen sich orientierungslos und vermissen eine klare Perspektive.

Aber Mursis Dekrete wurden zu einem Weckruf. Besonders die fortschrittlichsten Schichten fühlen, dass die Revolution in Gefahr ist. Dieser Prozess vollzieht sich in allen Revolutionen. Nach einer anfänglichen Phase der Euphorie erkennen die fortschrittlichsten Schichten als erste, dass es nicht zum Guten steht. Sie sehen, dass hinter den Kulissen mit den alten Herrschern Vereinbarungen getroffen werden, um die Revolution zu verkaufen. Das radikalisiert sie und spornt sie zu einer Offensive gegen die reaktionären Führer an, welche bereit sind die Revolution zu verkaufen. Dies ist eine sehr gefährliche Phase, weil die fortschrittlichsten Schichten Gefahr laufen, sich zu isolieren und deshalb durch die Angriffe der Konterrevolution verwundbar sind. Aber gleichwohl sehen sie einen Prozess voraus, der sich später auch bei den Massen vollzieht.

Für morgen ist zu einem ‚Marsch der Millionen‘ gegen das Regime mobilisiert worden. Die Muslimbrüder haben ebenfalls zu Demonstrationen aufgerufen, ebenfalls auf dem Tahrir-Platz. dabei handelt es sich eindeutig um eine Provokation und es scheint, dass die Muslimbruderschaft sich stark genug für eine direkte Konfrontation mit der Revolution fühlt. Aber es ist sehr ungewiss, ob die Bruderschaft heil aus solchen Zusammenstössen herauskommt.

Die Muslimbrüder erhielten bei den Parlamentswahlen im letzten Jahr 10 Millionen Stimmen, aber schon in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen hatte sich die Stimmenzahl halbiert. Auf der anderen Seite brachte die Revolution auf ihrem Höhepunkt 15-20 Millionen Menschen auf die Strasse. Eine öffentlicher und unverhohlener Schlag gegen die Revolution könnte die Massen erneut zum Kampf anspornen und die Muslimbrüder zerschlagen.

Widersprüche in der Revolution

Fast zwei Jahre nach Beginn der Revolution ist den meisten Ägyptern klar, dass sich nicht viel geändert hat. Viele Menschen, welche die Muslimbrüder nicht unbedingt vollkommen unterstützt haben, dachten: „Sie sind nicht wie die Politiker des alten Regimes, sie haben eine saubere Weste und sind Demokraten.“ Aber nachdem sich religiöse Nebel, hinter dem sich die Brüder versteckten, lichtet, erkennen die Menschen, dass es keine fundamentalen Unterschiede zwischen Mursi und Mubarak gibt. Während sich die Gesichter an der Spitze geändert haben, ist der alte Staatsapparat in den Händen der herrschenden Klasse in Ägypten geblieben.

Aber, wie wir schon früher gesagt haben, kann man letztlich die Frage der Demokratie nicht von der Frage des Brotes trennen. Aber der heutige Kapitalismus, der sich weltweit in einer Krise befindet, kann keine Zugeständnisse machen, sondern muss den Lebensstandard der arbeitenden Massen angreifen. Ägypten ist hier keine Ausnahme. Seit 2011 ist das BIP von 6% auf 1,8% gesunken, was Millionen Menschen tiefer in die Krise gezogen hat. Die Arbeitslosigkeit ist auf 12,6% gestiegen. Der Zustrom ausländischer Direktinvestitionen ist im ersten Quartal des Jahres auf 218 Millionen Dollar zurückgegangen, verglichen mit 2, 1 Milliarden im gleichen Zeitraum von 2011.

Seit Beginn der Revolution hat die ArbeiterInnenbewegung an Stärke gewonnen und Millionen ArbeiterInnen haben sich an langen und militanten Streiks für ihre bescheidenen Forderungen beteiligt. Erst im letzten Monat gab es mehr als 1000 Streiks, eine Zahl, die nur direkt in den ersten Monaten nach Beginn der Revolution höher war. Aber das Regime, zu dem jetzt auch die Muslimbrüder und die Salafisten gehören, das nicht in der Lage ist, seine Versprechen zu erfüllen, reagiert mit immer härteren Repressionsmassnahmen auf die Streiks und Proteste, um die Interessen des Grosskapitals zu vertreten.

Um die bescheidensten Forderungen der ArbeiterInnenklasse durchzusetzen, bleibt nur der Weg mit dem kapitalistischem System als Ganzem zu brechen. Es ist notwendig den Besitz der herrschenden Klasse und ihrer imperialistischen Bosse zu enteignen und eine demokratisch geplante Wirtschaft zur Weiterentwicklung der Gesellschaft einzuführen. Solange es der Revolution nicht gelingt, die Herrschaft des Kapitals im Land zu brechen, werden Armut und Elend vorherrschen. Letztendlich sind alle Diktaturen im Nahen und Mittleren Osten eine Widerspiegelung dieses Widerspruchs.

Die revolutionären Massen werden bei diesen Lektionen Lehrgeld zahlen und viele bittere Rückschläge und Niederlagen erleiden. Gäbe es eine marxistische Massenorganisation, wie die Bolschewistische Partei in Russland 1917, würde der Prozess schneller ablaufen. Aber das Fehlen einer echten revolutionären Führung der Arbeiterklasse wandelt diesen Prozess in einen langen und ausgedehnten um.

Aber trotzdem findet er statt. Während eine gewisse Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung an der Oberfläche vorherrscht, läuft darunter ein tiefgreifender Prozess ab. Besonders die Jugend die fortschrittlichsten ArbeiterInnen werden täglich radikaler und suchen nach Ideen, die ihnen den Weg aus der Sackgasse zeigen können. Sie fangen an zu verstehen, dass eine grundlegende Änderung des Systems notwendig ist.

Die ägyptische Revolution ist weit davon entfernt abgeschlossen zu sein. Während es so aussieht, als ob die Reaktion die Lage fest in der Hand hat, ist doch deren Basis äusserst zerbrechlich. Die Massen erinnern sich erneut daran, dass sie das Mubarak-Regime allein, ohne jegliche Hilfe, zu Fall gebracht haben. Die Protestaktionen vom vergangenen Wochenende offenbaren einen Teil der Wut, der unter der Oberfläche köchelt.

Die Muslimbruderschaft sind eine bürgerliche Partei und haben deshalb keine andere Wahl, als die Angriffe der herrschenden Klasse auf die Masse der ArbeiterInnen durchzuführen. Aber jeder neue Mord, jede neue Ungerechtigkeit füllt die Köpfe der Massen mit noch mehr Bitterkeit und Hass. Früher oder später wird es zu offenen Zusammenstössen kommen. Es ist noch nichts entschieden, eine neue Revolution wird vorbereitet.