«Omikron mit Impfung ist eher wie eine Erkältung» behauptet Bundesrat Alain Berset. Diese Aussage fasst die aktuelle Situation gut zusammen. Die Schweiz hat offiziell täglich rund 40’000 (wahrscheinlicher sind täglich 100’000) neue Fälle und damit pro Kopf weltweit mitunter die höchsten Zahlen – doch die Landesregierung verfolgt unbeirrt ihre «Immunisierungsstrategie» (Bundesrat Ueli Maurer). Das heisst, möglichst viele Menschen sollen sich in möglichst kurzer Zeit mit der Omikron-Variante anstecken und sich somit gegen das Coronavirus immunisieren. Schliesslich sei Omikron nicht so schlimm, wie Berset & Co. erklären. Das ist eine blanke Lüge!
Die Omikron-Variante des Coronavirus ist das sich am schnellsten verbreitende Virus der Geschichte. In knapp vier Wochen hat sie sich auf dem ganzen Globus installiert. Zwar deuten die ersten Studien an, dass die Verläufe (zumindest in den Anfangswochen nach der Ansteckung) «milder» seien. Doch dies bedeutet keinesfalls, dass Omikron weniger gefährlich ist! Dafür gibt es drei Hauptgründe:
Erstens, durch die extrem schnelle Verbreitung des Virus ist es heute viel wahrscheinlicher, sich mit Covid anzustecken, als noch im November. Davon geht eine riesige Gefahr aus, wie Epidemiologen und Biologen weltweit verzweifelt versuchen zu erklären: Viren, die ansteckender sind, töten und verletzen viel mehr Menschen als Viren, die tödlicher, aber langsamer sind. Schwerer Verlauf tötet linear, hohe Ansteckungen töten exponentiell.
Zweitens, die Immunisierungsstrategie (sprich: Durchseuchung) des Bundesrats ignoriert komplett die Gefahr von Long Covid. Für Omikron gibt es noch keine abgeschlossenen Forschungen dazu, schliesslich bezeichnet Long Covid die Periode ab drei Monate nach der Ansteckung. Doch die bisherigen Studien zeigen alle an, dass die Gefahr von Long Covid auch für mildere und sogar asymptomatische Coronaverläufe ausgeht. Die meisten Studien sagen, dass circa 20% der Infizierten an Long Covid leiden könnten. Eine neue Forschung deutet sogar an, dass einer von zwei (!) Erwachsenen mit chronischen Schäden aus der Pandemie hervorgehen könnte. Die gesundheitlichen Folgen der «Immunisierungsstrategie» sind für grosse Teile der Bevölkerung schlicht zerstörerisch!
Drittens, die explodierenden Ansteckungszahlen bedeuten, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass sich neue Varianten herausbilden. Dies bedeutet auch, dass die nächsten Mutationen noch besser die Impfung durchbrechen könnten. Dies ist bereits jetzt der Fall: Während die Impfung bei der Delta-Variante einen 95% Schutz leistete, liegt dieser Wert nun bei Omikron bei 50%. Es kann sein, dass die Omikron-Welle wegen der rasanten Verbreitung relativ schnell wieder abklingen wird. Doch dies bedeutet ganz sicher nicht das Ende der Pandemie – im Gegenteil! Die WHO (und alle seriösen Forscher) sagen: «Omikron wird nicht die letzte Variante sein.»
Doch der Bundesrat sagt nun, dass wir «lernen müssen, mit dem Virus zu leben». Damit meint er vor allem, dass die Bevölkerung mehr Infektionen, Kranke und Tote akzeptieren muss.
Die Wahrheit ist: Der Bundesrat will sich eine ernsthafte Bekämpfung der Pandemie nicht leisten. Es wäre gänzlich möglich, den Lohn der Pflegenden zu verdoppeln, einen Grossteil der 35% der Pflege-Aussteiger zurückzuholen und den Pflegenotstand praktisch über Nacht aufzuheben. Es wäre gänzlich möglich, die Testkapazitäten massiv heraufzufahren. Es wäre möglich, leerstehende Spekulationsimmobilien zu enteignen und fast sofort die Schulklassengrösse zu halbieren. Die Pharmaindustrie muss verstaatlicht werden, um so aktiv für die globale Durchimpfung sorgen zu können. Alle diese Massnahmen (und viele mehr) wären dringend notwendig – seit 2 Jahren! Doch dafür müsste der Bundesrat tief in die Geldbeutel der Grossunternehmen greifen und das kapitalistische Privateigentum angreifen. Dies ist für den Bundesrat ganz offensichtlich keine Option. Die kapitalistische Logik verhindert, dass die notwendigen Massnahmen im Interesse der Bevölkerung getroffen werden.
Der Bundesrat steht augenscheinlich ganz im Dienst der Patrons. Dies wurde in den letzten Wochen nochmals überdeutlich. Am 11. Januar forderte der Arbeitgeberverband, dass die Quarantänedauer von zehn auf fünf Tage verkürzt wird. Dies ist eine komplett wissenschaftsfeindliche Forderung, denn die Inkubationszeit bei Corona kann bis zu 14 Tagen dauern. Dennoch gehorchte der Bundesrat seinen kapitalistischen Herrchen und verkürzte die Quarantäne. Gleiches Spiel eine Woche später: Am 18. Januar fordern die Kapitalisten, dass die aktuellen, völlig unzureichenden Massnahmen (v.a. die Home-Office-Pflicht) bereits Ende Februar aufgehoben werden. Erneut spielte der Bundesrat seine Rolle als Schosshund der Patrons sofort am Folgetag. Obwohl es in der momentanen Situation gänzlich unmöglich ist, den Verlauf der Pandemie vorauszusagen. Zuletzt, am 25. Januar, forderten die Kapitalistenverbände die Aufhebung aller Massnahmen. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis der Bundesrat auch diesem Befehl folgt.
Das einzige Problem, das der Bundesrat und die Kapitalisten in dieser gigantischen Corona-Welle sehen, sind die mangelnden Arbeitskräfte. Wegen der hohen Ansteckungszahlen könnten bis Ende Januar unglaubliche 14% der Arbeitskräfte in Quarantäne sein (KOF). Dies ist auch der Grund, weshalb die Quarantänedauer verkürzt wurde. Was die Kapitalisten und den Bundesrat bei den Menschen interessiert ist nicht ihre Gesundheit, sondern ihre Arbeitskraft – ihre Fähigkeit, Profite für die Kapitalisten zu generieren. Berset gibt offen zu, dass die Home-Office-Pflicht in erster Linie «die Wirtschaft» (d.h. die Profite) und nicht die Gesundheit schützen soll: «Es könnte eine Gefahr für die Wirtschaft bestehen, wenn sich zu viele Arbeitnehmende gleichzeitig infizieren» (Pressekonferenz, 19. Januar).
Der Bundesrat schützt die Profite von ein paar wenigen Kapitalisten und opfert dabei die Gesundheit der Massen. Dennoch muss sich der Bundesrat immer als Repräsentant der ganzen Bevölkerung darstellen. Um seine mörderische Pandemie-Politik im Dienste der Kapitalisten zu rechtfertigen, spielen der Bundesrat und die bürgerliche Presse konsequent die Gefahr durch Corona herunter. Die Lügen und Unwahrheiten des Bundesrats haben mit Omikron ein neues Niveau erreicht. Bersets Grippe-Vergleich, das Ignorieren von Long-Covid und die Ankündigung des Endes des Pandemie auf Ende Februar stellen die zynischen Höhepunkte dar.
Doch wir dürfen nicht vergessen, dass dies nur die Weiterführung der ganzen Pandemie-Politik darstellt: Im März 2020 hätten 1600 Corona-Tote mit früheren Massnahmen verhindert werden können; im Juni 2020 rief der Bundesrat erstmals die «Normalität» aus; die zweite Welle im Oktober 2020 wurde vom Bundesrat völlig verschlafen; ab Frühling 2021 wurde das Ende der Pandemie mit der Impfung angekündigt; nun soll die Bevölkerung mit Omikron «immunisiert» werden. Kurz: Seit Beginn der Pandemie trifft der Bundesrat völlig unzureichende Massnahmen und rechtfertigt dies, indem Corona konsequent verharmlost wird.
Mitten in der Omikron-Welle hebt der Bundesrat also die Massnahmen auf – entgegen der Empfehlung der WHO. Dies begründet Berset damit, dass die «Situation in den Spitälern unter Kontrolle ist» (19.1.). Auf so eine billige Aussage kann man bei 100’000 täglichen Fällen einfach kindisch antworten: Wer’s glaubt wird selig!
Zunächst einmal: Der Bundesrat stützt sich für diese Aussagen auf Zahlen, welche die Situation massiv unterschätzen. Für das Jahr 2020 waren die Hospitalisierungs-Zahlen des BAG 50% unter dem tatsächlichen Wert (20’000 statt 31‘000!). Dies dürfte aktuell mindestens ähnlich sein. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Hospitalisierungszahlen immer mit Verzögerung in die Höhe schnellen. Bevor jemand ins Spital eingeliefert wird, muss sich das Virus zuerst in seinem Körper breitmachen. Die Zahlen aus Südafrika (wo Omikron erstmals entdeckt wurde) deuten an, dass die Verzögerung bei Omikron noch grösser ist: In Südafrika nehmen seit dem 17. Dezember die Fallzahlen täglich ab, doch gleichzeitig gehen die Todesfälle stetig in die Höhe.
Die Entwicklungen in Genf sowie in anderen Grossstädten wie Zürich und Basel zeigen, dass mit einem ähnlichen Verlauf auch in der Schweiz zu rechnen ist. Dort ist die Situation auf den Intensivstationen keinesfalls «verbessert» (Berset, 19.1.). Im Gegenteil, die Covid-Hospitalisierungen nehmen zu!
Um die tatsächliche Situation in den Spitälern zu kennen, sollten wir viel eher die GesundheitsarbeiterInnen fragen, anstatt den Bundesrat. Dieser eindrückliche Bericht des Pflegepersonals vom Genfer Unispital deutet das krasse Ausmass an (Tribune de Genève, 19.1.):
«Die Covid-Tests können nicht mehr systematisch durchgeführt werden, wenn man in die Notaufnahme kommt. Die Patienten werden vor der Verlegung in die entsprechenden Abteilungen geführt. Zuvor ist die Durchmischung in den Gängen und Boxen der Notaufnahme sehr hoch. Nachts kann es daher vorkommen, dass sich ein Risiko-Patient, in derselben Box wiederfindet, wo zuvor ein Covid-Patient war. Dennoch wird die Station zwischen 22 Uhr und 6 Uhr nicht gereinigt… Es gibt ein grosses Defizit bei den Sortier- und Kontrollprozessen.
Wir vom Personal fallen um wie die Fliegen; 100 Mitarbeiter infizieren sich jeden Tag im Genfer Unispital. Das hat zur Folge, dass wir ständig an unseren freien Tagen aufgeboten werden, um die Abwesenheiten zu kompensieren. (…) Der Personalmangel ist so gross, dass sogar positiv getestete Mitarbeiter zur Arbeit kommen, wenn sie asymptomatisch sind. (…)
Viele der Pfleger in den Notfallaufnahmen haben zuletzt gekündigt, weil die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sie zermürbt hat. Wir haben an Pflegequalität verloren. Diejenigen, die es wagen, Kritik zu äussern, müssen mit Repressalien rechnen, was zum Beispiel über die Dienstpläne laufen kann.»
Die Situation an den Spitälern ist katastrophal! Dies liegt in erster Linie am enormen Personalmangel, der gänzlich das Resultat der kapitalistischen Profitlogik ist: Auf Jahrzehnte der Sparpolitik im Gesundheitswesen folgten zwei Corona-Jahre ohne die notwendigen Investitionen. Jegliche Versprechen an die PflegerInnen, jegliches Klatschen im Bundeshaus hat sich als Heuchelei herausgestellt.
Die Pflegeinitiative wurde vom Bundesrat mit einem lächerlichen Gegenvorschlag bekämpft. Und nun versuchen Bundesrat und Parlament erneut, jenen Teil der Pflegeinitiative, welcher die Verbesserung der Arbeitsbedingungen vorsieht, zu sabotieren. Die Interessen der GesundheitsarbeiterInnen werden mit allen Waffen des bürgerlichen Staats abgeholzt. Wir dürfen keinerlei Illusionen darin haben, dass der Bundesrat oder das Parlament die Pandemie und die Gesundheitskrise im Interesse der Lohnabhängigen lösen wird.
Der Umgang mit Omikron und zwei Jahren Pandemie zeigen deutlich: Die Regierung – der Bundesrat – verteidigt das Profitsystem der Kapitalisten. Er ist bereit, die Gesundheit und das Leben der arbeitenden Bevölkerung für die Profite einer handvoll Superreicher zu opfern. Eine solche Regierung der Kapitalisten kann nicht fähig sein, die gesundheitliche und soziale Krise zu lösen.
Daraus können wir nur eine konsequente Schlussfolgerung ziehen: Diese kapitalistische Regierung muss weg. Wir brauchen eine Arbeiterregierung, welche die Gesundheit über die Profite stellt. Die Pandemie wird sich nicht von selbst lösen – wir müssen jetzt für eine Regierung kämpfen, die bereit ist, folgende Forderungen umzusetzen:
Jenen, die nun sagen, diese Forderungen seien nicht umsetzbar oder utopisch antworten wir: Es ist völlig utopisch zu denken, dass das kapitalistische System und seine bundesrätlichen Diener diese Krise lösen werden! Wie viele Lügen, wie viele Kranke und Tote lassen wir noch über uns ergehen? Die politisch fortgeschrittensten ArbeiterInnen und Jugendliche müssen sich jetzt in ihrem Betrieb und ihren Schulen organisieren!
In eigentlich allen Bereichen der arbeitenden Bevölkerung macht sich zunehmend ein grosser Unmut gegenüber der Corona-Politik des Bundesrats breit. Die Berufsverbände der Pflege, der LehrerInnen und vieler mehr (bspw. die Patientenorganisation Long Covid) veröffentlichen alarmierende Statements.
Die Situation ist explosiv. In anderen Ländern – Massendemonstrationen in Belgien, Generalstreik in Italien, Schülerstreik in Österreich – kam es bereits zu grossen Bewegungen. In der Schweiz wäre das Potenzial mit der kriminellen Politik der Regierung ebenso vorhanden. Doch der grosse Unmut zeigt sich bisher nicht in einer organisierten Opposition gegen den Bundesrat und gegen die Patrons.
Die Schuld dafür liegt bei den Führungen der grossen Organisationen der Arbeiterklasse – der SP und den Gewerkschaften. Sie müssten ihre grossen Ressourcen und ihre Verankerung in den Betrieben und sozialen Bewegungen nutzen, um einen kollektiven Weg vorwärts aufzuzeigen. Es kommt zwar (sehr) vereinzelt Kritik gegen einzelne Punkte der pro-kapitalistischen Bundesratspolitik. Doch in den grossen Linien unterstützen sie alle Grundpfeiler der bürgerlichen Pandemiepolitik. Die Führungen der Massenorganisationen bieten keinerlei Alternative zum katastrophalen Status quo an.
Die SP ist mit den Bundesräten Berset und Sommaruga integraler Bestandteil dieser arbeiterfeindlichen Regierung. Alain Berset ist sogar der Kopf und das Gesicht der Pandemiepolitik. In zwei Jahren Pandemie haben Berset und Sommaruga zu praktisch jedem Zeitpunkt bewiesen, dass sie keine Vertreter der Lohnabhängigen sind, sondern die kapitalistischen Interessen vertreten. Es schadet der Arbeiterklasse, wenn Alain Berset im Namen der SP (der einzigen traditionellen Partei der Arbeiterklasse im Land) kapitalistische Politik betreibt. Denn so wird die pro-kapitalistische Linie als alternativlos dargestellt.
Genau dies ist die Aufgabe der sogenannten Schweizer Konkordanz-Regierung: Die Führung der SP wird in den Bundesrat integriert, um den scheinbar «gutschweizerischen Kompromiss» zu garantieren. Wie die Pandemie zeigt, bedeutet dies, dass die Interessen der Arbeiterklasse systematisch jenen der Kapitalisten untergeordnet werden. Im Bundesrat ist keine linke Politik möglich! Der Bundesrat ist eine bürgerliche Institution mit der Aufgabe, die bürgerlichen Interessen zu verteidigen. Die Arbeiterklasse muss mit dem Bundesrat brechen, damit sie für ihre Interessen kämpfen kann.
Welche Schlussfolgerungen müssen wir daraus ziehen:
Für die Redaktion
Dersu Heri
26.01.2022
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024