Die Bosse nutzen die mit der Zertifikats-Pflicht scheinbar rückkehrende Normalität als Vorwand für asoziale und gesundheitsschädliche Massnahmen. Die Arbeiterklasse muss selbst über Schutz- und Arbeitsbedingungen entscheiden.
«Von mir aus reicht’s», sagt Berset im Oktober. Mit der erweiterten Zertifikats-Pflicht und der kümmerlich planlosen «Impf-Offensive» habe der Bundesrat vorerst alles geliefert. Für MarxistInnen ist die Impfung klar notwendig zur Bekämpfung der Pandemie. Doch dem Bundesrat gehts nicht um unsere Gesundheit: Er verkauft das Covid-Zertifikat als Wundermittel, als scheinbar konsequente Gesundheitspolitik.
Hinter dem Schein bricht er sämtliche Massnahmen im Kampf gegen die Pandemie ab: Gratistests und Contact Tracing wurden abgeschafft. Sonderhilfen wie Erwerbsausfall sollen bald weg. Den dringend notwendigen Ausbau des öffentlichen Sektors, speziell der Gesundheit, geht er nicht an.
Der Bundesrat will «möglichst schnell zurück zu Normalität» (Cassis). Normal heisst für ihn: Die Gesundheit der Massen uneingeschränkt und ohne Zusatzkosten für die Profite der Kapitalisten opfern. Ja kein weiterer Lockdown, ja kein weiteres fettes Rettungspaket; die wirtschaftliche Erholung ist jetzt da, der Rubel muss jetzt in den Betrieben geschafft werden und weiterrollen. Die Arbeiterklasse ist hierfür weiterhin Kanonenfutter.
Allen voran im Gesundheitssektor. «Burnouts und Angstattacken sind zum Alltag geworden», erzählt uns Lea, eine Ärztin aus der Region Bern. «Trotz Aufopferung ist es unmöglich, die PatientInnen richtig zu versorgen». Der seit langem zunehmende Notstand sei in der Pandemie noch krasser geworden, speziell in der Pflege. Nicht nur bei ihr, sondern generell. Jeder dritte Pfleger entflieht den Spitälern hierzulande.
In Leas Spital wurde deshalb im Sommer eine Station geschlossen. «Der Chefarzt drückte uns auf einen Schlag drei Patientinnen mehr rein». Dessen Lösungsansatz: schneller durch die Gänge laufen. Eine Pflegerin sei total ausgerastet, habe die Wut aller auf den Tisch gehauen. «Ich wusste nicht, dass sie so mutig ist», sagt Lea. Aus Szenen wie diesen tanke sie Zuversicht.
Bitter nötig! In Leas Spital ist die Personallage derart prekär, dass die Spitalleitung keine Zertifikatspflicht einführen will. So kann sie bei Bedarf auch Coronaerkrankte zur Arbeit zwingen. Sie weiss von einem positiv getesteten Assistenzarzt in der Reha, dem es so erging. Als Covid-infizierter Arzt zum nahen Kontakt mit kranken Alten verdonnert zu sein: «Grausam absurd und zugleich symptomatisch für den Zustand der Spitäler», so Lea.
Die Pandemie hat die seit Jahrzehnten zunehmend miserable Situation im Gesundheitssektor entblösst. Was tat der Bundesrat? Er konnte mit seiner Corona-Politik 18 Monate lang keine Welle verhindern, verschärfte damit den Notstand. Jetzt weigert er sich, für sein eigenes Versagen geradezustehen. Die Pflegeinitiative (mehr Personal, bessere Arbeitsbedingungen) gehe «zu weit».
Das gleiche gilt für die Schulen. Hier gab es zuletzt am meisten Ansteckungen. Hauptgrund? Die Schulen blieben im Sommer offen, ohne einheitliches Schutzkonzept. In vielen Kantonen gab es weder Masken noch Massentests. Eine Mutter, deren 3 Kinder sich infizierten, bringts auf den Punkt: «Verantwortungslos, wie unsere Kinder durchseucht werden». Wo getestet wird, muss das Personal den Zusatzaufwand stemmen. Will heissen, mehr Last für eh schon burnoutgefährdetes Lehrpersonal.
Bundesrat, Schul- und Spitalleitungen sind offensichtlich weder gewillt noch fähig, anständige Lebensbedingungen im öffentlichen Sektor zu garantieren. Bei den Lohnabhängigen ist es genau umgekehrt. Nur sie haben ein objektives Interesse an Gesundheit und guter Arbeit. Daher sind nur sie fähig, über die dazu notwendigen Massnahmen (Personalbestand, Schichtpläne, Schutzvorkehrungen) in ihrem Betrieb zu entscheiden.
Dafür brauchts Ressourcen. Investitionen für Tests, Impfkampagnen und vor allem für mehr und besser bezahltes Personal sind dringend nötig. Überall, im Gesundheitswesen speziell. Doch Bundesrat und Kantonsregierungen machen das Gegenteil. Es wird weiter gespart, abgebaut und privatisiert. Die ArbeiterInnen müssen für die Krise bezahlen, den Bossen wird maximaler Profit gesichert. Die 300 Reichsten in der Schweiz haben mehr denn je. Das ist die Politik der herrschenden Klasse seit Jahrzehnten.
Daraus wird klar: Der Kampf für die Kontrolle über Schutzmassnahmen und Arbeitsbedingungen in den Betrieben muss ein Kampf gegen die ganze herrschende Klasse sein. Bei ihnen liegt der von der Arbeiterklasse geschaffene Reichtum zu holen. Ihr System und ihre Politik haben versagt.
Von dieser entscheidenden Tatsache lenkt der Bundesrat mit der Zertifikats-Pflicht ab. Die Schuld an der andauernden Covid-Krise wird auf die Ungeimpften abgeschoben. Nicht fehlende Investitionen und die fatal inkonsequente Impfkampagne des Bundesrats sind verantwortlich für Burnouts und Tote – sondern Impfverweigerer, speziell «ungebildete» AusländerInnen. Die Arbeiter werden anhand vom Impfstatus und der Herkunft diskriminiert und gespaltet.
Nicht nur der Bundesrat nutzt das Zertifikat zur Vertuschung seiner asozialen Massnahmen. Auch die Bosse können dies tun. Das Genfer Unispital beispielsweise, weiterhin permanent am Anschlag, stellt nur noch geimpftes Personal ein. Angeblich zum Wohle der PatientInnen. «Ein Vorwand», sagt der VPOD richtigerweise. Die Spitalleitung will das Problem, den Notstand, nicht angehen. Anstatt Geld für mehr Personal in die Hand zu nehmen, lässt sie fortan ungeimpfte ArbeiterInnen auf der Strasse.
Einen Impfzwang für alle ArbeiterInnen gibts in der Schweiz, anders als in Italien, nicht. Weil die Übernahme der Testkosten in Betrieben vom Goodwill der Kantone und Bossen abhängt, ist die Realität für so manchen Lohnabhängigen jedoch die gleiche: Impfen oder Job verlieren. «Mein Chef beharrt darauf, dass ich die Test selbst bezahle. Bleibt mir nur noch die Kündigung?», schreibt ein SRF-User. Er kann, wie die allermeisten, unmöglich 500 Franken monatlich für Tests hinblättern.
Impfpflicht als Vorwand für Stellenabbau: ein für die Bosse kriselnder Sektoren nützliches Mittel. Am offensten angewandt bislang von der Swiss: Wer bis 2022 nicht geimpft ist, fliegt – nicht mehr mit – sondern raus. Die Swiss kürzte die Löhne letztes Jahr massiv, was zu ersten Streiks führte. Sie plante im Sommer einen fetten Stellenabbau bis 2023 – und beginnt diesen nun versteckt hinter der Impfpflicht.
Nicht alle Bosse haben Bedarf an Entlassungen. Doch alle wollen einen möglichst profitablen Betrieb – also auch ohne lästige Rücksicht auf die Gesundheit des Personals. Darum wird die vermeintliche «Normalitäts»-Stimmung als Vorwand gebraucht, um Schutzmassnahmen abzuschaffen. Obwohl klar ist, dass mit nur 60 Prozent Geimpfter Rekord-Hospitalisationen bevorstehen könnten. Die Ansteckungsgefahr am Arbeitsplatz nimmt zu. Zahlen vom Sommer aus Zürich belegen dies. Bei der Swisscom und der Post beispielsweise gibts weder eine Zertifikats- noch eine Maskenpflicht – grossflächige Tests auch nicht.
Die Post wollte die Zertifikats-Pflicht zuerst einführen. Wütende Kommentare gegen die Chefetage sammelten sich auf dem Portal des Personals, worauf die Ankündigung zurückgenommen wurde. «Mein Chef muss deshalb Home Office weiter erlauben. Er macht aber Druck, dass wir ins Büro kommen, um uns besser zu kontrollieren», sagt Joe, Informatiker bei der Post. Mehr physischen Austausch wollen die meisten, doch hier kommt die Angst vor Ansteckungen ins Spiel: «Ich fühle mich unsicher, will darum möglichst selten ins Büro», sagt Joe. Verständlich, wenn KollegInnen auf engem Raum husten – ohne Maske. Er fühle sich so zusätzlich gestresst.
Nicht nur Joe: Zwei Drittel der ArbeiterInnen fühlen sich überarbeitet. Schon vor Corona war jeder fünfte Lohnabhängige «meistens oder immer unter Stress». Während der Pandemie verzeichnet jeder Zehnte Lohneinbussen. Ein Drittel der ArbeiterInnen findet, dass ihre Bosse in der Pandemie zu viel verlangen. Die Krise des Kapitalismus und seine Unfähigkeit, die Pandemie zu bekämpfen, machen krank: Jeder dritte Jugendliche ist depressiv, ein Viertel der Erwachsenen psychisch «nicht gesund oder krank». Alle zehn Minuten gibts einen Suizidversuch. Während der Bundesrat von «Normalität» labert, nimmt der Druck auf die Arbeiterklasse massiv zu.
Die Zertifikats-Pflicht ist ein Feigenblatt. Hinter dem Schein konsequenter Gesundheitsschutz macht der Bundesrat das Gleiche wie seit Beginn der Pandemie – unsere Gesundheit für den Profit der Kapitalisten opfern. Den Bossen gibt er einen Freifahrtschein für Willkür. Alle bedienen sich der vermeintlich rückkehrenden Normalität, um Schutzmassnahmen aufzuheben. Einige verlangen das Zertifikat als Vorwand für Entlassungen und Spaltung. Andere verlangen es nicht, um auch kranke ArbeiterInnen ausbeuten zu können.
Bundesrat und Bosse können uns offensichtlich kein sicheres Leben garantieren. Daraus gibts nur einen Schluss: Die Arbeiterklasse muss es selbst tun. Selbst über Schutzmassnahmen und Arbeitsbedingungen im Betrieb entscheiden. Wenn die Bosse sagen, es gäbe keine Ressourcen für Personal, Tests und Schutzkonzepte – dann verlangen wir Einsicht in die Geschäftsbücher. Als Mittel zur kollektiven Arbeiterkontrolle im Betrieb.
Zu radikal? Das Krisenmanagement der herrschenden Klasse ist radikal asozial! Sie ist Schuld an Burnouts und Toten. Die Arbeiterkontrolle ist die radikale Antwort der Lohnabhängigen darauf. Zwar spricht niemand von der Arbeiterkontrolle, auch nicht die Führungen der Gewerkschaften und der SP. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass die Arbeiterkontrolle nötig ist, um der Pandemie und der kapitalistischen Krise ein Ende zu setzen. Denn nur die Arbeiterklasse hat, im Gegensatz zu den Profit-orientierten Kapitalisten, ein objektives Interesse an einem guten Leben.
Nur die Arbeiterklasse selbst kann ihre Gesundheit sichern. Dazu muss sie die Betriebe und damit die ganze Wirtschaft (Banken, Grosskonzerne) übernehmen. Die Macht dazu hat sie als erdrückende Mehrheit und Produzentin jeglichen Reichtums. Es gibt genug Ressourcen, um die dringendsten Massnahmen (Schutz vor Pandemie, genug und gute Jobs) sofort umzusetzen. Diesen Reichtum muss sich die Arbeiterklasse zurückholen und die Gesellschaft nach ihren Bedürfnissen planen. Frei von künstlichem (Personal)-Mangel und Spaltung!
Dario Dietsche, VPOD Fribourg
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