Nachdem die italienische Zentralregierung und die Regionalregierungen den Sommer über wertvolle Zeit verstreichen liessen, wirkungsvolle Massnahmen zu ergreifen, sahen sie sich Ende Oktober gezwungen, einen erneuten Teil-Lockdown zu beschliessen. Das löste heftige Proteste in ganz Italien aus.
Die zweite Corona-Welle trifft Italien derzeit mit voller Wucht. Höhepunkt der Pandemie war der 13. November mit knapp 41.000 ermittelten Neuinfektionen. Die Zahl der Todesfälle überschritt am 23. November die 50.000-Marke. Damit belegt Italien weltweit den sechsten Platz dieses traurigen Rekordes.
Der zweite von einigen Regionalregierungen beschlossene Teil-Lockdown war aus Sicht der herrschenden Klasse eine zur Absicherung der eigenen politischen Legitimation notwendige Augenwischerei. Ein völliges Ignorieren der sich verschärfenden Situation hätte mit Sicherheit eine neue Streikbewegung und ein Auflodern des Klassenkampfes zur Folge gehabt. Im Frühjahr dieses Jahres hatte die Arbeiterklasse bereits viel Mut und Entschlossenheit im Kampf gegen die Corona-Pandemie gezeigt und war Vorbild für viele weitere Arbeitskämpfe in ganz Europa.
Anfang März hielten viele Arbeiterinnen und Arbeiter die unerträgliche Situation durch die Corona-Pandemie nicht mehr aus und traten in Städten wie Bologna, Neapel und Genua spontan in sehr kämpferisch geführte Streiks. Sie forderten die Unternehmer und die Regierung dazu auf, die nicht lebensnotwendige Produktion einzustellen, um somit den Schutz der arbeitenden Bevölkerung zu gewährleisten. Die Streiks der Metallarbeiter und vieler weiterer Belegschaften, besonders im Norden Italiens, setzte die Gewerkschaftsführung des nationalen Gewerkschaftsbunds Confederazione Generale Italiana del Lavoro (CGIL) soweit unter Druck, dass diese sich gezwungen sah, die Streiks zu unterstützen und die Schliessung der Fabriken zu fordern.
Die Regierung nahm unter dem Druck der Arbeiterklasse Gespräche mit der Gewerkschaftsführung auf. Das am darauffolgenden Tag präsentierte Dekret entsprach ganz und gar nicht den vorher mündlich vereinbarten Versprechungen und offenbarte, dass die Profitinteressen der Unternehmen mehr zählen als Menschenleben. Die Entschlossenheit und der weiter steigende Druck seitens der Gewerkschaftsbasis zwangen zum einen die Gewerkschaftsführung die weitergehende Forderung nach einem landesweiten Generalstreik als verbalradikale Androhung aufzunehmen, zum anderen musste die Regierung den Forderungen teilweise nachgeben.
Die Verhandlungen zwischen der Gewerkschaftsführung und der Regierung endeten schliesslich in einem faulen Kompromiss, welcher zwar die Schliessung einiger Branchen und Gewerbe zur Folge hatte, aber immer noch sehr weit von den ursprünglichen Forderungen entfernt war. Die Gewerkschaftsbewegung wurde damit ausgebremst und die Forderung eines Generalstreiks wurde seitens der Gewerkschaftsführung fallengelassen. Ein gewaltiges Potenzial für den Kampf um weitergehende Forderungen ist im Frühjahr dieses Jahres einfach verschenkt worden.
Die italienische Arbeiterklasse hat dennoch gezeigt, wie ein Kampf im Interesse der Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Corona-Pandemie geführt werden kann. Diese Bewegung hatte reaktionären Kräften weitgehend die Grundlage für Proteste und Stimmungsmache entzogen. Die spontanen Proteste Ende Oktober in Neapel, Turin und anderen Grossstädten gegen die neuen angekündigten Massnahmen der italienischen Regionalregierungen hatten zum grössten Teil einen ganz anderen Charakter als dies in Deutschland der Fall ist.
Als die Regierungen eine erneute Ausgangssperre ankündigten, die vor allem viele kleine Geschäfte, Restaurants und Bars in die finanzielle Bredouille gebracht hätte, brachten sie deren Betreiber gegen sich auf. Den Beschlüssen fehlten insbesondere zwei Dinge: Die Einstellung aller nicht lebensnotwendigen Produktion sowie die finanzielle Unterstützung der kleinen Ladenbesitzer und Beschäftigten im Tourismus, im Kultur- und im Dienstleistungssektor. Die Bekanntmachung dieser politischen Entscheidung entlarvte ein weiteres Mal, welche Interessen die italienischen Regierungen eigentlich vertreten. Der Versuch die Corona-Krise auf die Arbeiterklasse und kleinbürgerliche Schichten abzuwälzen, löste in Teilen des Landes heftige Proteste aus. Die angestaute Wut entlud sich auf den Strassen.
Von kleinbürgerlichen Schichten angeführt kam es vielerorts zu Strassenblockaden und zu Zusammenstössen mit der Polizei, welche städtischen Guerillakämpfen ähnelte. Den Protesten schlossen sich vor allem viele Jugendliche an, welche besonders unter der hohen Arbeitslosigkeit und unter den Gängelungen seitens der Polizei zu leiden haben. Die Aufstände waren Ausdruck der widersprüchlichen Massnahmen der italienischen Regierung.
Mit der Forderung „Tu ci chiudi, tu ci paghi!“ („Schliesst du uns, zahlst du uns!“) richteten sich die Proteste, vor allem gegen die herrschende Klasse, welche die finanzielle Krise gerne auf ihren Schultern abladen würde. In den allermeisten Fällen wurde seitens der Protestierenden weder die Existenz des Virus noch die Dringlichkeit einer Eindämmung der Pandemie, geleugnet. Vielmehr wurde die Heuchelei der herrschenden Klasse angeprangert, welche nicht bereit ist, den von der Krise betroffenen einfachen Leuten finanzielle Unterstützung zuzusichern.
Dabei wäre auch in Italien genug Reichtum vorhanden, den von der Krise gebeutelten kleinen Ladeninhaber, den Beschäftigten im Tourismus sowie den Kunst- und Kulturschaffenden finanziell unter die Arme zu greifen. Der Forbes-Rangliste zufolge leben in Italien derzeit 36 Milliardäre. Zwischen April und Juli 2020 konnten diese immens von der Krise profitieren und ihr Vermögen wuchs um 31% von 125,6 auf 165 Milliarden US-Dollar. Eine Summe, die gewaltig wirkt im Gegensatz zu den Zugeständnissen der Regierung an die kleinen Geschäftsinhaber, die sich in Form eines Fonds auf insgesamt 1,6 Milliarden Euro belaufen werden.
Der Revolutionär Leo Trotzki beschrieb 1932 die Rolle des Kleinbürgertums in Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs folgendermassen:
„In der Epoche von Aufstieg, Wachstum und Blüte des Kapitalismus ging das Kleinbürgertum trotz heftiger Ausbrüche von Unzufriedenheit im Grossen und Ganzen gehorsam im kapitalistischen Gespann. Es blieb ihm auch nichts anderes übrig. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Fäulnis und wirtschaftlichen Ausweglosigkeit aber versucht die Kleinbourgeoisie, sich den Fesseln der alten Herren und Meister der Gesellschaft zu entwinden. Sie ist durchaus fähig, ihr Schicksal mit dem des Proletariats zu verknüpfen.“
In Italien sehen wir gerade, wie die systemstützende Rolle des Kleinbürgertums, sich in sein Gegenteil verkehrt. Die Bourgeoisie kann in Zeiten tiefer Krisen nicht mehr wie zuvor auf die Unterstützung oder Passivität kleinbürgerlicher Schichten vertrauen. Damit fällt aber ein wesentliches Element zur Herrschaftssicherung weg. Dies erklärt auch die schnellen mündlichen Zugeständnisse der Regierung. Die finanziellen Hilfen der Regierung werden aber die Krise auch für das Kleinbürgertum nicht lösen, sondern nur aufschieben. Dessen Zukunftsperspektiven sind zu sehr mit jener der Arbeiterklasse verbunden. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise und die damit verbundenen Entlassungen in den grossen Unternehmen werden sich auch für viele kleine Ladenbetreiber, Bäckereien und Cafés bemerkbar machen, da viele ihrer Kunden wegfallen werden. Schon jetzt verschärfen Home-Office und die Zerstörung von 472.000 Arbeitsplätzen (trotz Entlassungsstopp der Regierung) die derzeitige Lage des Kleinbürgertums.
Zweifellos werden auch reaktionäre Kräfte wie die rechtsradikale Partei Forza Nouva in Rom versuchen die Proteste für sich zu vereinnahmen und sich als ihre Repräsentanten darzustellen. Damit erinnern die Proteste vor allem an die 2018 aufgekommene französische Gelbwestenbewegung, in der zu Beginn zunächst auch verschiedene politische Strömungen vertreten waren. Mit einer klassenkämpferischen Arbeiterklasse haben die Proteste jedoch auch in Italien einen politischen Bezugspunkt, welcher ihnen wirklich einen Ausweg aus ihrer Notlage aufzeigen kann.
Mitte November zeigte die Arbeiterklasse in der norditalienischen Hafenstadt Genua, welches Potenzial vorhanden ist, den Klassenkampf auf eine neue Stufe zu heben. Drei Arbeiter des luxemburgischen Stahlkonzerns ArcelorMittal wurden entlassen, nachdem einer von ihnen beschuldigt wurde, den Chef in einer WhatsApp-Gruppe beleidigt zu haben. Den anderen zwei wurde vorgeworfen, einen Speiseraum neben dem Erste-Hilfe-Bereich eingerichtet zu haben. Daraufhin solidarisierten sich die Kollegen des Betriebs, indem sie zwei Stunden pro Schicht streikten und den Ein- und Ausgang von Waren blockierten. Als darauffolgend die Unternehmensleitung alle Arbeiter aussperren liess, traten diese aus Protest in einen vierstündigen Streik und zogen in einer Demonstration bis vor die Präfektur, um die Regierung zum Handeln zu bewegen.
Dem Demonstrationszug schlossen sich aus Solidarität Arbeiterinnen und Arbeiter aus vielen weiteren Sektoren an: Delegierte aus den grössten Fabriken der Stadt, Arbeiter aus dem Transport- und Handelswesen, die Hafenarbeiter, die Flughafenarbeiter, die Feuerwehrleute sowie Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und aus den städtischen Betrieben. Die Aussperrung der 250 Arbeiter, die damit einhergehende Aussetzung des Lohns sowie die Entlassung eines Kollegen mussten letztendlich vom Unternehmen zurückgenommen werden. Die Arbeiter von Genua haben damit aller Welt bewiesen, dass es sich lohnt zu kämpfen.
Die Beispiele aus Italien zeigen, wie ein fortschrittlicher Kampf gegen das Virus geführt werden kann und welches Potenzial vorhanden ist, die einzelnen Kämpfe miteinander zu verbinden – auch mit jenen der kleinbürgerlichen Schichten. Darüber hinaus kann so den reaktionären Kräften das Wasser abgegraben werden. Wie Trotzki 1932 schrieb, ist dafür folgendes notwendig: „Das Kleinbürgertum muss die Überzeugung gewinnen, dass das Proletariat fähig ist, die Gesellschaft auf einen neuen Weg zu führen. Ihm diesen Glauben einzuflössen, vermag das Proletariat nur durch seine Kraft, durch die Sicherheit seiner Handlungen, durch geschickten Angriff auf die Feinde, durch die Erfolge seiner revolutionären Politik.“
Die Aufgabe der revolutionären Marxisten ist es, den Ausgebeuteten und Unterdrückten ein revolutionäres Programm zu geben, das ihnen einen Ausweg aus ihrer Not und eine Perspektive für ihre Kämpfe aufzeigt. Die Krise kann nur durch die sozialistische Revolution gelöst werden. Dafür muss die Arbeiterklasse die Macht der Banken und Konzerne und des bürgerlichen Staates brechen.
Adrian Siegler
Der Funke Deutschland
Bild: SCR Napoli
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