Die PflegerInnen sind am Ende und das Parlament hat die Forderungen der Pflegeinitiative nach mehr Lohn und besseren Arbeitsbedingungen abgeschmettert. Das Personal in Lausanne zeigt nun den Weg vorwärts und streikt am 23. Juni!
«Ich habe noch nie so viele Tränen gesehen in meinen 30 Jahren auf der Intensivstation», beschreibt ein Pflegeleiter im Aargauer Kantonsspital die Situation (ECO 2021). Im Gesundheitswesen, von Pflegeheimen über Spitäler, spitzt sich die Lage zu. Corona hat die bereits angehäuften Widersprüche offengelegt und vertieft. Das Personal ist am Anschlag, die Pflegequalität sinkt und der langanhaltende Personalmangel vertieft sich. Insbesondere der Fachkräftemangel ist innert acht Jahren um 150% gestiegen (ECO 2021). Gleichzeitig wurde mit Corona der Pflegeberuf beklatscht und als systemrelevant betitelt. Mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen soll es dennoch nicht geben. Hier zeigt sich klar: Jede Verbesserung muss erkämpft werden!
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt die Antwort. Kaum ein Bereich wurde in den letzten Jahrzehnten härter angegriffen: Der öffentliche Gesundheitssektor wurde durch Privatisierungen, Spitalschliessungen und Sparmassnahmen systematisch zerpflückt (Vpod 2016). Insbesondere die Einführung des «amerikanischen Systems» der Fallpauschalen 2012 bereitete den Weg für eine zunehmende Bürokratisierung, Konkurrenz und Kosten- und Privatisierungsdruck der Spitäler und Pflegeinstitutionen: Profitable Operationen und Prestigeprojekte werden forciert, Teilbereiche ausgelagert und privatisiert und die Personalkosten an allen Ecken und Enden gedrückt (WOZ 2020).
Die Gesundheit, oder besser gesagt, die Krankheiten der Schweizer Arbeiterklasse werden zum profitablen Geschäft. Klinikaktionäre, Baufirmen, die Pharmariesen und die Krankenkassen machen so jährlich Milliarden-Gewinne. Roche und Novartis alleine erzielten 2020 über 23 Milliarden Franken Gewinne (SRF). Gleichzeitig werden die Kosten des Gesundheitswesens durch Sparmassnahmen und Prämienerhöhungen immer stärker auf die Lohnabhängigen abgeladen. Damit wird die Gesundheit zunehmend vom Menschenrecht zum Luxusgut.
Vor allem aber werden die ArbeiterInnen bis aufs Äusserste ausgebeutet. «In den zehn Jahren, in denen ich in der Abteilung arbeite, habe ich nie eine andere Situation gekannt als Stress, Patienten zu behandeln, Akten abzuschliessen und so schnell wie möglich zum nächsten überzugehen, Stunden anzuhäufen (…) Und das alles, ohne einen Fehler machen zu dürfen, da es um das Leben der PatientIn gehen könnte», beschreibt es eine Angestellte vom Unispital in Lausanne (CHUV). Hier zeigt sich: Die Interessen der Kapitalisten nach einem profitablen und billigen Gesundheitssystem stehen den Interessen der Pflegenden nach guten Löhnen und Arbeitsbedingungen und den Interessen der gesamten Arbeiterklasse nach einem für alle zugänglichen, öffentlichen und guten Gesundheitssystem direkt entgegen.
Die Pflegeinitiative vom SBK (Pflegeverband) von 2017 setzt an dieser prekären Situation an und fordert mehr Lohn, einen höheren Personalschlüssel, mehr Ausbildungsplätze, weniger bürokratischen Aufwand und mehr Kompetenzen für Pflegende. Diese Forderungen zeigen den Weg vorwärts. Allerdings stossen diese beim Spitalverband H+, den Spitalleitungen, die sich hinter dem Kostenargument verstecken und dem bürgerlichen Parlament auf taube Ohren: Ihr skandalöser Gegenvorschlag, der weder Lohn- noch sonstige Verbesserungen der Arbeitsbedingungen enthält, war ein Schlag ins Gesicht der Pflegenden. Einmal mehr zeigt es die wahren Interessen dieser Damen und Herren: Sie vertreten einzig und allein den Profit der Aktionäre und der Krankenkassenlobby. Die Forderungen nach anständigen Arbeitszeiten, guten Löhnen und einer massiven Personalaufstockung können nur im organisierten Kampf gegen sie erreicht werden!
Die Pflegeinitiative bietet dafür einen Ausgangspunkt. Bereits an der SBK-Konferenz vom 12. Mai haben die Pflegenden gezeigt, dass sie den Bürgerlichen die Stirn bieten: Bei einer Konsultativabstimmung sprachen sich über 80% gegen den Gegenvorschlag und für die Aufrechterhaltung der Pflegeinitiative aus. Unia Co-Pflege-Verantwortlicher Enrico Borelli sagt: «Der Druck der Pflegenden auf das Initiativkomitee ist gross. Die Pflegeinitiative wird höchstwahrscheinlich nicht zurückgezogen und kommt dann wohl im Spätherbst zur Volksabstimmung». Diese Perspektive bietet für die Pflege enormes Potential: Die Initiative muss genutzt werden, um die Forderungen in jedem Pflegebetrieb und Spital zu diskutieren und das Personal in Komitees für die Unterstützung und Verbreitung dieses Programms zu organisieren. Gleichzeitig dürfen wir keinerlei Vertrauen ins bürgerliche Parlament haben: Sie haben bereits in der grössten Pandemie gezeigt, dass ihnen Profit wichtiger ist als Menschenleben oder das Wohl der Pflegenden. Selbst bei Annahme der Initiative würden sie zusammen mit den Spitalleitungen jegliche Umsetzung in unserem Sinn umgehen und verhindern. Wir können in diesem Kampf nur auf unsere eigene Stärke – die der organisierten Lohnabhängigen – zählen!
Die Gesundheitsbranche ist historisch schlecht organisiert: Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad der fast 500’000 Angestellten liegt bei knapp 7%. Einschüchterungs- und Angstkultur und Spaltung zwischen Berufsgruppen grassieren. Die Gewerkschaften haben es jahrelang verpasst, eine Verankerung beim Gesundheitspersonal aufzubauen. Stattdessen stützen sie sich auf die Sozialpartnerschaft – also Direktverhandlungen mit den Bossen und Spitalleitungen hinter dem Rücken der Angestellten. Diese Methoden führten zu Atomisierung und individuellen Lösungen wie Kündigungen, Berufsausstieg etc. Ausserdem wird aktiv die Mär verbreitet, dass kämpferische Methoden in der Gesundheit die Berufsethik verletzen. Eine Pflegerin drückte es so aus: «Pflegenden wird eingeredet, sie würden ihren Auftrag verraten, wenn sie streiken würden. Sie würden das Wohl ihrer Patienten vernachlässigen. Diese Aussage ist gefährlich, denn sie appelliert einerseits an eine veraltete Berufsauffassung und untergräbt das eigentlich Entscheidende: Wenn der Sparzwang den Fachkräftemangel aufrechterhält oder gar verschärft, wird eine Vernachlässigung der Patienten eintreten».
In den letzten Jahren haben aber mehrere Arbeitskämpfe und Streiks gezeigt, dass Kampfmassnahmen möglich und notwendig sind; in den USA, in Grossbritannien, Österreich; den Notaufnahmen in Frankreich usw. und in den letzten Monaten in Deutschland; beim Streik-Ultimatum bei der Berliner Charité und dem Vivantes-Konzern und im Streik bei der Ameos-Gruppe. Auch in der Schweiz dringt der Frust der Pflegenden zunehmend an die Oberfläche. Nach dem Tag der Pflege am 12. Mai sehen wir nun erste Mobilisierungen in der Westschweiz. Am Unispital in Lausanne (CHUV) fand im Mai eine Generalversammlung von Hundertfünfzig Angestellten statt. Die Mehrheit beschloss einen eintägigen Streik auf den 23. Juni. Die Wut ist gross. Sie fordern mehr Personal, eine umfassende Corona-Prämie und mehr Lohn für gewisse Berufsgruppen.
Der Streikbeschluss ist ein erstes wichtiges Zeichen für den gesamten Gesundheitssektor. Zum einen zeigt es, dass die sich jahrelang angestaute Wut zunehmend umschlägt in Kampfbereitschaft, zum anderen ist das Vertrauen in das politische Establishment geschwächt. Statt auf eine zukünftige Umsetzung der Pflege-Initiative zu hoffen, beginnen die Pflegenden sich zu organisieren und direkt für diese Forderungen zu kämpfen!
Diese Erfahrungen müssen wir unbedingt verbreiten. In allen Spitälern und Pflegeeinrichtungen sollen Vollversammlungen organisiert werden, wo eigene Forderungen diskutiert und die eigene Streikfähigkeit geprüft werden. Es sollen Delegierte gewählt und an die CHUV-Versammlungen zur Vorbereitung des Streiks nach Lausanne geschickt werden. Der 23. Juni muss als Startschuss für eine längerfristige Organisierung in den Betrieben und überbetrieblich im gesamten Gesundheitssektor genutzt werden! Der Funke wird diesen Kampf mit vorantreiben mit einer Solidaritätskampagne (u.a. mit einer öffentlichen Online-Versammlung am 24.06.) und einem konsequenten Programm gegen die Krise im Gesundheitswesen und die Krise des Kapitalismus.
Klar ist: Die Krise im Gesundheitswesen geht weiter – weder die Spitalleitungen noch die bürgerlichen Parlamente ändern ihren Kurs. Und das in der grössten globalen Pandemie. Sie werden uns so lange auspressen, bis wir den gemeinsamen Kampf gegen sie organisieren. Wann, wenn nicht jetzt – wer, wenn nicht wir!
Olivia Eschmann
Vpod Bern
Bild 1 Bern: Tag der Pflege 12. Mai 2021, Quelle: Der Funke
Bild 2 Basel: Tag der Pflege 12. Mai 2021, Quelle: Der Funke
Bild 3 Basel: Tag der Pflege 12. Mai 2021, Quelle: Der Funke
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024