Die grossen Kampfbewegungen der letzten Zeit in Frankreich waren für viele Jugendliche und Lohnabhängige eine Quelle der Inspiration. Welche Perspektiven haben diese Bewegungen und wie hängen sie mit dem französischen Imperialismus zusammen?

Interview mit Jules Legendre, Genosse der französischen Sektion der IMT.

In Niger gab es vor kurzem einen Putsch: Eine anti-französische Regierung wurde eingesetzt. Welche Bedeutung hat dieses Ereignis für den französischen Imperialismus?

Der Prozess, der dazu geführt hat, was letzten Monat in Niger passiert ist, ist in Wirklichkeit der lange Niedergang des französischen Imperialismus seit den 1970er Jahren, der sich in den letzten zehn Jahren insbesondere wegen der Weltwirtschaftskrise und der stärkeren Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten beschleunigt hat. Es gibt neue imperialistische Mächte, die in grossem Stil auf den afrikanischen Kontinent gekommen sind, zum Beispiel China.

Ein Unternehmen, das eine der Säulen der sogenannten Françafrique – also des französischen Imperialismus auf dem afrikanischen Kontinent – gewesen ist, war das Unternehmen Bolloré, welches in den Bereichen der Eisenbahn, der Hafeninfrastruktur, aber auch der Kommunikation dominierte. Im vergangenen Jahr warf Bolloré das Handtuch und verkaufte alle seine Vermögenswerte in der Region. Der Grund dafür ist einfach: Es war für Bolloré nicht mehr möglich, mit den Deals, welche die chinesischen Unternehmen anboten, zu konkurrieren.

Seit den 1990er Jahren hat Frankreich auf internationaler Ebene nur noch Marktanteile verloren, und der wirtschaftliche Niedergang hat sich in den letzten zehn Jahren folglich beschleunigt. Irgendwann musste sich diese wirtschaftliche Schwächung zwangsläufig in einer politischen und militärischen Schwächung niederschlagen.

Hinzu kam, dass die direkte militärische Präsenz französischer Truppen in zahlreichen Ländern der Region, die von ihnen begangenen Verbrechen, die Armut und all die Folgen des Krieges die Wut auf den französischen Imperialismus ansteigen liessen. Diese Wut nahm schliesslich über Umwege die Form von Militärputschen an, bei denen ein Teil der Bourgeoisie das imperialistische Lager wechseln und sich an den Meistbietenden verkaufen wollte.

Der französische Imperialismus hat nicht mehr die Mittel, um alle seine Positionen, auch nicht die wirtschaftlichen, gegenüber dem chinesischen, amerikanischen und russischen Imperialismus zu halten. Das ist die Bedeutung dieses Putsches.

Das kennzeichnende Element ist, dass sich für die Bevölkerungen in der Region kurzfristig leider nicht viel ändern wird. Der chinesische oder russische Imperialismus wird nicht grosszügiger oder humanistischer sein als der französische.

Dennoch muss man das positive Element dieser gesunden Wut sehen, deren Potenzial erkennbar ist. Wenn es eine revolutionäre marxistische Organisation gegeben hätte, die den Massen in Niger, Mali oder Burkina Faso etwas anderes als den Wechsel des Bosses vorschlagen könnte, dann wären nicht die Russen an der Macht – das wäre potenziell der Funke der afrikanischen Revolution.

Welche Folgen hat die Schwächung des französischen Imperialismus für die Arbeiterklasse in Frankreich?

Erstens ist es eine Schwächung, die auch Auswirkungen auf den französischen Kapitalismus im Inland hat. Es ist kein Zufall, dass Bolloré, seit es seine Anteile in Afrika verkauft hat, massiv in die französischen Medien investiert und alle rechtsgerichteten Kandidaten unterstützt hat, die die drastischsten Sparprogramme, Kürzungen und alle antisozialen Programme vorantreiben.

Das ist ein etwas anekdotisches Element, aber es spiegelt wider, was die französische Bourgeoisie an Profit in Niger, Guinea oder anderswo verloren hat. Sie will diesen Profit zurückgewinnen und wird versuchen, dies auf dem Rücken der französischen Arbeiter zu tun, durch massive Einschnitte bei den Sozialleistungen und verstärkte Ausbeutung.

Darüber hinaus muss die Bourgeoisie ihren Militärapparat um jeden Preis stärken. Letztendlich wird dies von den Arbeitern bezahlt, die den Gürtel enger schnallen müssen, damit die französische Armee neue Panzer, Drohnen usw. bekommt.

Was wir sagen müssen, ist, dass alles, was den französischen Imperialismus auf internationaler Ebene schwächt, ihn auch auf nationaler Ebene schwächt. Je mehr sich der französische Imperialismus auf seine internationalen Positionen stützen kann, desto stärker ist er und desto mehr kann er die Arbeiter in Frankreich ausbeuten. Er kann sich auf die Dominanz und das Geld, das er von den Arbeitern im Ausland bezieht, stützen, um die französischen Arbeiter noch mehr auszubeuten.

Jede Niederlage unseres Imperialismus ist daher ein Sieg für uns, die französischen Arbeiter, und sollte als Gelegenheit gesehen werden, uns selbst zu beglückwünschen. Ein Sieg von Bolloré ist kein Sieg für uns.

In Frankreich haben die Massenbewegungen in letzter Zeit an Tempo und Umfang gewonnen, insbesondere die Bewegung gegen die Rentenreform und die Bewegungen nach dem Mord an Nahel (ein 17-jähriger Franko-Algerier) Ende Juni. Warum treten die Arbeiter in den Kampf?

Das zentrale Element ist eigentlich, dass die französische Bourgeoisie jahrelang vor Reformen zurückschreckte. Es ist nicht so, dass die französische Bourgeoisie besonders nett war, sondern dass sie Angst vor ihrer Arbeiterklasse hatte. Es hatte Mai 68 gegeben, den grossen Streik im Dezember 95, die Bewegung von 2006, usw.

Um ihre Profite zu erhalten, um zu versuchen, ihre Marktanteile zu retten, sieht sich die französische Bourgeoisie in der Krise gezwungen, diese Reformen umzusetzen – und zwar im Eiltempo. Ab seinem Amtsantritt hat Emmanuel Macron begonnen, dies in hoher Geschwindigkeit zu tun: Reformen der Renten, der Arbeitslosenversicherung, der staatlichen Eisenbahngesellschaft (SNCF), eine ganze Reihe von Privatisierungen, eine ganze Reihe von drastischen Angriffen auf die Arbeiterklasse.

Diese Angriffe haben als Reaktion eine Reihe von grossen Bewegungen hervorgerufen. Die Mobilisierung im Frühjahr markiert in dieser Hinsicht einen Schritt nach vorn. Es war eine Bewegung, die tiefer ging und viele Menschen über einen längeren Zeitraum mobilisierte als beispielsweise 2003 und 2010.

Es gab auch einen Unterschied in Bezug auf die Parolen, die im Vordergrund standen. Um es simpel auszudrücken: Die Frage eines Generalstreiks wurde viel deutlicher gestellt als in früheren Bewegungen, und zwar nicht nur von einigen vereinzelten Aktivisten, sondern von einer ganzen Reihe von Sektoren.

Die Rentenreform war eine sehr wichtige Lektion für Millionen von Menschen: Die völlig illusorischen Vorstellungen über den Charakter der bürgerlichen Demokratie wurden geprüft. Die Macron-Regierung ist in der Nationalversammlung eine Minderheit. Sie konnte das Gesetz nicht in einer Abstimmung durchsetzen. Sie musste nicht nur einen, sondern zwei Verfassungsartikel benutzen, um ihr Gesetz ohne Abstimmung durchzubringen. Dafür verhinderte sie letztlich jede Abstimmung in der Nationalversammlung mittels des Mechanismus im Artikels 49.3 der Verfassung.

Das ist ziemlich ernst für die französische Bourgeoisie und ihr Regime. Es bedeutet, dass die Elemente der demokratischen Legitimität ihres Regimes nach und nach zerbröckeln. Der Mord an Nahel hat dem einen weiteren Schlag versetzt, denn Polizeigewalt ist in Frankreich seit Jahren ein Dauerthema.

Die Vorstädte waren schon lange betroffen, aber mit den Gilets Jaunes im Jahr 2018 ist sie über die Vorstädte hinausgetreten. Während der Gelbwestenbewegung gab es Fälle von Polizeigewalt in grossem Stil mit erblindeten Menschen (durch Gummischrot), mit abgerissenen Händen und dergleichen.

Wir hatten Zehntausende von Menschen in Frankreich, die ein Opfer kannten, die diese Gewalt gesehen haben, die sie an ihrem Fleisch und in ihrer Familie gespürt haben. Und so hat sich in Bezug auf diese Frage etwas verändert. Die nachfolgenden Bewegungen haben die Frage der Polizeigewalt in den Vordergrund gestellt.

Unter diesem Gesichtspunkt ist der Mord an Nahel das Gleiche. Es ist ein weiterer Mord an einem Jugendlichen durch die Polizei, inmitten von mehreren Dutzend Morden an Jugendlichen durch Polizisten in den letzten Jahren. Aber es ist einer zu viel. Was es konkret widerspiegelt, ist eine Generation, welcher der Kapitalismus nichts zu bieten hat.

Das Problem ist, dass es nicht ausreicht zu sagen, dass die Wut legitim ist und dass man sie versteht. Man muss ihr eine organisierte Form geben. Da die Arbeiterführer nicht zu Massendemonstrationen aufgerufen haben, da sie die Arbeiterklasse als solche nicht zur Aktion aufgerufen haben, war diese Bewegung zwar intensiv, aber kurzlebig, wie ein Strohfeuer. Das liegt daran, dass die Jugend der Vorstädte allein nicht die Mittel hat, um den Kapitalismus oder auch nur die Regierung zu stürzen.

Solange es keine revolutionäre Führung mit einem marxistischen Programm gibt, die in der Lage ist, die Arbeiterklasse mitzunehmen und ihr eine Methode für den entschlossenen Kampf gegen das System vorzuschlagen, werden wir mit Sicherheit bestenfalls zeitweilige Siege erringen können. Ohne revolutionäre Organisation werden wir den Kapitalismus nicht besiegen können.

Jules Legendre, IMT Frankreich
14.09.2023