„Besorgte Bürger“ haben dieser Tage Hochkonjunktur. So postet PEGIDA beispielsweise auf Facebook „Eine Armlänge Distanz halten, schützt uns nicht vor sexuellen und sonstigen Übergriffen, eine Mittelmeerbreite dagegen schon“. Bürgerliche Politiker und liberale Blätter geben es kaum billiger. Sexismus und sexualisierte Gewalt ist dabei kaum das Thema, vielmehr geht es um „Leitkultur“ und Asylrecht. Reaktionäre unterschiedlicher Richtungen sind längst auf den Zug aufgesprungen und spielen sich als „Frauenbeschützer“ auf. Zur Erinnerung: Das sind vielfach die selben Menschen, die „Pograpschen“ völlig in Ordnung finden und gegen eine Finanzierung von Frauenhäusern eintreten.
Sexualisierte Gewalt ist kein Migranten-Privileg
Als Verweis für diese Heuchelei wird gerne das Müchner Oktoberfest angeführt, bei dem es jedes Jahr etliche Vergewaltigungen gibt, die aber zu keinerlei öffentlichen Debatte um Frauenrechte führen. Europaweit hat jede dritte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr schon einmal körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren. Jede dritte Frau hat schon einmal psychische Misshandlung in der Partnerschaft erlebt, 18 Prozent der befragten Frauen waren schon einmal Opfer von Stalking (Angaben aus einer Befragung der Europäischen Union für Grundrechte). Bei sexueller Gewalt handelt es sich in 80% der Fälle um einen der Frau bekannten Täter, bei sexueller Belästigung in etwa 60%.
Wo ist also hier der Aufschrei der besorgten „Frauenschützer“? Natürlich nicht existent. Jetzt schreien nur jene auf, die in jeder Frau mit Kopftuch eine geschlagene Frau sehen, während sie ihr Bier auf dem Hinterteil ihrer Freundin abstellen und davon Fotos ins Netz hochladen. Für Frauenrechte interessieren sie sich nur dann, wenn „Asylanten“ Frauen belästigen. Offenbar ist sexualisierte Gewalt in den Augen der neuen „Frauenschützer“ ein Vorrecht, das sie nur sich selbst zugestehen möchten.
Debatte unter Ausschluss der Opfer
Die rechten Kausalschlüsse sind faktisch falsch und politisch vordergründig. Aber auch das Gegenargument Oktoberfest ist problematisch. Versetzen wir uns einmal kurz in die Situation der Frauen, die zu Silvester Opfer von sexueller Gewalt wurden. Wenn sie eine Erklärung für das, was ihnen passiert ist, suchen, haben sie die Möglichkeit sich zwischen der Argumentation „die Asylanten sind schuld“ oder der Argumentation „da wird jetzt ein Drama um etwas gemacht, was auch am Oktoberfest passiert“ zu entscheiden. Beide Deutungen sind aus der Sicht der Opfer unbefriedigend.
Tatsache ist, dass den Betroffenen etwas sehr schlimmes angetan wurde, es aber in der ganzen losgetretenen Debatte nie um sie geht. Es wird nicht diskutiert, warum es möglich ist, dass Frauen mitten in einer Menschenmenge sexuelle Gewalt angetan wird, ohne dass irgendwer couragiert eingreift. Es wird nicht diskutiert, wie man den Opfern am besten helfen kann, um die Situation möglichst gut verarbeiten zu können. Schlussendlich werden nicht wenige selbstbewusste Frauen, die von einem Rudel-Mob überwältigt wurden, zum schwachen, generell von Männern schützenswerten Wesen erniedrigt. Und schon gar nicht wird diskutiert, wie eine Gesellschaft gestaltet sein müsste, damit sexuelle Gewalt weder im Öffentlichen noch im Privaten vorkommt. Die Gewalt, die die Frauen erleben mussten wird, stattdessen instrumentalisiert, um der latenten Debatte um Flüchtlinge einen rassistischen Spin zu geben. Dies hat rein gar nichts mit dem zu tun, was diesen Frauen angetan wurde. Und ist nebenbei erwähnt wahrscheinlich ohne jede faktische Grundlage.
Kölner Vorstadtbanden
Lokale AktivistInnen in Köln berichten, dass diese Übergriffe wohl das Werk polizeibekannter Kölner Vorstadtbanden waren und die Täter überwiegend in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Daher müsste vielleicht diskutiert werden, ob hier nicht bei sozial benachteiligten und ausgegrenzten jungen Menschen in manchen Kölner Stadtteilen etwas absolut schief gelaufen ist. Und ob nicht in erster Linie Arbeitslosigkeit, staatliche Kürzungspolitik sowie Mängel im Bildungssystem und in der sozialen Infrastruktur den Nährboden geschaffen haben, auf dem Jugendliche ohne Schulabschluss, Berufsausbildung und Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben zu Kleinkriminellen werden und aus dem Milieu schwer herauskommen. Ob dieser soziale Sprengstoff in den Ghettos am Rande der Millionenstadt Köln durch die Entwicklung einer Schicht von deklassierten Menschen nicht schon längst absehbar war und auch davor gewarnt wurde. So viele Fragen bleiben noch aufzuklären – darunter auch die Frage, ob diese massive Konzentration von kriminellen Elementen auf dem Bahnhofsvorplatz in der Silvesternacht spontan und zufällig oder nicht eher systematisch organisiert war. Schon Marx, Engels und Rosa Luxemburg sprachen vom „Lumpenproletariat“, also jener im Kapitalismus unvermeidlich entstehenden „passiven Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“, die sich „bereitwillig zu reaktionären Umtrieben erkaufen“ lasse. Es waren auch offenbar gekaufte lumpenproletarische Elemente, die im „Arabischen Frühling“ vor fünf Jahren in Kairo systematisch junge Frauen durch Übergriffe gewaltsam von der Mitwirkung an den revolutionären Massenprotesten gegen das Mubarak-Regime abzuhalten versuchten.
Ablenkung
Sowohl Sexismus als auch Rassismus sind hervorragende Instrumente der herrschenden Klasse, um die Arbeiterklasse zu spalten. Durch solche Instrumente wird verhindert, dass wir gemeinsam kämpfen. Indem sexuelle Belästigung und Gewalt von der Gesellschaft weitgehend toleriert werden, gibt man Männern, die in ihrer Arbeit ausgebeutet werden, die Möglichkeit sich zumindest gegenüber Frauen als „Chef“ aufzuspielen. Das gilt auch für den Rassismus. Wenn die ArbeiterInnen Flüchtenden die Schuld an ihrer misslichen Lage geben, können sich diejenigen, die sie eigentlich ausbeuten, gemütlich zurücklehnen.
Ein Nebeneffekt des medialen Echos auf die Kölner Silvesternacht liegt auch darin, dass die jüngste rechtsradikale Spirale von Terror und Gewalt gegen Flüchtlinge und linke AktivistInnen in den vergangenen Tagen weitgehend ausgeblendet wird. So stellen die nächtlichen Schüsse auf eine Flüchtlingsunterkunft in Dreieich (Hessen) am vergangenen Wochenende eine neue Qualität dar. Ebenso kommt der mit 17 Messerstichen verübte Mordanschlag von drei Faschisten in Wismar auf Julian K., Kreisvorstandsmitglied der Partei DIE LINKE und Sprecher der örtlichen Linksjugend [’solid], kaum in den Nachrichten vor.
Solidarität gilt allen Opfern
Die Konsequenz aus Köln muss sein, dass wir uns konsequent mit allen Opfern sexueller Gewalt solidarisieren und uns dabei nicht von rassistischen Argumentationen in die Irre leiten lassen. Absurde Verhaltenstipps, die den betroffenen Frauen unterschwellig oder offen eine Mitschuld an der Gewalt geben, weil sie sich auf eine bestimmte Art und Weise kleiden und auf andere Menschen zugehen, müssen wir strikt zurückweisen – ganz gleich, ob sie von der Kölner Oberbürgermeisterin, von dumpfen Deutschnationalen oder religiös motivierten Reaktionären in der Migrantenszene ausgehen. Als MarxistInnen müssen wir für eine Gesellschaft eintreten, in der sich Menschen egal welcher Herkunft ohne Rollenzwänge, Sexismus und sexuelle Gewalt frei entfalten können.
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