Der Referendumssieg zur Aufhebung des Abtreibungsverbot schnitzte eine weitere tiefe Kerbe in die Machtposition der katholischen Kirche von Irland. Die haushohe Annahme von 66% ist eine erneute Niederlage des Klerus. Doch hinter dem Resultat steckt noch mehr.

In Irland herrschte ein fast absolutes Abtreibungsverbot. Dank dem 8. Verfassungszusatz war das Leben jedes Fötus gleich viel wert wie das der Mutter – in der Realität oft mehr. Abtreibungen waren auch im Fall von Vergewaltigung, tödlichen Missbildungen des Fötus oder Lebensgefahr für die Mutter verboten.
Verboten waren sie aber nur auf der Insel, was dazu führte, dass seit der Einführung des Artikels über 150’000 Frauen nach England gereist sind, um dort abtreiben zu lassen. Im Durchschnitt zwölf pro Tag! Weitere zwei Frauen führten täglich selber eine medikamentöse Abtreibung durch. Dies setzte sie nicht nur der möglichen Strafe von 14 Jahren Haft aus, sondern auch dem risikoreichen Prozess der illegalen und unsicheren Beschaffung der Medikamente über das Internet.
Für diejenigen, welche sich die Reise nicht leisten konnten, prekär beschäftigt waren, sich keine Ferien nehmen konnten oder über keinen gültigen Reisepass verfügten, war ein sicherer Abbruch unmöglich. Anders sah das für gut betuchte Frauen aus. Abtreibung war also eine klare Klassenfrage.

Deutlicher ging nicht
Der Erfolg ist klar. Das Nein hatte nur bei über 65-Jährigen eine Mehrheit. In den städtischen Gebieten stimmten über 72% Ja (in Dublin sogar 79%). Sogar in der ländlichen, konservativen Region Connacht/Ulster wurde das Referendum mit klaren 62% angenommen.
Die höchste Zustimmung kam von der Jugend unter 25 Jahren (87%!). Laut der Irish Times zeigt das Resultat “eine stille aber schnelle Revolution in den sozialen Überzeugungen”. Es ist eine erneute Bestätigung dafür, dass die jahrzehntealte Vorherrschaft der Kirche langsam aber sicher gebrochen ist. Die Aufhebung des Abtreibungsverbotes ist der neuste Streich in einer Reihe von geschichtsträchtigen Ereignisse der letzten fünf Jahren. Einher mit der Abkehr von der Kirche geht eine zunehmende Infragestellung der bürgerlichen Ordnung.

Die nach der Aufhebung des Verfassungszusatzes vorgeschlagene Gesetzesvorlage entspricht in etwa der Schweizer Grundlage der “Fristenregelung”. Eine solche wurde hier übrigens auch erst 2002 eingeführt!

Diktatorisches Dogma
Die katholische Kirche war für lange Zeit ein Hauptpfeiler der bürgerlichen Ordnung. In den 30er-Jahren, nach der Unabhängigkeit und dem Bürgerkrieg, war der katholische Glauben der Kitt des neuen Regimes. Der Zorn Gottes diente als Moralkeule zur Disziplinierung der ganzen Bevölkerung.  Effizient war er zum einen gegen den sozialistischen Teil der Unabhängigkeitsbewegung aber auch die Frauen litten grausam darunter. So wurden Scheidungen erst 1995 legalisiert.
Diese Herrschaft verlor in den letzten 30 Jahren rapide an Macht. Wöchentliche Messebesuche haben zwischen 1990 und 2006 von 81% auf 48% abgenommen. Der 2009 publizierte Ryand-Bericht hämmerte einen weiteren Nagel in den Sarg des Vertrauens in die Kirche. Er belegte systematische Misshandlungen, Vergewaltigungen und psychischen Terror gegen Kinder in den Institutionen der katholischen Kirche. Dieses Terrorregime hatte seit 1936 bestand und wurde seither durch den Staat gedeckt.

Die Krise löst etwas aus
Irlands Volkswirtschaft war beim Ausbruch der Krise 2007-8 als erste in die Rezession abgerutscht. Die Staatsschulden sprangen auf 125% des BIP. Die Regierung setzte ein drastisches Kürzungsprogramm durch. Nur schon die Ausgaben für Dienstleistungen für Frauen wurden um 49% gekürzt. Im Zuge eines Rettungspakets vom IWF für den irischen Staat, wurde eine Steuer auf den privaten Wasserkonsum eingeführt. Ab 2014 formierte sich ein enormer Protest mit Demonstrationen von hundertausenden. 2016 erreichten die Einnahmen aus der Steuer gerade mal 24% des Ziels, weil sie vom Grossteil der Bevölkerung boykottiert wurde. Deshalb wurde sie 2017 wieder zurückgenommen.
In diese Periode fällt auch die letzte historische Niederlage der Kirche. 2015 erreichte die Zustimmung zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe 62% (84% bei den Jugendlichen). Ein Jahr später, bei den Wahlen, erhielten alle Regimeparteien eine klare Abfuhr. Nach einem Jahrzehnt der bürgerlichen Krisenpolitik fiel die Zustimmung der beiden wichtigsten bürgerlichen Parteien auf unter 50% – das erste Mal seit der Staatsgründung!
Die Erfahrungen seit dem Ausbruch der Krise führen dazu, dass die irische ArbeiterInnenklasse beginnt, das gesamte Regime, mitsamt dem ideologischen Pfeiler der Kirche, in Frage zu stellen. Wir sind ZeitzeugInnen einer neuen Periode.

Caspar Oertli
JUSO Stadt Zürich

 

Bild: Savita Halappanavar’s Tod 2012 offenbarte die Barbarei von Irlands Abtreibungsverbot /  Image: William Murphy