Immer öfter wird die Prostitution positiv als «Sexarbeit» charakterisiert – auch in der Linken. Doch die Realität der Prostituierten ist durchzogen von Gewalt und Alternativlosigkeit. Wie können wir die Prostitution nachhaltig bekämpfen, ohne den Prostituierten selber zu schaden?
Dass die Prostitution der brutalste Ausdruck der Frauenunterdrückung ist und dass ihre gesellschaftliche Grundlage bekämpft werden muss, war früher in der Linken und den Arbeiterparteien selbstverständlich. Heute haben immer mehr TheoretikerInnen, akademische Kreise und auch linke Organisationen begonnen, die Prostitution unter dem Begriff der «Sexarbeit» einer positiven Neubewertung zu unterziehen.
Laut dieser Neubewertung wäre die Prostitution «ein Job wie jeder andere» oder sogar ein emanzipatorischer und progressiver Akt. Wer das Prostitutionsgewerbe kritisiert, würde die Prostituierten bevormunden und in eine Opferrolle zwängen, sei prüde oder konservativ. Doch die «Prostituierten», die an Talkshows eingeladen werden, um diese Ansichten zu verteidigen, sind Frauen, die in den reichen kapitalistischen Ländern geboren wurden, mehr als zehnmal so viel verdienen wie durchschnittliche Prostituierte und meist selber Zuhälterinnen sind.
So hat das Zürcher Kulturlokal Kosmos letztes Jahr einen Event organisiert, bei dem Prostituierte zu Wort kommen sollten. Eine ehemalige Prostituierte meldete sich nach dem offiziellen Event aus dem Publikum: «Ich habe meine Tätigkeit nie als Arbeit empfunden. Es war immer, ausnahmslos, eine bezahlte Vergewaltigung, ein bezahlter Missbrauch». Die Antwort der vom Kosmos als «Sexarbeiterin» eingeladenen Bordellchefin: Die Frau rede «aus einer akuten Opferhaltung» und «wenn jemand so ein Opfer ist wie Sie, dann wird das wahrscheinlich auch Täter anziehen».
Wie sieht die Realität der Prostituierten hinter den romantisieren Bildern von Filmen und Serien und hinter den feurigen «feministischen» Reden dieser Neubewertung aus? Wie Friedrich Engels im «Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats» erklärt, entstand die Prostitution historisch zusammen mit der Unterwerfung der Frau. Sie ist der notwendige Gegenpol zur monogamen Kleinfamilie und zur Weiterführung der sexuellen Freiheit zugunsten der Männer und auf Kosten der Frauen. Sie ist das brutalste Gesicht der Unterwerfung der Frau und der Fremdbestimmung über ihren Körper und ihre Sexualität. Die Prostitution ist ein Phänomen, das der Entstehung der Klassengesellschaften entsprungen ist. Sie hat einen sklavenähnlichen Charakter, denn Prostituierte verkaufen ihren Körper, und nicht ihre Arbeitskraft, wie es gewöhnliche Lohnabhängige im Kapitalismus tun.
Deutschland und die Schweiz sind zentrale Drehscheiben des Prostitutionsgewerbes und des Menschenhandels. 95% der Prostituierten, die in der Schweiz anschaffen, sind Migrantinnen, meist aus Rumänien (davon viele Roma Frauen), Bulgarien und Ungarn. Viele sind direkte Opfer von Menschenhandel. Laut dem Berner Polizeiinspektorat stehen 30-50% unter «offensichtlichem Zwang». Die anderen 50%-70% sind gefangen in familiären und patriarchalen Netzwerken der Erpressung und der Abhängigkeit. Viele werden von ihren eigenen Freunden verschleppt und haben Kinder in Osteuropa, die direkt abhängig sind von den Zuhältern und ihren Familien. Fast alle anderen wurden durch die Armut und die Alternativlosigkeit in die Prostitution getrieben. Laut einer internationalen Studie unter der Führung von Melissa Farley sagen 89% aller Prostituierten offen, dass sie aussteigen wollen, aber keine anderen Überlebensmöglichkeiten hatten.
Alleine in Deutschland (das bzgl. Prostitution vergleichbar ist mit der Schweiz) sind 75% aller Prostituierten betroffen von Obdachlosigkeit, 71% wurden in der Prostitution körperlich bedroht, 63% wurden vergewaltigt, 50% wurden öfter als fünf Mal vergewaltigt. Die allermeisten Prostituierten müssen Drogen nehmen, um ihren «Job wie jeden anderen» zu ertragen. 68% der befragten Personen erfüllen die Kriterien für PTSD (Post Traumatische Stress Störung). Die Schlussfolgerung der Studie : «Unsere Ergebnisse widersprechen den gängigen Mythen über Prostitution: […] dass die Mehrheit der sich Prostituierenden dies aus eigenem Einverständnis mache, […] dass Prostitution sich qualitativ vom Menschenhandel unterscheide und dass Legalisierung oder Entkriminalisierung der Prostitution ihre Schädlichkeit verringen würde.»
Für uns MarxistInnen ist die Prostitution also alles andere als progressiv. Keiner Prostituierten ist geholfen, wenn die Prostitution unter dem Namen «Sexarbeit» normalisiert, schöngeredet oder ihr sogar ein emanzipatorischer Charakter zugeschrieben wird. Die Neubewertung ändert nichts an den Bedingungen oder der gesellschaftlichen Stellung der Prostituierten.
Wir kämpfen für die Abschaffung der Prostitution, aber keineswegs gegen die Prostituierten – sie haben unsere volle Solidarität! Der Kampf für eine Gesellschaft ohne Prostitution muss Hand in Hand gehen mit dem Kampf für den Schutz und die Entstigmatisierung der Prostituierten. Auch wenn die Prostitution aus ehemaligen Klassengesellschaften stammt, ist sie ein zentraler Bestandteil der heutigen kapitalistischen Klassengesellschaft. Sie ist ein notwendiger Ausdruck der Unterwerfung, Objektivierung und Sexualisierung der Frau, die vom Kapitalismus aufrechterhalten und befeuert wird. Die Bordellbesitzer, Zuhälter und mit ihnen verbundene Kapitalisten wie Hotels, Bars, Clubs etc. steichen massive Profite ein. Der bürgerliche Staat – besonders auch in der Schweiz – schützt das Prostitutionsgewerbe und die damit verbundenen Menschenhandels-Netzwerke. Politiker, Staatsanwälte und Diplomaten gehören zu den regelmässigen Freiern. Sie alle haben ein Interesse darin, den oben genannten Revisionismus der «Sexarbeit» zu unterstützen und zu finanzieren und sich dabei selbst als besonders liberal, feministisch und «empowering» darzustellen.
Wir stellen uns entschieden gegen diese Heuchelei und gegen die Romantisierung von Unterdrückung und Menschenhandel. Unser Kampf muss dreierlei sein:
Erstens Kämpfen wir für die Entkriminalisierung und die Entstigmatisierung der Prostituierten. Wir kämpfen für niederschwellige Anlaufstellen für alle Prostituierten, für medizinische und psychologische Dienste für alle Menschen, und zwar gratis und unbürokratisch, bezahlt von den Kapitalisten und Profiteuren. Für den Ausbau von Frauenhäusern und Präventionsstellen. Für niederschwellige und nachhaltige Ausstiegsmöglichkeiten. Für sozialen Wohnraum, anständige Arbeit und bedingungsloses Bleiberecht für alle. Wir unterstützen Prostituierte in allen Kämpfen, die von den Prostituierten selber geführt werden.
Zweitens fordern wir das die Bestrafung aller Profiteure, Ausbeuter, Bordellbesitzer, Zuhälter, des Menschenhandels. Wir haben aber keine Illusionen in das «nordische Modell»: Die Freierbestrafung alleine löst noch keine Probleme – wir müssen die materiellen Bedingungen bekämpfen, die die Prostitution zu einer Notwendigkeit machen. Erst wenn alle Betroffenen Bleiberecht, eine bezahlbare Wohnung und einen anständigen Job haben, erst, wenn alle materiellen Zwänge überwunden sind, wird die Prostitution absterben. Erst wenn die Unterdrückung der Frau, die Fremdbestimmung über unsere Körper und unsere Sexualität überwunden ist, kann die Prostitution nachhaltig ausgerottet werden.
Drittens kämpfen wir in der Arbeiterbewegung und ihren Organisationen gegen Sexismus und gegen Inanspruchnahme von Prostitution. Es braucht Aufklärung in den Reihen der Arbeiterbewegung. Es muss Klarheit geschaffen werden, dass Prostitution Ausdruck der Frauenunterdrückung ist. Das setzt aber vor allem auch voraus, mit einem marxistischen Verständnis gegen die positive Neubewertung der Prostitution zu kämpfen.
Doch alle diese Forderungen nach unmittelbaren Verbesserungen für die Prostituierten und alle Unterdrückte stossen an die Grenzen des Systems, denn sie alle stehen im Gegensatz zur kapitalistischen Profitlogik. Um diese Forderungen umzusetzen und um die gesellschaftliche Grundlage der Prostitution zu zerstören müssen wir die Klassengesellschaft als solche überwinden und den Kapitalismus stürzen.
Vita R., JUSO Genf
06.09.2021
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