In Israel häufen sich Demonstrationen und Streiks. Die Klassengegensätze treten deutlicher zutage und spalten die Bourgeoisie. Um ihre herrschende Stellung zu sichern, greift sie auf ihr bevorzugtes Mittel zurück: Spaltung entlang der Palästina-Frage.

Die israelische Regierung unter Ministerpräsident Netanjahu (genannt Bibi) plant die Annexion grosser Teile des Westjordanlands. Rund 200 Siedlungen, die Israel in dem seit 1967 von ihnen besetzten palästinensischen Gebiet gebaut hat, sollen zu Staatsterritorium gemacht werden. Die definitive Ausarbeitung ist noch nicht bekannt. Je nach Plan könnte Israel unterschiedlich grosse Teile des Westjordanlands annektieren. Palästina dafür einen eigenen Staat erhalten. Fest steht, dass die herrschende Klasse die Konfrontation auf ein neues Niveau hebt, indem sie nicht nur Siedlungen bauen lässt, sondern diese zu Staatsgebiet machen will.

Die Angst vor den eigenen ArbeiterInnen

Netanjahu verfolgt mit dieser Eskalation klare politische Ziele: Er will die reaktionärsten Schichten der Gesellschaft hinter sich vereinen und die sich aufbäumende ArbeiterInnenklasse spalten. Seit Wochen demonstrieren im ganzen Land regelmässig tausende Israelis gegen die Regierung, in den grossen Städten finden die Massenproteste nun beinahe täglich statt. Diese kurzsichtige Strategie der Eskalation schafft der Regierung langfristig mehr Probleme. Sie befeuert damit zusätzlich die aufbrechenden Klassenkonflikte.

Die Wirtschaftskrise schlägt ein

Die Unzufriedenheit ist nicht neu. In den letzten Jahren kam es immer wieder zu Protesten in Israel: gegen die horrend steigenden Mieten, die überteuerten Lebensmittel, die Korruption der Regierung und neu auch gegen die Siedlungspolitik Israels. Der Ausbruch der Wirtschaftskrise, ausgelöst durch Corona, hat die soziale Situation noch einmal dramatisch verschlechtert: Über 20% Arbeitslosigkeit (vgl. 2019: 3.9%) und doppelt so viele Unternehmenskonkurse wie zum gleichen Zeitpunkt letzten Jahres zeichnen ein deutliches Bild. Um die Profite zu retten, hat die herrschende Klasse viel zu rasch und völlig unkoordiniert die Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie gelockert. Die Konsequenz: Nach einer scheinbar souverän gemeisterten ersten Welle, hat die zweite Welle Israel voll erwischt. Mit dem Rekordwert von über 2000 Neuinfektionen pro Tag und insgesamt über 65’000 Ansteckungen, hat die Regierung den Zorn der Mehrheit der Bevölkerung auf sich gezogen. 75% der Israelis sind wütend über die Corona-Politik der Regierung. Die Zuspitzung der sozialen und gesundheitlichen Situation hat die Häufigkeit und die Intensität der Proteste massiv gesteigert.

Zu den Massenprotesten kommen Arbeitskämpfe hinzu. Im Juli streikten  SozialarbeiterInnen und PflegerInnen. Die Krise hat aber nicht nur die ArbeiterInnen und die Ärmsten in den Kampf getrieben. Neu beteiligt sich auch eine ganze Schicht an Selbstständigen an den Protesten und fordert den Rücktritt des Präsidenten. Netanjahu hat sogar Teile des Kleinbürgertums gegen sich aufgebracht. Es braut sich seit Monaten ein perfekter Sturm zusammen über der israelischen Bourgeoisie.

Spaltung in der herrschenden Klasse

Unter dem Druck der Massen öffnen sich Konflikte innerhalb der Bourgeoisie entlang der Frage, wie das System am besten zu retten sei. Netanjahu steht zurzeit aufgrund mehrerer Korruptionsskandale vor Gericht. Ein Teil der Bourgeoisie strebt augenscheinlich eine Wachablösung an der Spitze an. Auf politischer Ebene musste Netanjahu, trotz drei Neuwahlen im letzten Jahr, auf eine breite Koalition zurückgreifen um eine “Notstandsregierung” zu bilden. Teil davon ist auch sein einstiger Erzrivale Benny Gantz, der mit dem erklärten Ziel antrat, Netanjahu von der Macht verdrängen zu wollen. Jetzt ist er Verteidigungsminister und verantwortlich für die Umsetzung der Annexionspläne. Die herrschende Klasse ist einzig in ihrem Ziel geeint, die ArbeiterInnenklasse zu spalten und damit ihre Macht als Klasse zu erhalten. 

Die Regimekrise ist eine Konsequenz der aufbrechenden Klassenwidersprüche. Die neue Regierung ist im Interesse der herrschenden Klasse gezwungen, immer radikaler gegen die palästinensische Bevölkerung vorzugehen. Sie glaubt, dadurch die sich zuspitzenden Klassenkonflikte dämpfen zu können. Doch sie verliert damit nur weiter den Boden unter den Füssen. Die Klassenpolarisierung wird in der nächsten Zeit weiter dramatisch zunehmen, da die Krise noch lange nicht überwunden ist und die wirtschaftliche Situation sich weiter verschlechtern wird. Und ihre einzige effektive Waffe, die Spaltung der ArbeiterInnen an der Palästina-Frage, wird immer weniger effektiv. Das beweisen auch die zunehmenden Demonstrationen in Solidarität mit den PalästinenserInnen. 

Zwei Staaten geben noch keine Lösung

Auch für die palästinensischen ArbeiterInnen ist ein Staat Palästina nicht die Lösung ihrer Probleme. Ein formal unabhängiges Palästina bliebe unter den herrschenden Umständen ökonomisch und geografisch komplett abhängig von Israel. Die palästinensische Wirtschaft wäre den israelischen Zöllnern weiter schutzlos ausgeliefert. Der israelische Imperialismus wird diese Abhängigkeit immer zynisch auszunutzen wissen. Was den PalästinenserInnen heute aufgezwungen werden soll, ist das Gegenteil eines unabhängigen, selbständigen Staates. Diese Lösung ist für sie keine Befreiung und darum inakzeptabel.

Die herrschende Klasse ist einzig in ihrem Ziel geeint, die Arbeiterklasse zu spalten und damit ihre Macht als Klasse zu erhalten.

Die palästinensische Führung hat sich dabei selber in eine Sackgasse manövriert. Mit dem Abschluss der Osloer Abkommen wollten sie der palästinensischen Bevölkerung weismachen, dass eine 2-Staaten-Lösung Unabhängigkeit mit sich bringe – eine Lüge. Hamas und Fatah haben nie im Interesse der ArbeiterInnen Palästinas gehandelt. Einen Bruch mit dem Kapitalismus haben sie nie angestrebt. Bei der Überwachung der palästinensischen Bevölkerung arbeiten sie mit dem israelischen Staat zusammen und die Bewegungen der PalästinenserInnen der letzten Jahren haben sie aktiv sabotiert. Sie spielen das Spiel der herrschenden Klasse, mit deren sie kollaboriert, um ihre eigenen Privilegien zu sichern. Nun stehen sie mit dem Rücken zur (palästinensischen) Wand, denn die palästinensischen Massen fordern echte Unabhängigkeit. Und vor ihnen ist die israelische Regierung auf dem Vormarsch. Die Annexionen werden unweigerlich zu einer erneuten Konfrontation führen – die palästinensische Führung könnte dabei aufgerieben werden. Die herrschende Klasse Israels sägt damit am Ast auf dem sie sitzen, denn dann eskaliert die Situation in Palästina.

Einheit der Klasse der ganzen Region

Das Pulverfass Israel und Palästina wurde durch den Ausbruch der Krise noch einmal explosiver. Doch kein anderer Staat, keine andere Bourgeoisie wird weder der palästinensischen, noch der israelischen ArbeiterInnenklasse zu Hilfe kommen. Ihre Hoffnung liegt in der Kraft der ArbeiterInnen der gesamten Region. Ihr Potenzial hat sie in den letzten Monaten auf beeindruckende Art und Weise zur Schau gestellt. Seien es die Proteste im Irak, im Iran oder die vorrevolutionäre Situation im Libanon, wo schlagartig die traditionellen religiösen Vorurteile überwunden wurden und ein Drittel des Landes gemeinsam auf der Strasse stand. Darin ruht die Hoffnung der ArbeiterInnen des nahen Ostens. Um die allerorts aufbrechenden Klassenkämpfe zum Erfolg zu führen, muss der Funke über die künstlichen Landesgrenzen überspringen.

Bild: derfunke.de

Edit: 20.8.20 – eine frühere Version war unklar bezüglich der Zugehörigkeit von Ost-Jerusalem, das seit 1967 von Israel besetzt ist.