Schriftliches Interview der Funke-Redaktion mit Franco Cavalli, dem ehemaligen Nationalrat und Fraktionspräsidenten der SP zu den Aufgaben der Linken.


Was sind deiner Meinung nach die Hauptursachen für die heutige Euro-Krise?

Im Hintergrund ist natürlich die seit längerer Zeit schwelende kapitalistische Krise, die sich aufgrund des Scheiterns der neo-liberalen Rezepte seit 2008 zugespitzt hat. Insbesondere die Umverteilung nach oben, mit der Begrenzung der Löhne der Lohnabhängigen und der Explosion der Profite, haben einerseits eine klassische Überproduktionskrise, anderseits eine Finanzblase hervorgerufen. Zudem gibt es spezifische Gründe für die Eurokrise: die Hunderte von Milliarden, die man eingesetzt hat, um die europäischen Banken zu retten, aber auch die Spätfolgen der Maastricht-Verträge und der Bedingungen unter denen der Euro eingeführt wurde. Zum letzteren: alles wurde zugunsten der stärkeren Nationen in der Eurozone und zum Nachteil der schwächeren geplant. Jetzt zahlen diese letzten die Zeche. Deutschland, Frankreich & Co. hatten aber nicht damit gerechnet, dass das ganze so aus dem Rudern geraten könnte; dass auch sie (insbesondere ihre Banken!) mitgezogen werden könnten.

Inwiefern wird sich diese zu einer Weltwirtschaftskrise ausdehnen?

Die Weltwirtschaft befindet sich zurzeit in einem labilen Gleichgewicht zwischen Wiederverschlechterung der Krise und leichter Erholung. Sehr viel hängt davon ab, was in den BRICS-Ländern passiert, wobei die chinesische Lokomotive bis jetzt nur ein bisschen gebremst hat, während sich in Indien zurzeit die Lage relativ rapide verschlechtert. Sollte sich die europäische Krise stark zuspitzen, dann würde wahrscheinlich auch die USA-Wirtschaft wieder in eine Rezession kommen. Der abtretende Geschäftsführer der Deutschen Bank J. Ackermann sagte kürzlich in der NZZ (9.6.2012): „Im Jahr 2008 standen wir kurz vor der Kernschmelze“. Der Kapitalismus ist damals noch einmal davon gekommen: aber vielleicht wird das nächste Mal alles anders verlaufen.

Wie beurteilst du das Verhalten der europäischen Linken? Welches Programm muss die europäische Linke dem Sparprogramm der EU, EZB, IWF entgegenhalten?

Die europäische Linke macht dabei eine sehr magere Figur. Ein Teil dieser Linken (typisch für die Schweiz ist die Haltung von NR H.J. Fehr) glaubt immer noch, dass die EU ein „sozialdemokratisches Projekt“ sei und hat noch nicht kapiert, dass es ein reines neo-liberales Gefüge und entsprechendes Ausbeutungssystem geworden ist. Im Grossen und Ganzen scheint aber die Linke v.a. machtlos zu sein. V.a. weil sie völlig unfähig ist ein anderes Programm als Alternative vorzuschlagen. Der einzige der bislang etwas Nützliches (trotz aller möglichen Schwächen) vorgeschlagen hat, ist der neue Französische Präsident Hollande mit seinem Insistieren auf Wachstum. Peinlich ist die Situation der Deutschen SPD: Während Bundeskanzlerin Merkel die europäischen Südstaaten in die Knien zwingt, windet sich die SPD in einem nicht zu ertragenden Bla-bla. Dies alles erinnert mich an den historischen Verrat der SPD von 1914, als sie mit einer Kehrwende die Kriegsausgaben Deutschlands billigte. Einiges an Bewegung stellt man bei den Gewerkschaften fest: Wir sind aber von einer unitären, koherenten Antwort der europäischen Linken und der europäischen Gewerkschaften noch weit weg, leider …

Vor allem in der Industrie spüren die Lohnabhängigen auch in der Schweiz bereits den Druck der Krise; von der Kurzarbeit, über Arbeitszeitverlängerung, Eurolöhnen bis hin zu den ersten Massenentlassungen. Gleichzeitig treiben die Bürgerlichen den Sozialabbau munter voran. Die Gewerkschaften versuchen wo möglich, Widerstand zu organisieren. Wie schafft es die Arbeiterbewegung aus dem momentanen Defensivkampf in die Offensive zu gehen?

Ich habe sicher kein fixfertiges Rezept; das hat wohl auch niemand. Ich glaube, dass man zuerst einmal vom Defensivkampf in die Offensive gehen wollen muss. Das setzt voraus, dass man versteht, dass mit der jetzigen Krise das Ende des Kapitalismus deutlich näher gerückt ist. Es hat deswegen immer weniger Sinn langfristige Lösungen innerhalb dieses Systems suchen zu wollen. Aber dafür braucht die Arbeiterbewegung die Hilfe der Intellektuellen: sowohl Lenin wie auch Gramsci haben immer wieder unterstrichen, dass ohne diese Hilfe die Arbeiterbewegung richtungslos zu bleiben riskiert. Im Grossen und Ganzen haben sich die Intellektuelle auch in der Schweiz, in den letzten 20 Jahren, abgesehen von wenigen lobenswerten Ausnahmen (z.B. Peter Bichsel) dem System angepasst. Wir brauchen also sozusagen zuerst einmal eine Art „kulturelle Revolution“, wobei die Studentenbewegung eine wichtige Rolle spielen könnte. Der neue Staatssekretär Dell’Ambrogio spricht ja von der Notwendigkeit die Universitätsgebühren stark zu erhöhen. Ist dies der Weckruf für die Studentenbewegung?

Europa sieht sich mit einer neuer Realität konfrontiert: der Lebensstandard von Millionen von Menschen verschlechtert sich drastisch. Auch in der Schweiz wird diese neue Epoche spürbar sein. Wird in der SPS der Ernst der Lage erkannt? Wenn ja, in welchen Fragen und von wem? Welches sind die Schlüsse, die gezogen werden?

Einmal mehr müssen wir zwischen SP-Basis und -Führung unterscheiden. In der SP-Basis habe ich schon den Eindruck, dass man zunehmend den Ernst der Lage wahrnimmt. Bezeichnend war auch die Tatsache, dass die Basis am letzten Parteitag in Lausanne deutlich an der „Überwindung des Kapitalismus“ festgehalten hat. Ganz anders ist die Lage in der SP-Führung: die Bundeshausfraktion ist deutlich nach rechts gerutscht, wie die Wahl von Tschümperlin zum neune Fraktionschef bewiesen hat. Die SP-Leitung ist wischi-waschi: braucht einen linken Jargon, ist aber viel zu oft bereit alle möglichen Kompromisse einzugehen. Und zudem vergisst man immer wieder die hochgelobten demokratischen Prinzipien: der Parteitag hatte entschieden, dass zwischen eidgenössischen Wahlen und Bundesratswahlen ein ausserordentlicher Parteitag hätte stattfinden sollen, um über die Teilnahme am Bundesrat zu entscheiden. Leider wurde dieser Entscheid „vergessen“…

Die Zeiten, in denen der Arbeiterbewegung grosse Zugeständnisse gemacht werden konnten, sind auch in der Schweiz vorbei. Zunehmend wird vom „Klassenkampf von oben“ gesprochen. Hat die Sozialpartnerschaft hier noch seine Berechtigung?

Einen Klassenkampf von oben gibt es in der Schweiz schon seit mindestens 20 Jahren und Zugeständnisse an die Arbeiterbewegung sind kaum noch welche gemacht worden: selbst im Falle der sogenannten Begleitmassnahmen zur Personenfreizügigkeit war der Vorteil ganz klar auf der Seite der Arbeitgeber. Wer heute von einer noch existierenden Sozialpartnerschaft spricht, weiss nicht wovon er spricht, oder er lügt.

Die Regierungsbeteiligung der SPS ist wohl der höchste und umstrittenste Ausdruck dieser Zusammenarbeit mit den Bürgerlichen. Wie stehst du zu ihr? Was nützt uns ein sozialdemokratischer Bundesrat?

Ich habe in der SP immer die sogenannte Politik des „doppelten Geleises“ propagiert: d.h. auf der einen Seite sollten wir, wenn dies für die untere Bevölkerungsschichten von Vorteil ist, im Bundesrat vertreten sein, anderseits sollte aber die SP die Führung der sozialen Oppositionsbewegung übernehmen. In den letzten Jahren ist die SP aber kaum fähig gewesen dies zu tun; wenn schon, auch wenn in einem politisch völlig umgekehrten Sinn, hat die SVP eine solche „Politik des doppelten Geleises“ erfolgreich angewandt. Ich glaube, dass mit dem Austritt von Ruth Dreifuss aus dem Bundesrat die Periode, in der ein sozialdemokratischer Bundesrat für die Schweizer Lohnabhängigen noch Vorteile bringen konnte, zu ende gegangen ist. Schauen wir uns die jetzige Lage an: Simonetta Sommaruga hat gegen mehr Ferien für Lohnabhängige gekämpft, A. Berset unterstützt die Projekte der Krankenkassen mit Managed Care, und dies sind nur zwei von den vielen möglichen Beispielen.

Seit dem letzten Kongress und der Debatte um das Parteiprogramm haben sich die internen Konflikte zwischen der Parteirechten und der -linken zugespitzt. Welches sind hier die zentralen Fragen?

Es ist v.a. die Parteirechte, die bei der kleinsten „Gefahr eines Linksrutsches“ massiv und häufig mit antidemokratischen Mitteln zurückschlägt. Das war schon zu meinen Zeiten als SP-Fraktionschef so: sie haben mir während zwei Jahren mit einem täglichen Guerillakrieg das Leben unmöglich gemacht, bis ich aufgeben musste. Ich sehe v.a. zwei zentrale Fragen in der Auseinandersetzung. Die erste, die auch mit der Parteistruktur und mit dem Funktionieren der SP zu tun hat, ist die Frage der Regierungsbeteiligung bzw. der Bedingungen „unter welchen eine solche Beteiligung noch stattfinden kann“. Das Minimalziel der Linken ist es, zu erreichen, dass bevor man eine/n Kandidaten/in für den Bundesrat oder für kantonale Regierungen aufstellt, diese/r sich schriftlich verpflichten muss dem SP-Parteiprogramm zu folgen. Zu viele SP-VertreterInnen im Bundesrat und in den kantonalen Regierungen foutieren sich über das Parteiprogramm. Bei der zweiten Hautfrage geht es v.a. um die Analyse der Schweizer Gesellschaft und die Folgen, die man daraus ziehen will: wollen wir uns weiterhin mit irgendwelchen postmodernen Beliebigkeiten amüsieren oder kehren wir endlich zu einer klassenbezogenen Analyse der Schweizer Gesellschaft zurück? Bzw. was sollen wir tun, damit der Klassenkampf nicht mehr von oben, sondern wieder von unten stattfindet?

Wie organisiert sich die Linke in der SPS? Welche Rolle spielt die JUSO dabei; welche Rolle kann sie spielen?

In den letzten 15 Jahren hat es ein paar Versuche gegeben die Linke in der SPS zu organisieren: diese Versuche sind immer wieder gescheitert, v.a. weil einige der führenden Köpfe sich aus opportunistischen Gründen „aus dem Staub“ gemacht haben… wenn sie auf den Bundesrats- oder Regierungsratsgeschmack kommen, verlieren einige „Genossen“ recht bald den Kopf… Ich bin deswegen überzeugt, dass die Rolle der JUSO von entscheidend ist: schon am Parteitag in Lausanne haben sie den Kampf der Linke erfolgreich geführt. In der SP gibt es sicher viele, v.a. unter den älteren GenossInnen, die sich dann um die JUSO werden scharen können, wie es in Lausanne der Fall gewesen ist. Es ist aber wichtig, dass man nicht den Eindruck erweckt, es handle sich nur um einen Kampf der Dinosaurier. Leider fehlt der SP-Linke mindestens eine Generatio. Gerade deswegen ist die Rolle der JUSOs so entscheidend.

Welche sind die zentralen programmatischen Punkte, die sich die SP in Zukunft auf die Fahne schreiben muss? Welche gesellschaftliche Rolle muss sie spielen?

Im konservativen Kanton St. Gallen hat Paul Rechsteiner bei den letzten Ständeratswahlen die Rechte mit zwei einfachen und klaren programmatischen Punkten schlagen können: gute Renten, gute Löhne. Ich würde zuerst einmal diese zwei Losungen auf unsere Fahne schreiben. Denkt man sie zu ende, dann wird man einsehen, dass gute Löhne und gute Renten nur mit einem Klassenkampf von unten erreicht und gesichert werden können. Mehr brauchen wir nicht: der Zeit der „sowohl als auch“ programmatischen Reden, der wischi-waschi oder der postmodernen beliebigen Diskurse sollte vorbei sein.