Die SPD begeht heute mit grossen Jubiläumsfeierlichkeiten in Leipzig, dem Ort, an dem Ferdinand Lassalle 1863 den Anstoss zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) gab, ihren 150. Geburtstag. Dass sich die Partei in ihrer Geschichte schon längst von den proletarischen und internationalistischen Traditionen ihrer Pioniere im 19. Jahrhundert entfernt hat und bei näherer und nüchterner Betrachtung wenig Anlass zu Stolz und Freude hat, zeigt eine eher beiläufige Notiz am Rande der Festlichkeiten.
So leitete die SPD-Führung in den letzten Monaten systematisch die Abkehr von ihrem internationalen Traditionsverband Sozialistische Internationale (SI) ein und hob am Vorabend der Leipziger Feierlichkeiten als ihren alternativen, neuen lockeren internationalen Dachverband die „Progressive Allianz“ aus der Taufe. Wenn der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel jetzt entdeckt, dass sich in der SI bis vor wenigen Jahren auch Despoten wie die früheren Diktatoren Mubarak (Ägypten) oder Ben-Ali (Tunesien) getummelt haben, dann kommt diese Einsicht gut zwei Jahre nach dem Sturz dieser Diktatoren reichlich spät.
Sozialistische Internationale
Dabei ist das Problem der Sozialistischen Internationale viel älter als Mubarak oder Ben-Ali. 1889 als Zusammenschluss sozialistischer und sozialdemokratischer Arbeiterparteien im Geiste des Sozialismus, Internationalismus und Marxismus gegründet und von dem alten, 1895 verstorbenen Friedrich Engels kritisch-konstruktiv begleitet, zeigte die SI schon nach weniger als zwei Jahrzehnten gefährliche opportunistische Verschleisserscheinungen. So meldeten sich bei ihrem internationalen Kongress in Stuttgart 1907 bereits sozialdemokratische Emporkömmlinge lautstark zu Wort, die es sich im Kapitalismus gemütlich eingerichtet hatten und zunehmend an den Rockschössen der herrschenden Klasse und ihrer politischen Vertreter hingen. Dass sie in den theoretischen Diskussionen bereits vom Ziel einer Überwindung des Kapitalismus abkehrten und den Kolonialismus und Imperialismus als „fortschrittlich“ und förderlich für die Zivilisation bezeichneten, waren deutliche Hinweise auf eine sich anbahnende Katastrophe. Damals hatten MarxistInnen wie Lenin, Trotzki, Luxemburg, Liebknecht und andere in der SI noch genügend Einfluss, um den rechten Strömungen Einhalt zu gebieten und die SI auf den Sturz des Kapitalismus und internationale Solidarität gegen den drohenden Krieg zu orientieren. So bekannten sich die SI-Kongresse 1907 (Stuttgart), 1912 (Basel) und noch im Juli 1914 (Brüssel) zur Einheit der Arbeiterklasse, zur internationalen Völkerverbrüderung und Opposition gegen den Krieg. Im August 1914 kam dann die Katastrophe, als fast alle Mitgliedsparteien der SI in ihrem Land die jeweilige nationale Kriegspolitik der Herrschenden unterstützten. Damit war die SI bei ihrer ersten ernsthaften Bewährungsprobe faktisch zusammengebrochen. Der Führung der Massenparteien in ihren Reihen war im Zweifelsfall das nationalstaatliche bürgerliche Hemd näher als der Rock des proletarischen Internationalismus. Ihre alten Lippenbekenntnisse gegen den Krieg und für internationale Solidarität waren keine fünf Pfennig wert.
Wendepunkte 1914 und 1918
Als Lenin, damals im Schweizer Exil, im August 1914 ein Exemplar des SPD-Zentralorgans Vorwärts in die Hände bekam und darin las, dass die SPD-Reichstagsfraktion den kaiserlichen Kriegskrediten zugestimmt hatte, hielt er das Zeitungsexemplar zunächst für eine plumpe Fälschung. Rosa Luxemburg bezeichnete die Sozialdemokratie und SI wenig später als „stinkenden Leichnam“. In der Tat: Die SI hörte in Kriegszeiten auf zu existieren. Als sie nach dem Ersten und später auch nach dem Zweiten Weltkrieg wiederbelebt und hochgepäppelt wurde, war sie nur noch ein blasser Abklatsch ihrer einstmals stolzen Vergangenheit an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert.
In der Revolution 1918, die dem Krieg folgte, bekam die SPD starken Zulauf aus der Arbeiterklasse. Für Millionen arbeitende Männer und Frauen war sie die Hoffnungsträgerin, die endlich die Tür zu einer neuen sozialistischen Gesellschaft öffnen sollte. Doch die SPD-Führung um Ebert, Noske und Scheidemann verbündete sich mit reaktionären Kräften zur Niederschlagung der Revolution, so auch mit den Freikorps-Truppen, die eine Keimzelle der später aufstrebenden Nazi-Bewegung bildeten. Anstatt Grosskonzerne, Banken und Grossagrarier zu enteignen und eine sozialistische Demokratie aufzubauen, setzte die sozialdemokratische Führung auf eine Zerschlagung der in der Revolution gebildeten Arbeiterräte und den alten Staatsapparat, der in der Weimarer Republik faktisch weiter lebte. Die damals erreichten Reformen und Errungenschaften (Waffenstillstand, Frauenwahlrecht, Abschaffung des Drei-Klassen-Wahlrechts, Acht-Stunden-Tag, Tarifautonomie, Mitbestimmung, Ausbau der Sozialversicherung) waren nicht die Folge diplomatischen Verhandlungsgeschicks der SPD-Führer, sondern Nebenprodukte der Revolution. Aus Angst vor der Enteignung, die die Kapitalisten und Grossgrundbesitzer in jenen Jahren in Russland erlebten, waren die Herrschenden und Besitzenden in jenen Monaten zu fast jedem Zugeständnis bereit, solange sie ihr Eigentum und ihre Privilegien behielten. Während die SPD-Führung somit das Kapital rettete und an die Weimarer Republik glaubte, gab sich das Kapital ihr gegenüber äusserst „undankbar“. Es heuerte 1933 die Nazis an, um die Arbeiterbewegung zu zerschlagen, um SPD, Gewerkschaften, KPD und alle unabhängigen Organisationen der Arbeiterbewegung zu zertrümmern und ihre bewusstesten Kräfte auszurotten. Aus der Sicht der Nazis waren alle Arbeiterparteien „Marxisten“ und daher Todfeinde.
In diesen Wochen taucht in vielen Medien wieder die legendäre Reichstagsrede des SPD-Vorsitzenden Otto Wels gegen das Ermächtigungsgesetz vor 80 Jahren auf. In der Tat war die SPD die einzige Reichstagsfraktion, die sich damals in der Abstimmung gegen Hitler stellte, nachdem die KPD-Abgeordneten in jenen Tagen bereits verfolgt wurden oder geflüchtet waren. Zu einer Aufarbeitung der Geschichte gehört aber auch, dass zumindest wichtige Teile der SPD-Führung in jenen Wochen durch opportunistischen Kniefall vor dem Regime – so auch den angekündigten Austritt aus der SI und die Distanzierung von jüdischen Mitgliedern – ihren Apparat und ihre Haut zu retten versuchten. Es war eine fatale Fehleinschätzung der SPD-Spitze, dass sie Anfang 1933 an die Buchstaben der Weimarer Verfassung glaubte und keine Mobilisierung gegen Hitler unternehmen wollte, weil er ja „legal“ an die Macht gekommen war. Faschismus, Weltkrieg und Holocaust waren ein hoher Preis und eine Folge der Tatsache, dass die Sozialdemokratie den Kapitalismus 1918 vor der Revolution gerettet hatte.
Endgültige Aussöhnung mit dem Kapital
1934 bemühte sich ein Teil der SPD-Exilführung im „Prager Manifest“ um radikale, revolutionäre Schlussfolgerungen aus der verheerenden Niederlage 1933. Nach der Befreiung vom Nazi-Regime 1945 schrieb sich die West-SPD wieder den Sozialismus als Tagesaufgabe auf die Fahnen und ging mit Marx-Postern auf Stimmen- und Mitgliederfang. Doch der einsetzende kapitalistische Wirtschaftsaufschwung und der Kalte Krieg bildeten zunehmend einen Vorwand für plumpen Antikommunismus, programmatischen Rechtsruck und endgültige Anpassung und Aussöhnung mit dem kapitalistischen System und seinen Repräsentanten. Es folgten Jahrzehnte von Wirtschaftswachstum und relativer Vollbeschäftigung, in denen sich der Kapitalismus Zugeständnisse an die Arbeiterklasse und Sozialreformen im besten Sinne des Wortes leisten konnte und Lebensstandard wie auch Lebensqualität zunahmen. Für die ältere Generation verkörpern Personen wie der frühere Kanzler und langjährige legendäre SPD- und SI-Vorsitzende Willy Brandt die Erinnerung an eine vergangene Epoche, in der es noch „aufwärts“ ging. „Demokratischer Sozialismus“ war und ist nach sozialdemokratischem Selbstverständnis eine „dauernde Aufgabe“, der Weg war das Ziel. Eine in früheren Programmen angestrebte Entmachtung des Grosskapitals und das Ziel einer nicht auf Profit basierenden Wirtschaftsplanung waren nun verpönt, reichte es doch angeblich aus, den Kapitalismus zu humanisieren und ein bisschen zu regulieren. Dass der Kapitalismus krisenanfällig ist, alle Zugeständnisse an die Arbeiterklasse wieder einkassieren und die Menschheit – wie schon in den 1930er Jahren – wieder in die Barbarei zurückstossen kann, solange er nicht bewusst überwunden wird, war und ist in den Perspektiven der sozialdemokratischen Vordenker und Macher nicht vorgesehen.
Als dann mit der Auflösung der stalinistischen Planwirtschaften in Osteuropa und dem Anschluss der DDR an die BRD 1990 alles Kollektive verpönt war und alles Individuelle Hochkonjunktur hatte, setzte sich auch in der SPD-Führung endgültig die nackte neoliberale Ideologie durch. Unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder von 1998 bis 2005 und der Grossen Koalition 2005 bis 2009 wurden weitgehende Angriffe auf sozialstaatliche Errungenschaften – so etwa Agenda 2010, Riester-Rente und Rente 67 und Privatisierungen – umgesetzt, die bis heute nachwirken und Millionen Menschen aus der Arbeiterklasse von der SPD entfremdeten. Wer A sagt, der muss auch B sagen. Wer Ja zum Kapitalismus sagt, der akzeptiert auch sein Krisendiktat und seine vermeintlichen „Sachzwänge“. Kein Wunder, dass sich die SPD-Mitgliederzahl in den letzten 40 Jahren auf derzeit 474.000 halbiert hat. Mit 23 Prozent bei der Bundestagswahl 2009 fiel die Partei wieder um über 100 Jahre auf das Niveau von Anfang des 20. Jahrhunderts zurück.
Fazit und Ausblick
Agenda-Kritiker aus dem Kreis von SPD-Veteranen und „Traditionalisten“ wie Rudolf Dressler oder Herbert Ehrenberg, die in den 1970er und 1980er Jahren eher als „rechte“ Sozialdemokraten galten, treten heute als „Linksaussen“ und einsame Rufer in der Wüste auf. Die SPD-Führung ist am Geburtstag 150 Lichtjahre von den Ursprüngen entfernt. Denn bei aller Unzulänglichkeit war es das grosse Verdienst von SPD-Urvätern wie Ferdinand Lassalle oder August Bebel und vielen unbekannten Akteuren ihrer Zeit, dass sich mit ihrer Hilfe die Arbeiterschaft unabhängig von den Liberalen in einer eigenen Partei organisierte. Sie würden sich im Grabe herumdrehen und bitter weinen, wenn sie mit ansehen müssten, wie 150 Jahre später die Sozialdemokratie überall mit den Bürgerlichen wieder im Bett liegt und bürgerliche Parteien wie die Demokratische Partei der USA, die türkische Republikanische Volkspartei (CHP) oder die indische Kongress-Partei in ihrer neuen „Progressiven Allianz“ um sich schart. Oder wenn sie bei SPD-Parteitagen auf Schritt und Tritt der Propaganda von Konzernen, Banken, Versicherungen und Lobbyverbänden begegnen würden, die solche Grossveranstaltungen sponsern und gerne Anzeigen im Zentralorgan Vorwärts schalten. Diese Kapitalgruppen tun das nicht zum Nulltarif, sondern erwarten (und bekommen) dafür konkrete politische Gegenleistungen.
Bei aller SPD-Schelte fällt jedoch immer wieder auf, wie sich diese Partei in ihrer Geschichte immer wieder am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat und als Hoffnungsträger in Szene setzen konnte. Solange der „Leidensdruck“ nicht noch grösser wird und vor allem solange es keine bessere, überzeugende, starke, konsequente und linke Alternative gibt, orientieren sich wichtige Teile der Arbeiterklasse immer wieder, mitunter auch zähneknirschend, an der „guten alten“ Tante SPD. In den 1920er Jahren konnten USPD und KPD Millionen Menschen anziehen, die sich von der SPD enttäuscht und verraten fühlten. In der Bundestagswahl 2009 errang die LINKE bundesweit halb so viele Stimmen wie die SPD. Das Auf und Ab dieser Parteien zeigt aber auch, dass vor uns MarxistInnen im 21. Jahrhundert noch viel Arbeit liegt. Schliesslich geht es um nicht weniger als die Aufgabe, in den besten Traditionen der alten, marxistischen Sozialdemokratie die arbeitende Bevölkerung und auch die Mehrheit der SPD-Anhängerschaft für ein sozialistisches Programm zu gewinnen und die Kapitalistenklasse endgültig zu entmachten.
Arbeiterbewegung — von Martin Kohler, Bern — 10. 10. 2024
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