Auch wenn heute die Beteiligung der Sozialdemokratie an der Landesregierung wie in Stein gemeisselt erscheint, sorgte diese in der Vergangenheit für viele Diskussionen über ihren Nutzen. Es ist wieder an der Zeit, zu diskutieren, was die Regierungsbeteiligung in der Vergangenheit gebracht hat und ob heute, in einer Zeit, in der sich die wirtschaftlichen Bedingungen massiv verändern und die unterschiedlichen Interessen klar zum Vorschein kommen, eine Beteiligung an der bürgerlichen Regierung sinnvoll ist.
Das Umdenken
Dass Ernst Nobs im November 1943 zum ersten sozialdemokratischen Bundesrat wurde, ist in erster Linie eine Folge von verschiedenen Ereignissen innerhalb der Partei und des sich abzeichnenden Kriegsendes, welches die bürgerlichen Parteien zu Umdenken veranlasste. In der SPS übernahm der reformistische Flügel ab dem Jahr 1921 die Überhand, was zur Konsequenz hatte, dass die Sozialdemokraten ab 1929 für jeden vakanten Bundesratssitz einen Kandidaten stellten. Auch wenn dieses Bestreben innerhalb der Partei sehr umstritten war und in der Geschäftsleitung nur knapp eine Mehrheit ausmachte, passte es in die Art der Anbiederung der Sozialdemokraten an den bürgerlichen Staat. Diese wurde später auch durch die Befürwortung der militärischen Landesverteidigung und das Verbot aller kommunistischen Parteien, damit auch der eigenen Jungpartei, weitergeführt.
Die Kehrtwende im Kriegsgeschehen, ausgelöst durch den Sieg in Stalingrad, veranlasste die meisten Parteien in Westeuropa dazu, über die Zeit nach dem Krieg nachzudenken. Auch der FDP-Parteitag beschloss, der Forderung der SP teilweise nachzukommen und sprach sich dafür aus, einen der zwei geforderten Sitze im Bundesrat den Sozialdemokraten zu überlassen. Bürgerliche Zeitungen wie die NZZ empfahlen darauf Ernst Nobs als Kandidaten, weil er mittlerweile zu den gemässigten Sozialdemokraten gehörte. Dies auch mit dem Hintergrund, dass die SP im Oktober 1943, nach dem grössten Wahlsieg ihrer Geschichte, mit 56 Nationalräten in Bern vertreten war und durch ihre grosse Mitgliederzahl eine Drohkulisse für die Bürgerlichen darstellte. Es war ein bewusster Entscheid der Bürgerlichen, die SP mit ins Boot zu holen, da sie in der Opposition gefährlicher war als in der Regierung.
Mit im Boot
Nach einer parteiinternen Auseinandersetzung darüber, welche Bedingungen an die Bürgerlichen gestellt werden müssen, nominierte die Fraktion für den vakanten Sitz Ernst Nobs und Henri Perret als pro-forma-Kandidat gegen den rechtsaussen stehenden Marcel Pilet-Golaz. Dies, obwohl sich wichtige Teile der Partei, wie etwa die Zürcher Stadtpartei, gänzlich gegen eine Kandidatur ausgesprochen hatten. Eingerahmt von sechs bürgerlichen Bundesräten wurde Nobs im Dezember 1943 in den Bundesrat gewählt. Ihm wurde das damals unbeliebte Finanzdepartement zugeteilt, in dem er von einem Heer bürgerlicher Bürokraten umgeben war und ohne Mehrheit im Parlament kaum Spielraum für wirklich sozialdemokratische Politik hatte.
Auch die darauffolgenden Bundesräte der SP waren immer gezwungen, eine bürgerliche Politik mitzutragen, da sie in den bürgerlichen Staat eingebunden waren, die SP nie eine Mehrheit im Parlament erreichte und nur gemässigte Kandidaten von der bürgerlichen Mehrheit gewählt wurden. Dazu kommt, dass die verschiedenen Departemente grundsätzlich wenig Spielraum bieten und die wichtigen Entscheidungen ohnehin vom Gesamtbundesrat beschlossen werden. Dies brachte Lenin in seiner Schrift „Kernfragen der Revolution“ zum Ausdruck: „Die ganze Geschichte der bürgerlich-parlamentarischen und in weitgehendem Masse auch der bürgerlich-konstitutionellen Länder zeigt, dass ein Ministerwechsel sehr wenig bedeutet, da die wirkliche Verwaltungsarbeit in den Händen einer Riesenarmee von Beamten liegt. Diese Armee aber ist durch und durch von antidemokratischem Geist erfüllt, durch Tausende und Millionen Fäden mit Gutsbesitzern und mit der Bourgeoisie verbunden und auf die vielfältigste Art und Weise von ihr abhängig (…). Mit Hilfe dieses Staatsapparats Umgestaltungen durchführen zu wollen (…) ist eine grosse Illusion, glatter Selbstbetrug und ein Betrug am Volke (…). So geschieht es denn, in allen nur möglichen „Koalitions“-regierungen, an denen die „Sozialisten“ teilnehmen, dass diese Sozialisten stets, selbst wenn es einzelne ganz ehrlich meinen, in Wirklichkeit eine blosse Dekoration oder Kulisse der bürgerlichen Regierung sind, dass sie als Blitzableiter dienen, um die Volksempörung von der Regierung abzulenken, dass sie dieser Regierung als Werkzeug dienen, um die Massen zu betrügen (…).“
Die Bilanz
Auch wenn man sagen kann, dass in der Nachkriegszeit, die geprägt war von Hochkonjunktur und sozialem Frieden, die Beteiligung an einer bürgerlichen Regierung, wie es auch andere sozialdemokratische Parteien in Europa machten, eine gewisse Berechtigung hatte, ist die Bilanz sehr dürftig ausgefallen. So sind viele Errungenschaften nicht auf die Beteiligung im Bundesrat zurückzuführen, sondern auf den Spielraum, den die Besitzenden in dieser Zeit hatten. Da die Profite stimmten und das Kräfteverhältnis stärker zugunsten der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften ausfiel, waren die Besitzenden gezwungen, Zugeständnisse zu machen, die den sozialen Frieden garantierten. Auch wenn die Einführung der AHV als Erfolg bezeichnet werden kann, hatte die Beteiligung der SP am Bundesrat dabei keinen Einfluss. Man kann sagen, dass über die ganze Zeit, in der die SP an der Regierung beteiligt war, kein nennenswerter Erfolg aufgrund dieser Beteiligung erzielt werden konnte. Sie brachte höchstens weitere Anbiederungen an den bürgerlichen Staat, wie zum Beispiel die erste offizielle Unterstützung einer bürgerlichen Kandidatur für den Bundesrat 1950. Dass in dieser Situation kaum etwas zu erreichen ist, zeigte sich schon, als der Nachfolger von Nobs, Max Weber, nach dem Scheitern seines Vorschlags für die Neuordnung der Bundesfinanzen im Dezember 1953 zurücktrat. Die SP, die nun unvorbereitet wieder in der Opposition war, konnte ihre Position kaum nutzen, da zu dieser Zeit Hochkonjunktur war und nahezu Vollbeschäftigung herrschte. Trotzdem wurde der Entscheid vor allem von der Basis euphorisch begrüsst. Dies hielt aber nicht lange an, weil die SP bereits 1959 mit zwei Bundesräten wieder an der Regierung beteiligt war und darauf die viel beschworene Zauberformel entstand, die neben der Konkordanz in der Schweiz zu der Rezeptur für einen sicheren bürgerlichen Staat gilt.
Auch heute erreichen die SP-Bundesräte kaum etwas. Das Kräfteverhältnis und die wirtschaftliche Situation haben sich seit dem Zweiten Weltkrieg stark verändert. Die SP ist so schwach wie niemals zuvor und praktisch nur noch in der Defensive. Ihre Bundesräte stehen somit noch isolierter da. Die Situation ist deshalb nicht mit 1953 vergleichbar. Die Koreakrise 1953 hatte einen viel kleineren Einfluss auf die wirtschaftliche Lage der Schweiz, als die jetzige Krise. Wir durchlaufen momentan eine der schwersten Wirtschaftskrisen der Geschichte die die kommenden Jahre prägen wird. Eine wirklich sozialdemokratische Partei kann sich nicht an einem Bundesrat beteiligen, in welchem keine Reformen für die Lohnabhängigen durchsetzbar sind, sofern sie noch eine Mehrheit der Bevölkerung – die Lohnabhängigen – vertreten will. Der Spielraum, durch den die Bürgerlichen aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage zu Zugeständnissen bereit waren, ist nicht mehr vorhanden. Dies hat sich in den letzten Jahren bereits mit dem ewigen Gerangel um den Bundesrat auf der politischen Ebene ausgedrückt. Die Mehrheit der Sozialdemokraten im Parlament hat dies nicht verstanden, sie koalieren lieber mit den “vernünftigen und anständigen“ bürgerlichen Parteien, um ihre Pöstchen zu verteidigen, als dass sie ihre Aufgabe wahrnehmen und die Lohnabhängigen vertreten.
Mitmachen ist keine Lösung
Nun werden wir vor die Frage gestellt, welche der Kandidatinnen wir unterstützen sollen. Es spielt keine Rolle, ob wir eine Jacqueline Fehr oder eine Simonetta Sommaruga unterstützen, da sie als Mitglied des Bundesrates ohnehin nur die bürgerliche Politik mittragen müssen und in die Konkordanz eingebunden sind. Der einzige Weg, den wir in der heutigen Situation einschlagen können, ist der komplette Rückzug aus dem Bundesrat.
Wenn die Opposition in den letzten Jahren kein Thema war, so muss sie spätestens in einer solchen Situation zum Thema werden. Die Opposition ist nicht nur eine Option, sie ist der einzige gangbare Weg für eine sozialdemokratische Partei. Denn es kann nicht sein, dass an der Spitze der Partei Personen stehen, die die Partei in keiner Weise widerspiegeln und abgekoppelt von ihr politisieren müssen. Es kann nicht sein, dass die SP als Feigenblatt für die bürgerliche Politik der Kürzungen und der sozialen Ungleichheit dient, ja diese gar mit trägt. Deshalb spielt es auch keine Rolle, welche Partei nun Anrecht auf wie viele Sitze hat. Unsere Antwort zur Regierungsbeteiligung der SP muss ein klares „Nein“ sein, denn wir wollen den bürgerlichen Staat nicht „ein wenig sozialer“ gestalten, sondern einen ehrlichen Kampf für und mit den Lohnabhängigen führen.
Bauen wir unsere Partei unter einem sozialistischen Programm in der Opposition wieder auf!
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