Am 17. Oktober wählt der SP-Parteitag in Basel ein neues Präsidium. Nachdem sich das rechtere Duo (Seiler-Graf und Reynard) zurückgezogen hat, bleibt nur eine ernstzunehmende Kandidatur: Mattea Meyer und Cédric Wermuth. Ihre Aufgabe wird es sein zu beweisen, dass die SP gewillt und fähig ist, den Kampf gegen die bürgerliche Krisenpolitik zu führen. Sie müssen die SP zu der Partei machen, die den Lebensstandard der Lohnabhängigen bedingungslos gegen Angriffe verteidigen und für Verbesserungen kämpft.
Wir haben bereits im Frühjahr zwei Artikel zur Präsidiumswahl geschrieben. Dieser gilt als Aktualisierung.
Der Einschlag der Corona-Pandemie läutete im Frühjahr 2020 eine neue Phase der globalen Wirtschaftskrise ein. Heute bestreitet niemand Ernstzunehmendes mehr die Realität dieser Krise, höchstens noch deren Tiefe. Die ungewisse Zukunft oder das bereits eingetroffene Ausbleiben von Umsatz und Profiten drängt die Patrons zu Angriffen. In jeder Krise ist die Senkung des Lebensstandards der Lohnabhängigen eine naheliegende Möglichkeit, um Einbussen für die Kapitalisten zu vermeiden. Ob Senkung des Lohns, Ausweitung der Arbeitszeit oder Verkleinerung des Teams bei gleichbleibender Arbeitslast: Alle sind zweckdienlich, um die Betriebseigentümer und Aktionäre von den Krisenauswüchsen zu verschonen und die Budgets von Spitälern und Bildungseinrichtungen zusammenzustreichen.
In dieser Situation ist es die Aufgabe der organisierten Arbeiterbewegung, die Verteidigung zu übernehmen. Diese Organisationen sind auf betrieblicher Ebene die Gewerkschaften (Unia, vpod, SEV, syndicom) und politisch die Parteien, welche die Interessen der Arbeiterklasse vertreten. Letzteres ist traditionell die SP und für die Jugend die JUSO. Aber die Tradition allein schützt die Lohnabhängigen nicht vor der Krise. Wie wollen also Cédric und Mattea der SP in der aktuellen Krise eine Daseinsberechtigung geben?
Es gibt drei Punkte, an denen wir ausmachen können, ob Mattea Meyer und Cédric Wermuth dieser Herausforderung gewachsen sind: ihr Wahl- resp. Krisenprogramm, ihr bisheriges Verhalten in der Corona-Krise sowie ihre Rolle in der Partei.
Cédric und Mattea legten zwei Papier mit programmatischem Charakter vor (1 und 2). An der SP gemessen sind die Vorschläge links. Die Programmpapiere sind radikaler als was die SP in den letzten Jahren unter Levrat forderte oder was den Weg in SP-Positionspapiere fand. Fast jede der Forderungen von Cédric und Mattea wäre eine begrüssenswerte Verbesserung für das Leben der Lohnabhängigen in der Schweiz. Sie sprechen beispielsweise davon, das «Recht auf Bildung zu stärken und die Lohnarbeitszeit zu reduzieren». Sie wollen dem Mietwucher beikommen mit einem ominösen «Renditedeckel» und die Pflege stärken. All diese Forderungen gehen zweifelsfrei in die richtige Richtung. Allerdings verbleiben die Programme völlig im Rahmen des Kapitalismus. Nirgends wird die Frage nach dem Eigentum aufgeworfen, und genauso wenig stellen sie das politische System in Frage.
Wichtiger ist aber die Frage, wie das Programm umgesetzt werden soll. Wie zwingt man ein klar bürgerlich dominiertes Parlament zur Erhöhung der Steuern oder zum Schnüren eines Konjunkturpakets. Das benötigt grossen Druck. Druck kann die SP aber im Parlament nicht machen, dazu fehlt es an Parlamentssitzen und Geschlossenheit der Fraktion bei sozialistischen Positionen.
Hier sind wir auch schon beim grossen Problem: Das Programm besteht eigentlich nur aus Forderungen (im Sinne als etwas, das man von jemand anderem will und nicht selbst machen möchte). Klar: Es ist die Natur eines Programms Dinge zu fordern. Doch es sollte vor allem eines sein: Eine Erklärung, wie man die Kontrolle über die Politik und die Wirtschaft erlangt und was man mit dieser Kontrolle tun würde. Denn: Wir können dem bürgerlichen Staat nicht vertrauen. Selbst bei einem Abstimmungssieg bleibt man der Willkür der ausführenden Gewalten und ihrem Beamtenapparat ausgesetzt. In einfacheren Worten: Gelingt Cédric und Mattea, dass eine ihrer Forderungen vom Bundesparlament angenommen wird, hängt es danach am bürgerlichen Staat, diese in Tat umzusetzen. Hiermit hat die Arbeiterbewegung, nicht nur in der Schweiz, durchwegs schlechte Erfahrungen gemacht. Natürlich sollten wir Forderungen an den Staat stellen, aber die Umsetzung kontrollieren wir mit Argusaugen und demaskieren den Klassencharakter des Staates in jedem Moment, in dem sich dieser offenbart. Also jedes Mal, wenn die Forderungen der Arbeiterklasse verfälscht, verwässert oder gar nicht umgesetzt und die Kapitalinteressen priorisiert werden. Dann wird den Massen klar, dass wir die Kontrolle selbst übernehmen müssen.
Das Problem ist nicht nur, dass die Forderungen nicht wunschgemäss ausgeführt werden. Das Delegieren der Umsetzung ist eines der gewichtigsten Charakteristika des Reformismus, die schwächen. Es demobilisiert die Lohnabhängigen, statt sie einzubinden. Der Unterschied zwischen reformistischer und revolutionärer Politik zeigt sich treffend an den Vorstellungen zur Führung einer Fabrik. Der reformistische Ansatz beschränkt sich auf die demokratische Mitsprache an der Generalversammlung – was meist unter Wirtschaftsdemokratie verstanden wird. Währenddessen sehen Revolutionäre keinen Grund, warum die Arbeiterinnen und Arbeiter die Fabrik nicht selbst verwalten und leiten könnten. Sie wissen wohl am besten, wie ihre Arbeit funktioniert und was dafür nötig ist. Wir sehen heute, dass bei den Konzernen nicht nur die Besitzstruktur auf den Kopf gestellt werden muss, sondern auch die innere Struktur. Ein Betrieb, der vom CEO runtergewirtschaftet wurde, kann nicht von diesem selben weitergeführt werden. Aber auch die von Cédric geliebten Konzerne des Service public (Post, SBB, Swisscom etc.) können nicht einfach wieder zu Staatsbetrieben gemacht werden, und Schluss. Ihre ganze Organisationsstruktur und die Stellung in der Gesamtwirtschaft müssen über den Haufen geworfen werden. Die Zustände bei der SBB waren auch vor Benedikt Weibel (SBB-Chef von 1993 bis 2006) nicht sozialistisch. Diese Betriebe, aber genauso das ganze Gesundheitswesen, müssen in ihrer ganzen Ausrichtung und Zielsetzung neu aufgestellt werden. Sie müssen von ihrer bürokratischen Leitung befreit und unter die Verwaltung der Belegschaft gestellt werden. Das ist Selbstermächtigung und dafür lohnt es sich zu kämpfen.
Doch kämpfen wollen Cédric und Mattea gar nicht. Zumindest kommt es in ihren Programmpapieren nicht vor. Und auch ihre Vorstösse seit Ausbruch der Pandemie deuten nicht auf Kampfwillen, sondern vielmehr auf Allianzen schmieden mit Bürgerlichen hin. Was haben sie vorzuweisen?
Das Vorzeigeprojekt von Mattea und Cédric ist die Unterstützung für KMU und Selbständige. Mit grossem Einsatz haben sie die Verlängerung der Rettungspakete gefordert. Doch das bleibt im Rahmen bürgerlicher Krisenpolitik. Warum? Für die Krisenunterstützung werden Staatsgelder aufgeworfen. Das bezahlen also letztlich wieder die Arbeiterinnen und Arbeiter. Es wird also nicht mit der bürgerlichen Krisenpolitik gebrochen. Der von der SP von Beginn weg eingeschlagene Kurs wird weiterverfolgt.
Der Vorstoss zugunsten der Selbständigen und KMU ist nicht grundlegend falsch, doch er lenkt davon, was die Aufgabe der SP wäre: die Verteidigung und Organisierung der Arbeiterklasse. Denn auch staatlich gestützte KMU können die Krise nicht lösen. Das können nur die Lohnabhängigen. Die Pfeiler, welche die essenziellen Sektoren am Laufen halten. Ziehen diese an einem Strang, können auch die KMU geschützt werden. Umgekehrt geht es niemals! Der Kapitalismus trennt die Menschen in zwei Hauptklassen: die Kapitalisten und die Arbeiterklasse. Die KMUler – zumindest die kleineren – liegen im Normalfall dazwischen. Sie sind nicht fähig, den Kampf anzuführen, sondern können sich nur mit der einen oder anderen Klasse verbünden. Eine starke, kämpfende Arbeiterklasse, die dem Grosskapital den Kampf ansagt, kann die nötige Anziehungskraft auf die KMU entwickeln und diese so vor der Verelendung retten. Das ist der einzige Weg, wie SP etwas Nachhaltiges für die KMU tun kann: durch die Organisierung der Lohnabhängigen.
Die JUSO ist mit ihren Slogans viel korrekter unterwegs als Cédric und Mattea. Auf den parteieigenen Gesichtsmasken prangt der Slogan: «Make the Rich pay for Covid-19». Zudem brilliert die JUSO-Präsidentin Ronja Jansen in den Medien immer wieder mit der Forderung nach Brechen der nationalen Einheit und der Enteignung von Grosskonzernen und Banken. Diese Forderungen sind vom kommenden Präsidium nicht zu vernehmen. Wo stehen diese also in der SP und vor allem zur JUSO?
Mattea und Cédric kommen aus der JUSO und werden in der SP, auch jetzt als Nationalrätin und Nationalrat, genau als solche JUSO identifiziert. Klar, in der Bundeshausfraktion gehören sie zu den Linksten, doch was sagt das aus über ihr effektives politisches Profil? Der parlamentarische Alltag stellt einen schnell vor die Wahl: Will man unerbittlich und prinzipientreu für ein sozialistisches Programm einstehen? Oder setzt man darauf, als kompromissbereit zu gelten und in den Kommissionen, sprich bei den Bürgerlichen, einen guten Ruf zu pflegen?
Vor allem bei Cédric ist offensichtlich, dass ihm sein Ansehen im Bundeshaus – welches er wohl gleichsetzt mit politischen Erfolgschancen eigener Vorstösse – wichtiger ist als Prinzipien. Doch anhand der Positionierungen der SP seit 2016 in Fragen wie der Untersteuerreform und Rentenreform kann man auch sagen, die Partei habe sich nach rechts bewegt. Mattea und Cédric sind also dennoch der linke Parteiflügel. Doch auf der Linie der JUSO sind sie nicht mehr.
«Abwehren reicht nicht, es muss endlich wieder vorwärts gehen», wie Mattea im Jacobin-Interview sagte. Das dürfen keine leeren Phrasen sein, sondern als konkretes Ziel gefasst werden. Wollen sie die zentralen Forderungen ihres Programms einlösen, dann müssen sie sich selbst fragen, was ist dazu nötig. Und die einzige Antwort darauf kann sein, die Partei als sozialistische Kampforganisation der Lohnabhängigen aufzubauen.
Es ist zu begrüssen, dass das kommende Präsidium sich das Ziel setzt, die Basis einzubinden. Doch was heisst es, wenn sie die SP zum «Ort der spannendsten Diskussionen» machen wollen? Soll die SP in erster Linie eine Schwatzbude sein? Sollen die Diskussionen so wenig Einfluss auf das Verhalten der Bundeshausfraktion haben wie heute? Ist es wünschenswert, dass die radikalen Positionen so weit entfernt von der Praxis liegen, wie es bei einer 1. Mai-Rede der Fall ist? Wenn Diskussionen keinen Ausfluss in der Praxis haben, dann bleibt es bei heisser Luft.
Zur Durchsetzung der aufgestellten Forderungen ist der Parteiaufbau unumgänglich. Das bedarf jedoch einer klaren Abgrenzung gegenüber den Bürgerlichen. Diese sind falsche Freunde. Sie helfen uns niemals echte Verbesserungen zu verwirklichen. Die Stärke muss von innen kommen: aus einer starken Basis und klaren Positionen. Es braucht einen klaren Plan, wie aus schönen Kampagnen und spannenden Diskussionen eine neue, kämpferische Praxis etabliert werden kann.
Um der Krise entschieden entgegenzutreten brauchen wir eine sozialistische Partei der Lohnabhängigen – das kann der einzige Inhalt sein, wenn die SP die «Partei der Zukunft» sein will, wie es im Programm steht. Leider stimmt das Material und die Alltagspraxis von Cédric und Mattea wenig optimistisch, dass ihr Präsidium einen Bruch mit der Kompromisslinie von Levrat vollzieht. Wir unterstellen ihnen in keinster Weise schlechte Absichten. Aber die fehlende Klarheit hinsichtlich der Programmumsetzung lässt am Erfolg zweifeln. Man muss sagen, dass damit eigentlich die Weiche nach rechts schon gestellt ist. Alles andere wäre eine Überraschung. Auf diese zu warten, kann sich die Arbeiterklasse in der Schweiz so wenig leisten wie auf dem Rest der Welt.
Hier kommt die JUSO ins Spiel. Sie muss das Präsidium gegenüber den radikalen Forderungen zur Rechenschaft ziehen. Doch vor allem muss sie die SozialistInnen in der Partei organisieren und den Kampf gegen das Kompromisslertum anführen. Die SP braucht eine Methode, um mit den Forderungen eine Brücke zu bauen. Bei den aktuellen Bedürfnissen anknüpfend muss das Klassenbewusstsein unter der Parteibasis geschärft werden. Doch dazu reichen radikale Forderungen nicht aus. Die ArbeiterInnen müssen in den Kampf gezogen werden. Wenn die ArbeiterInnen erst einmal beginnen zu kämpfen, wird schnell mehr möglich sein, als es Cédric und Mattea fordern. Aber nur dann!
Dafür muss die SP nicht der Ort der spannendsten, sondern der wichtigsten Diskussionen werden. Hier müssen die Kämpfe geplant werden. Hier müssen die Kämpfenden zusammentreffen und sich vernetzen. Doch kämpfen ist nicht die Methode von Cédric und Mattea. Wenn sie trotz der offenkundigen Anzeichen der Realität nicht zur Besinnung kommen, darf die JUSO keinem Personenkult anhängen. Die beiden müssen an ihren Taten gemessen werden. Die JUSO muss gnadenlos jeglichen Opportunismus angreifen, jeden faulen Kompromiss ablehnen und wenn nötig unabhängig von der Mutterpartei, oder gar gegen sie, die Führung in Kämpfen übernehmen.
In der angebrochenen Krise haben linke Parteien keine Daseinsberechtigung, wenn sie passiv bleiben. Die Arbeiterklasse braucht eine Partei, um gegen die bürgerliche Krisenpolitik zu kämpfen! Als marxistische Strömung stehen wir bedingungslos für eine konsequente und unabhängige Politik der Arbeiterklasse ein, die nur auf die Kraft der kämpfenden Arbeiterklasse zählt. Dazu haben wir ein Programm verfasst, wie die Arbeiterklasse die Krise lösen und den Übergang in den Sozialismus angehen kann. Wir sind überzeugt, dass SP und JUSO mit diesem zum Anziehungspunkt für die Massen und zum Zentrum des Kampfes werden würden. Wir laden euch ein über dieses Programm zu diskutieren.
Anmerkung: Auf die Kritik von Cédric Wermuth hin wurde der Titel des Artikels geändert. Wir schreiben Artikel nicht der Form und der Begriffe wegen, sondern um einen inhaltlichen, politischen Punkt zu machen.
Für die Redaktion
Michael Wepf
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024
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