Auch wenn die SPD-Spitze nach stundenlangem Bangen und höchster Nervosität am Ende aufatmen konnte, schwelt damit die tiefe Krise der Partei weiter. An der Basis brodelt es. Der vor weniger als einem Jahr noch mit 100 Prozent von einem Parteitag gewählte Parteichef Martin Schulz ist angeschlagen.
In der lebhaften Debatte, bei der längst nicht alle der über 100 Wortmeldungen berücksichtigt wurden, war nicht zu übersehen und überhören, dass ein tiefer Riss durch die Sozialdemokratie geht, die in der Bundestagswahl am 24. September 2017 mit 20,5 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit den 1890er Jahren eingefahren hatte. Das Misstrauen der Basis gegenüber der Führung schimmerte immer wieder durch.
Schulz hatte kurz nach Schließung der Wahllokale am 24. September öffentlich das Ende der Koalition mit der Union verkündet und dafür starken Zuspruch erhalten. Doch nach dem Scheitern der „Jamaika“-Sondierungen von Union, FDP und Grünen im November verordnete er der Partei einen abrupten Kurswechsel um 180 Grad. Es war und ist klar, dass die SPD-Spitze auf jeden Fall an den Regierungsämtern klebt. Schulz hatte mit dem Versprechen von „ergebnisoffenen Verhandlungen“ und der Ankündigung, dass ein Sonderparteitag die Sondierungsergebnisse bewerten solle, die Basis einzulullen versucht. Das dies schwieriger als erwartet war, zeigte die intensive Debatte beim Sonderparteitag.
„Ich habe geglaubt, dass die Absage an die GroKo ernst gemeint war. Ich glaube euch vieles nicht mehr“, brachte es Marc Dietzschkau aus Sachsen auf den Punkt. Mit solchem Misstrauen konfrontiert, gaben sich der Parteiapparat und Sprecher des rechten Flügels alle Mühe, dem am 12. Januar mit der Union ausgehandelten Sondierungspapier eine „sozialdemokratische Handschrift“ zu attestieren. Sie wiederholten gebetsmühlenartig einzelne Punkte im Sondierungspapier wie die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung, eine noch nicht präzisierte Grundrente oder 150.000 neue Jobs für Erwerbslose. Der im rechten SPD-Flügel verwurzelte DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann zeigte sich als glühender GroKo-Befürworter, bezeichnete die im Sondierungsergebnis aufgeführte Mindestausbildungsvergütung als „regelrechten Kracher“ und bescheinigte dem Papier sogar „Potenzial für einen Politikwechsel in Europa“. Andere Delegierte und Gewerkschafter sahen dies nicht so. „Eine Mehrheit für die Fortsetzung der GroKo habe ich nirgends gesehen“, berichtete Stephan Grüger (Hessen) aus seiner Heimatregion und meldete angesichts der offenkundigen Präferenz der DGB-Spitzen für die GroKo „Diskussionsbedarf innerhalb der Gewerkschaften“ an. „Ich kenne eine Menge DGB-Mitglieder, die gegen die GroKo sind“, sagte ein Berliner Delegierter.
Viele vermissten in dem Sondierungspapier auch nur die kleinsten Hinweise auf einen Politikwechsel und grundlegende Ziele wie eine solidarische Bürgerversicherung oder mehr Steuergerechtigkeit durch höheren Spitzensteuersatz, höhere Erbschaftssteuer und Vermögenssteuer, die Bekämpfung von Leiharbeit oder eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns von mageren 8,84 Euro.
Im Papier fehlen auch Aussagen zur Abschaffung von sachgrundlosen Befristungen bei Arbeitsverträgen. Diese Zielsetzung könnte übrigens schon Realität sein. Sie wurde schon im letzten Bundestag als Antrag von der Linksfraktion eingebracht und mit den Stimmen der Koalitionspartner Union und SPD abgelehnt. Die Privatisierung der Rentenversicherung soll fortgesetzt und stabilisiert werden. „Die Schere zwischen Arm und Reich geht trotz Mitregierens in der GroKo weiter auseinander. Wir haben es nicht hingekriegt, dass kein Rentner mehr am Bahnhof Flaschen sammeln muss“, so Hilde Mattheis. „Es geht nicht, dass wir uns den Arsch aufreißen gegen Nazis und meine Partei setzt G20-Proteste mit der Neonaziterrorbande NSU auf eine Stufe“, kritisierte Jana Herrmann, Bundesvorsitzende des Jugendverbands SJD – Die Falken. Es sei unerträglich, dass das Sondierungspapier „Programme gegen Rechts- und Linksextremismus fördern“ wolle. „Davon profitieren nur Neonazis und Rechtsextremisten, diese Gleichsetzung können wir nicht akzeptieren“, so Jana Herrmann. Mehrere Delegierte kritisierten die im Papier festgeschriebenen Obergrenzen für Flüchtlinge und den Familiennachzug.
Die Speerspitze der Opposition gegen eine fortgesetzte GroKo und die alte Garde im Partei- und Regierungsapparat bildeten vor allem Delegierte aus den Reihen der Jusos, die sich engagiert an der Debatte beteiligten. „Wir sind nicht der Korrekturverein der Union, sondern der Gegenentwurf“, so Jessica Rosenthal. Juso-Chef Kevin Kühnert beklagte eine „immense Vertrauenskrise“ in der Partei und „wahnwitzige Kehrtwendungen“ der Spitze. „Zentrale Anliegen sind mit der Union nicht zu machen“, so Annika Klose.
Ohne ein Ja zur Groko drohten Neuwahlen und werde Europa Schaden nehmen, so das von Schulz an die Wand gemalte Schreckgespenst. Dies würde die Rechte stärken und müsse auf jeden Fall vermieden werden, flehte der Parteichef die Delegierten an. „Niemals sollten wir in eine Regierung gehen, weil wir Schiss vor Neuwahlen haben“, hielt ihm ein Delegierter entgegen.
Nahles räumte ein, dass die SPD als Juniorpartnerin in den bisherigen Kabinetten der Kanzlerin Merkel oft „nicht genug Eigenprofil gehabt und kommunikative Fehler gemacht“ habe. Dass es in der bisherigen GroKo-Wirklichkeit noch viel schlimmer aussieht und die Parteiführung als Erfüllungsgehilfin des Kapitals fungiert, stellte die Gerlinde Schermer (Berlin) heraus. Sie erinnerte daran, dass die SPD-Spitze 2017 entgegen früherer Beteuerungen der Einführung einer Autobahnmaut und einer Grundgesetzänderung zum Einstieg in die Privatisierung der Bundesfernstraßen zugestimmt hat. „Das stand nicht einmal im Koalitionsvertrag drin“, so die Berlinerin. „Wenn die Maut kommt, ist das größte Umverteilung seit der Mehrwertsteueranhebung von 16 auf 19 Prozent.“ Bekanntlich hatte die SPD im Wahlkampf 2005 eine von der CDU/CSU angeregte Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf 18 Prozent vehement als „Merkel-Steuer“ beschimpft und später als Juniorpartner einer Anhebung auf 19 Prozent zugestimmt. „Die GroKo wird lähmen“, warnte sie „Wir müssen wieder auf die Straße und den aufrechten Gang lernen“, forderte sie.
Dass eine relativ knappe Mehrheit der Delegierten am Ende noch einmal dem GroKo-Kurs folgte, ist auch dem Taktieren des Vorstands geschuldet. So wurden zu Beruhigung der Basis kurzfristig in den Leitantrag noch mehrere Forderungen aufgenommen. So will die SPD-Spitze in den Koalitionsverhandlungen „Verbesserungen“ bei der Abschaffung sachgrundloser Befristungen, bei der Angleichung von Arzthonoraren für privat und gesetzlich Versicherte sowie beim Familiennachzug für Geflüchtete erreichen. Ob die CDU/CSU da mitmacht, wird sich zeigen.
Was nun?
Die SPD war im 19. Jahrhundert aus der sozialistischen Arbeiterbewegung heraus entstanden und hatte bis vor nicht allzu langer Zeit eine relativ stabile Massenbasis in der arbeitenden Bevölkerung. Seit ihrem Eintritt in die Regierung 1998 hat die SPD-Führung in zentralen Fragen offen und sichtbar die Drecksarbeit für das Kapital verrichtet. Seither hat die Partei unterm Strich die Hälfte ihrer Mitglieder und Wählerschaft verloren. Dass die Führung offenbar entschlossen ist, mit dem Kapital durch dick und dünn zu gehen, lässt auch die Liste der Sponsoren ahnen, die SPD-Bundesparteitage mit Spenden finanzieren und sich dafür auf Wunsch in den Gängen präsentieren dürfen. Dazu gehören Konzerne und Unternehmerverbände wie die Wirtschaftsvereinigung Stahl, Volkswagen, UPS, Post, Telekom, Pfizer und der Verband der deutschen Versicherungen. Wes Brot ich ess, des‘ Lied ich sing. So könnte die heutige Entscheidung pro GroKo den Niedergang der SPD beschleunigen, wie ihn die kapitalhörige Sozialdemokratie bereits in den Niederlanden (PvdA), Frankreich (PS), Griechenland (PASOK) und anderswo erlebt hat – falls die SPD-Mitglieder bei der versprochenen Urabstimmung über einen Koalitionsvertrag nicht noch die Notbremse ziehen und Nein sagen.
Die 44 Prozent gegen die GroKo waren eine mächtige Klatsche für den Apparat, der nach Augenzeugenberichten wieder alles darangesetzt hat, um Delegierte mit Zuckerbrot und Peitsche weich zu klopfen. „Menschen aus der Parteiführung kommen extra persönlich zu den Delegierten und sagen, dass es bei ihnen nicht gut ankommt, wenn man gegen die GroKo stimmt. Eine Drohkulisse gegenüber dem freien Mandat“, berichtet ein Insider in einem sozialen Netzwerk. „Unserem Delegierten wurde nahegelegt, dass er, wenn er etwas werden wolle, mit Ja stimmen solle“, meldet ein anderer.
So ist es umso erfreulicher, dass sich nun erstmals seit Jahrzehnten wieder eine linke Basisopposition in der SPD regt und der Jugendverband dabei eine wichtige Rolle spielt. Manche bewundern den neuen Aufschwung, den die britische Labour Party seit zwei Jahren mit dem einstigen linken Außenseiter Jeremy Corbyn an der Spitze erfährt.
Viele kritische SPD-Mitglieder sind am Ende des Parteitags ratlos und fragen sich, ob sie systematisch in der SPD kämpfen, ihr Engagement auf andere gesellschaftliche Bereiche verlagern oder zur LINKEN übertreten sollen. Entscheidend ist, dass die entstehende SPD-Opposition mit ihrer Kritik nicht an der Oberfläche verharrt und sich nicht auf faule Kompromisse mit dem Parteiapparat einlässt. Wir haben es mit einer tiefen Krise des Kapitalismus zu tun und müssen die Probleme an der Wurzel packen. Ein Rückblick in die Geschichte zeigt, dass die heutigen Debatten ihre Vorläufer haben. Wir können vom Kampf und von den Ideen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und anderer revolutionärer Marxisten in der internationalen Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg wie auch aus der Spaltung der Sozialdemokratie vor 100 Jahren sehr viel lernen. All dies ist kein Selbstzweck, denn in der Tradition von Rosa und Karl müssen wir hier und heute eine starke marxistische Strömung in der Arbeiterbewegung aufbauen.
Foto: SPD Schleswig Holstein/ flickr/ CC License
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