Die Grünen sind die klaren Sieger der Nationalratswahlen. Mit ganzen 17 zusätzlichen Sitzen und einem WählerInnenanteil von 13,2% dürfen sie von nun an bei den Grossen mitspielen. Im Jahr der massiven Mobilisierungen rund um den Klimastreik hat das Thema Ökologie in den letzten Monaten die öffentlichen Debatten dominiert. Doch die sinkende Wahlbeteiligung (nur noch 45,1%, die Tiefste seit 10 Jahren) ist der beste Beweis dafür, dass in diesen bewegten Zeiten schlicht eine Partei gefehlt hat, die mit einem glaubwürdigen Programm für einen Ausweg aus diesem System eingetreten wäre. Ein System, das uns direkt in die Wand zu fahren droht.
Die Grünen und die Grünliberalen waren die einzigen Parteien, die NeuwählerInnen mobilisieren und auch Stimmen von anderen Parteien abgrasen konnten. Dies aber nicht wegen, sondern trotz deren limitierten Programmen.
Ohnehin: Von einem Linksrutsch zu sprechen wäre mehr als verfehlt. Zwar hat auch die SVP verloren. Wie wir in den letzten Ausgaben bereits erklärt haben, ist ihr Verlust noch kein Grund zur Freude. Die SVP kann sich immer wieder erholen, solange die Linke ihr nicht mit einer konsequenten Politik für die Arbeiterklasse den Boden entzieht. Das schafften weder die Grünen noch die SP. Nach wie vor wählen die tieferen Einkommensschichten mit Abstand am deutlichsten die SVP. Aber die überwiegende Mehrheit von ihnen ging überhaupt nicht wählen. Die Mehrheit der Arbeiterklasse in der Schweiz fühlt sich also durch keine politische Partei vertreten.
Wo blieb eine echte Alternative?
Viel bedeutender als die SVP-Niederlage ist die Niederlage der SP. Mit nur noch 16,8% ist es das schlechteste Wahlresultat der Sozialdemokraten in ihrer Geschichte.
Die Tatsache, dass die SP-Führung offensichtlich unfähig ist, die Gründe für ihre Niederlage zu erkennen und daraus zu lernen, ist noch schlimmer als der Einbruch der Unterstützung selbst. An der SP-Spitze ist man beleidigt, weil die SP doch mindestens so grün sei wie die Grünen. Doch die Niederlage ist nicht Schuld der Wählenden, sondern Resultat ihres eigenen politischen Versagens. Sie ist zum einen die Quittung für eine Reihe fauler Klassenkompromisse (insbesondere: AV2020, STAF), in denen die SP Konterreformen gegen die Lohnabhängigen direkt mitgetragen hat. Zum anderen ist sie Resultat der Tatsache, dass sich auch die SP in einem insgesamt trostlosen, unpolitischen Wahlkampf 2019 nicht mal ansatzweise als eine Kraft präsentieren konnte, die einen Wandel bringen kann und ernsthafte Lösungen auf die grossen Fragen unserer Zeit hat.
«Die Mehrheit der Arbeiterklasse in der Schweiz fühlt sich durch keine politische Partei vertreten.»
Erstaunt da, dass jede fünfte SP-Stimme von 2015 zu den Grünen übergegangen ist? Die Sozialdemokraten konnten noch nicht einmal ihre eigenen WählerInnen überzeugen, geschweige denn NeuwählerInnen gewinnen. Im Jahr der grössten Massenmobilisierungen seit Jahrzehnten für genuin linke Anliegen ist das ein politisches Armutszeugnis, das nur beweist, wie fest die Partei am Puls der Zeit und den Anliegen der Arbeiterklasse vorbeipolitisiert. Es gibt eine krasse Politisierungswelle der Jugend, doch die SP profitiert – im Gegensatz zu den Grünen, die vor allem junge Neuwählende mobilisieren konnten – nicht mal im Geringsten davon. Ausserdem sind ganze 4% von der SP zur GLP rübergelaufen. Das ist die Konsequenz davon, dass die SP lieber versucht, mit rechteren Positionen Wählende zu gewinnen. Diese Schichten sind offenbar bereit, bei der kleinsten Gelegenheit zu einer wirklichen bürgerlichen Partei überzugehen.
Die Grünen haben zwar selbst nicht bessere politische Antworten, kamen aber immerhin als frischere Kraft daher. Das kommt vor allem daher, dass sie in der Vergangenheit noch keine Verantwortung im Bundeshaus übernehmen mussten, d.h. noch nicht im gleichen Mass wie die SP als linkes Feigenblatt für bürgerliche Politik eingesetzt wurden.
Aufschwung des weltweiten Klassenkampfes
In den letzten Monaten und insbesondere seit Beginn des Oktobers haben wir in einer ganzen Reihe von Ländern revolutionäre, aufständische Massenbewegungen gesehen. Wir sind in eine neue, höhere Phase des Klassenkampfes eingetreten. Weltweit erhebt sich die Arbeiterklasse gegen ein System, das keine Zukunft mehr bietet.
Die organische Krise des Kapitalismus führt auch in der Schweiz zu einem wachsenden Unmut über die bestehenden Verhältnisse. Frauenstreik und Klimastreik sind Ausdruck des gleichen Prozesses: Ganze Schichten haben sich erstmals zu bewegen begonnen und fordern Veränderung. Dazu kommen die steigenden Gesundheitskosten und die AHV, die mit Abstand drängendsten Probleme, welche die WählerInnen mobilisiert haben. Dies reflektiert ebenfalls den in den letzten Jahren gestiegenen Druck auf den Lebensstandard breiter Schichten der Lohnabhängigen in der Schweiz, ein Effekt der kapitalistischen Krise.
Das Potenzial für eine wirklich linke Politik der Arbeiterklasse wäre also klar vorhanden. Gestützt auf die aktuellen Bewegungen und anknüpfend an die drängendsten Probleme der Werktätigen hätte ein sozialistisches Programm in der Arbeiterklasse verankert werden können: Für eine Volkspension mit höheren Renten für alle, gegen zunehmenden Druck und tiefe Löhne in typischen Frauenberufen, für die Verstaatlichung der Banken und der demokratischen Kontrolle über Investitionen zur Bekämpfung der Klimakrise.
Eine Mehrheit der ArbeiterInnen ist nach wie vor passiv und sieht den Parteien gleichgültig entgegen. Die objektiven Interessen der überwältigenden Mehrheit sind aber klar: Gegen Verschlechterung der Löhne und Renten, gegen steigende Prämien und gegen Sparmassnahmen. Diese Mehrheit gilt es zu gewinnen – mit einer Politik, die Mensch und Umwelt über den Profit stellt. Das geht nur mit einer Fundamentalopposition gegen die bestehenden Verhältnisse, also Kampf gegen die Profiteure (die Finanzkapitalisten und Grosskonzerne) und deren bürgerliche Vertreter im Parlament, von der SVP über die CVP bis zu den Grünliberalen.
«Das Potenzial für eine wirklich linke Politik der Arbeiterklasse wäre also klar vorhanden.»
Keine Illusionen in dieses Parlament!
Die «neuen» Kräfteverhältnisse im Bundeshaus werden nichts Entscheidendes ändern. Auch ohne CVP und GLP haben FDP-SVP immer noch mehr Sitze als SP und Grüne. Die Grünen leiden an einer ebenso falschen politischen Orientierung wie die SP. Sie glauben, im Parlament und innerhalb des Kapitalismus könnten Lösungen gegen den Klimawandel gefunden werden. Dabei glauben sie, mit den kapitalistischen Parteien wie der GLP oder gar der FDP Verbündete finden zu können! Schon jetzt zeichnet sich ab, dass sie sich auf faule Kompromisse einlassen und sich der CVP, je nachdem auch der GLP und gar der FDP anbiedern. Damit werden die Grünen, genauso wie die SP in der vergangenen Legislatur, zum Steigbügelhalter bürgerlicher Politik.
Die Klimastreik-Bewegung wird weiter mobilisieren, während die Grünen «Kompromisse» mit den Bürgerlichen suchen. Die kraftvollen Bewegungen von 2019 zeigen ein riesiges Potential auf, Veränderung von unten anzustossen. Doch diese Energie verpufft, findet sie keinen politischen Ausdruck. Eine wirkliche Linke muss in konsequenter Opposition zu den Bürgerlichen an diesen Bewegungen anknüpfen und in ihnen ein sozialistisches Programm verteidigen. Nur so können zum Einen diese Bewegungen weiterkommen und zum Anderen eine konsequente linke Kraft aufgebaut werden. Das Parlament ist höchstens eine Bühne – der wirkliche Kampf findet auf den Strassen, in den Betrieben und in den Schulen statt.
Für die Redaktion, Martin Kohler
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