Im Juni stimmen die BaslerInnen über die Mindestlohnitiative ab. Als MarxistInnen unterstützen wir natürlich jede Reform, die die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen verbessert. Ein solcher Abstimmungskampf bietet ein grosses Potential, um das Klassenbewusstsein zu stärken und die Organisierung voranzutreiben.

Gleichzeitig wird über einen Gegenvorschlag von 21 Franken pro Stunde abgestimmt, der ausserdem weitgehende Ausnahmen vorsieht. Von den Bürgerlichen gibt es keine vereinte Gegenkampagne, sie können sich offensichtlich mit dem Gegenvorschlag arrangieren. Einzig der Gewerbeverband fährt eine aggressive Kampagne und malt das Schreckgespenst des Massensterbens von KMU an die Wand. Gewerkschaften und Linke Parteien reagieren mit Beschwichtigungen und betonen, dass der Mindestlohn im Interessen aller ist. Das ist eine grundlegend falsche Taktik. Stattdessen müsste klar die gegensätzlichen Klasseninteressen von ArbeiterInnen und KapitalistInnen betont werden und die Gewerkschaftsbasis für einen kämpferischen Abstimmungskampf mobilisiert werden.
Diese Fehler wurden bereits bei den Kämpfen um Mindestlöhne in Genf 2020 und Neuchâtel 2011 begangen. Damit wird das Potenzial der Lohnfrage viel zu wenig ausgeschöpft.

Aus diesem Anlass haben wir folgenden Artikel aus dem Französischen übersetzt. Diesen haben wir für die Abstimmung über den Mindestlohn in Genf verfasst. Wir veröffentlichen diesen ohne Anpassungen, da unsere Einschätzung und Kritik an der Anwendung der der Initiativen – und das in verstärktem Masse – auch für Basel gilt.


Eine Welle von Mindestlohninitiativen breitet sich über mehrere Kantone aus. Die Forderung nach höheren Löhnen ist für den Klassenkampf zentral. Durch die Verknüpfung mit dem Frauenstreik oder dem Lohnschutz hat dieser Kampf das Potenzial, die Linke zu voranzutreiben.

In der Schweiz gibt es keinen Mindestlohn. Die Bosse wissen, wie sie ein umfangreiches Arbeitsgesetz verhindern können. Fast alle Regelungen sind Bestandteil von Arbeitsverträgen (individuell oder kollektiv). Sie werden daher nur zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgehandelt. In den letzten Jahren hat sich in den Gewerkschaften die Forderung nach einem Mindestlohn herausgebildet. Derzeit warten die Initiativen in Genf und Basel auf das Ergebnis der Abstimmung [in Genf wurde im September 2020 ein Sieg errungen]. Schauen wir uns ihren Kontext und ihr Potenzial an.

Das Trauma von 2014

Im Jahr 2011 sind in der Schweiz die nötigen Unterschriften für eine Volksinitiative für einen Mindestlohn von 22,-/h oder 4000,-/Monat (mal 12) zusammengekommen. Eine Gruppe des linken Flügels des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), darunter SekretärInnen der Gewerkschaft Unia, schlug eine Offensive mit legalen Mitteln vor. Als MarxistInnen unterstützten wir diese Initiative natürlich aus zwei Gründen: 1. Sie forderte eine materielle Verbesserung für die Arbeiterklasse. 2. Sie war vielversprechend für den Klassenkampf. Doch die Initiative erlitt 2014 an der Urne eine massive Niederlage (76,3 % Nein). Diese war das  Ergebnis der fehlgeleiteten Kampagnentaktik der Gewerkschaften.

Der Fokus der Kampagne lag kaum auf der Aktivierung von Mitgliedern und dem Wachstum als kämpferische Gewerkschaft, sondern auf dem Erreichen von „realen Gewinnen“. Zugeständnisse der Arbeitgeber, selbst Brosamen, wurden daher priorisiert. Infolgedessen stank ihre Kampagne nach Nationalismus (unter dem Slogan: „Ein starkes Land. Faire Löhne“). Nach dem verheerenden Votum behaupteten die Führungen von Gewerkschaften und SP, dass die Lohnabhängigen von heute keine Solidarität mehr kennen und verwiesen auf den rücksichtslosen Widerstand der Bosse. Was für eine Überraschung! Die Interpretation der Abstimmung war geprägt von Pessimismus und falschen Schlüssen, aber sehr wenig ehrlicher Selbstkritik.

Ausgehend von einer falschen Vorstellung des Mindestlohns als Allheilmittel ist es der Schweizer Linken nicht gelungen, sich durch diese Kampagne zu stärken. Der Fehler lag nicht in der Wahl des Werkzeugs, sondern in der Methode wie dieses genutzt wurde.

Die Lohnforderung

Im herrschenden System, dem Kapitalismus, versuchen die Bosse die Löhne um jeden Preis auf die Grundausgaben des Lebens zu beschränken. D.h. auf das, was für die Reproduktion der Mitarbeiter notwendig ist (u.a. Kinder, Bildung, Nahrung, Freizeit etc.). Wenn die notwendigen Ausgaben steigen, würden die Lohnabhängigen eine Erhöhung verlangen. Die Arbeiterklasse hat ein organisches Interesse daran, den höchstmöglichen Lohn zu erhalten. Hier liegt der Klassenkonflikt, denn eine Erhöhung der Kaufkraft der ArbeiterInnen ist unmöglich, ohne den Profit des Kapitalisten zu schmälern. Dieser gibt nämlich nur dann den Forderungen nach, wenn er zufrieden ist mit seinen Gewinnen oder wenn ihm die ArbeiterInnen massiven Druck machen.

Ein Mindestlohn bietet auch gewisse Vorteile für die Kapitalistenklasse: Er begrenzt die Konkurrenz zwischen den Kapitalisten. Genau das ist das Hauptargument des SGB. Seit der Einführung in Neuchâtel im Jahr 2017, so erklärt der SGB, gab es „keine Konsequenzen“ (für die Chefs!). 

Aus kapitalistischer Sicht müssen zwei Dinge vermieden werden: Erstens, dass die Gewerkschaftsbasis stark genug wird, um Reallohnsteigerungen zu erzielen und  zweitens die Gefahr einer automatischen gesetzlichen Lohnanpassung an die Lebenshaltungskosten (Preisindex). Beide reduzieren die Unabhängigkeit und damit die Macht des Arbeitgebers. Das Argument “keine Konsequenzen” des SGB ist ein Versuch, die Arbeitgeber zu beruhigen und die StimmbürgerInnen durch Täuschung für sich zu gewinnen und gleichzeitig die ausgeprägte Schwäche der Gewerkschaften zu verbergen, denen allen eine aktive und starke Basis fehlt. Das ist die schlechtmöglichste Anwendung einer Initiative!

Der Fall von Neuchâtel

In den Jahren nach der Niederlage 2014 wurden die kantonalen Projekte wiederbelebt. Ein zentraler Kritikpunkt der Gegner der Volksinitiative war die Einheitlichkeit des Mindestlohns von 4000 CHF. Ihrer Ansicht nach ist es nicht gerechtfertigt, in den Randkantonen den gleichen Betrag anzusetzen wie in Zürich oder Genf. Das ist natürlich ein Ablenkungsmanöver, denn die Arbeitgeber sind gegen jeden Mindestlohn. Die Anpassung des Betrags auf kantonaler Ebene bleibt jedoch ein kleinerer Kompromiss. An sich verhindert es nicht, dass eine Kampagne an prekären Arbeitsplätzen geführt wird.

Im Kanton Neuenburg hatte bereits 2011 eine Volksinitiative eine Mehrheit gefunden. Die Arbeitgeberverbände wollten den vom Grossen Rat angenommenen Text jedoch nicht akzeptieren. Sie reichten eine Beschwerde beim Bundesgerichtshof ein – ohne Erfolg. Durch all diese Manöver wurde das Inkrafttreten jedoch auf den Sommer 2017 verschoben. In der Zwischenzeit hatten auch andere Kantone wie Jura und Tessin ähnliche Projekte angenommen – die Grenze von 4.000 CHF wurde nie überschritten.

Neue Studien, gleiche Fallstricke

Ermutigt durch das Ergebnis von Neuenburg, startete die Linke in den beiden Stadtkantonen Genf und Basel eigene Kampagnen. Die erwähnten Fehler des SGB vom Jahr 2014 wurden jedoch in beiden Fällen wiederholt. Auch wenn wir den Mut beglückwünschen, 23,-/h zu fordern, ist der Betrag keineswegs das zentrale Thema. Der Erfolg einer solchen Kampagne hängt immer von der Fähigkeit ab, neue Schichten von ArbeiterInnen zu organisieren.

Der Mindestlohn kann die Unantastbarkeit der Sozialpartnerschaft auf dem Rechtsweg anfechten. Sie kann die unterschiedlichen Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern, Nationalitäten usw. angehen. Schliesslich erfordert der Kampf um ein Gesetz Klassensolidarität. Das ist nicht selbstverständlich und eine anspruchsvolle Aufgabe. Solange dies nicht erreicht wird, wird die Umsetzung eines Mindestlohns immer mangelhaft bleiben, weil die Kapitalisten immer Schlupflöcher und Ausnahmen finden.

Die Wirkung eines Mindestlohns wird begrenzt bleiben und die Durchsetzung eingeschränkt, wenn eine solche politische Kampagne auf das Gutmenschentum, das Wohlwollen der Unbeteiligten, abzielt. Ein Mindestlohn kann niemals aus Mitleid zugelassen werden, sondern muss von den Kapitalisten zugestanden werden. Um einen grösseren Anteil an der Wertschöpfung zu erhalten, ist es notwendig für die Gewerkschaften, in den prekären Arbeitsplätzen Fuß zu fassen. Hier liegt das materielle Interesse eines Mindestlohns: entweder weil die Lohnabhängigen weniger als den geforderten Betrag verdienen oder weil sie Gefahr laufen, darunter zu fallen.

Mit der Initiative eine Basis schaffen

Unter keinen Umständen darf der Kampf um den Mindestlohn Vorrang gegenüber kämpferischen Aktionen haben. Die Kampagne für den Mindestlohn hat zum Beispiel keine Verbindung – ausser einer persönlichen – mit dem Frauenstreik am 14. Juni. Die Vernachlässigung einer solchen Unterstützung in den Streikkomitees ist bezeichnend und schwerwiegend. Wenn der Kampf für höhere Kaufkraft nur in den Stadtzentren, den Flanier- und Shoppingplätzen der Mittelklasse und des Bildungsbürgertums stattfindet, wird die Gewerkschaftslinke unter der Vormundschaft der Bourgeoisie bleiben. Wird die Kampagne so geführt, dann sind die Mindestlohn-Initiativen eine Sackgasse.

Andererseits sind diese Initiativen, wenn sie die am meisten ausgebeuteten ArbeiterInnen erreichen, sie organisieren und ein günstigeres Kräfteverhältnis schaffen, ein guter Weg, eine kämpferische und nicht eine harmlose Linke aufzubauen. Es stimmt nicht, dass der Mindestlohn gut für die gesamte Gesellschaft ist! Er ist gut für die Arbeiterklasse. Er ist einfach ein Werkzeug, um alle Lohnabhängigen in einem konkreten Kampf zu vereinen. Er kann weniger sein, aber niemals mehr.

Michael Wepf
Unia Basel

Artikel zuerst veröffentlicht im Juni 2019 in L’étincelle 33