Der Kapitalismus spielt schon lange keine fortschrittliche Rolle mehr und hätte schon längst von der Arbeiterklasse gestürzt werden müssen. Aber warum ist das noch immer nicht passiert? Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in der Rolle der Führung und der revolutionären Partei in revolutionären Prozessen, wie Julien Arseneau in diesem Beitrag nachzeichnet.
Das Jahr 2020 hat die Welt auf den Kopf gestellt. COVID-19 hat den völligen Bankrott des Kapitalismus offengelegt. Das ewige Mantra vom „Wir sitzen ja alle im selben Boot“ hat sich als reine Propaganda erwiesen. Auf der ganzen Welt wurde das Profitinteresse über die Bedürfnisse der Menschen gestellt. Während Millionen arbeitslos wurden, sind die Reichen heute reicher denn je. In den USA, dem reichsten Land der Welt, haben gleichzeitig Millionen Menschen nicht genügend zu essen.
Waren schon die Jahre seit Ausbruch der Krise von 2008 für viele ein verlorenes Jahrzehnt, so hat die Wirtschaftskrise, die durch COVID-19 ausgelöst wurde, unzähligen Menschen noch einen weiteren Schlag versetzt. Seit der letzten Krise 2008 wurden die öffentlichen Dienstleistungen kaputtgespart, die Reallöhne stagnierten bestenfalls, und die heutige Jugend ist die erste Generation seit dem Zweiten Weltkrieg, die ärmer ist als die Generation ihrer Eltern.
Genau vor diesem Hintergrund wächst auch das Interesse an und die Zustimmung zu sozialistischen Ideen. Dieses Jahr veröffentlichte die „Victims of Communism Foundation“, der man wirklich nicht unterstellen kann, eine positive Einstellung gegenüber dem Marxismus zu haben, in einer Studie folgende Zahlen: 49 Prozent der 16-23-Jährigen (Generation Z) in den USA haben eine positive Meinung vom Sozialismus (2019 waren es erst 40 Prozent). Unabhängig vom Alter stieg bei den US-AmerikanerInnen dieser Wert von 36 auf 40 Prozent. In den USA, die auf eine so starke Tradition des Antikommunismus zurückblicken, denken 18 Prozent der Generation Z, dass der Kommunismus ein gerechteres System ist als der Kapitalismus!
Diese Zahlen sind nicht so überraschend, wie man auf den ersten Blick glauben möchte. Gerade die jüngere Generation hat bislang nichts anderes kennengelernt als Sparpolitik, sinkende Lebensstandards, Terrorismus, imperialistische Interventionen und Umweltzerstörung. Das Goldene Zeitalter des Kapitalismus, das man mit den 1960er und 1970er Jahren verbindet, ist passé. Mehr Menschen denn je wünschen sich daher auch eine revolutionäre Überwindung des Kapitalismus.
Tatsache ist, dass das kapitalistische System die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft schon lange bremst. Dass es bislang nicht gelungen ist, den Kapitalismus durch eine sozialistische Revolution zu stürzen, liegt sicherlich nicht daran, dass die objektiven Bedingungen für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft des Überflusses nicht gegeben wären. Von einem wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus sind zweifellos alle Voraussetzungen erfüllt, um die menschlichen Bedürfnisse zu stillen. Wir haben die notwendigen Mittel, um die gesamte Weltbevölkerung zu ernähren. Es gibt die Technologie und das Wissen, um alle lebensnotwendigen Güter im Einklang mit der Natur zu produzieren. Große Firmen wie Amazon und Walmart zeigen, dass es möglich ist, die Produktion und Verteilung von Gütern global abzuwickeln. Viele der schwierigen oder gefährlichen Arbeiten könnten durch Maschinen erledigt werden.
Marx erklärte, dass das kapitalistische System sich seine „eigenen Totengräber produziert“, indem es die Arbeiterklasse hervorbringt – jene Klasse, die alle Gebäude erbaut, die die benötigten Konsumgüter produziert und alle Waren erzeugt und Dienstleistungen erbringt. Er zeigte auch, dass der Sozialismus nicht einfach nur eine gute Idee ist, die sich ein paar Leute ausgedacht haben, sondern dass es mit der Arbeiterklasse eine soziale Kraft gibt, die eine sozialistische Gesellschaft errichten kann, indem sie die Kontrolle über die Produktionsmittel übernimmt. Marx argumentierte, dass sich diese Klasse organisieren muss, denn nur so kann sie sich gegen den Widerstand der Banken und Konzerne und den bürgerlichen Staat durchsetzen. Heute repräsentiert diese Klasse (anders als zu Marx‘ Zeiten) die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft. Ist sie erst einmal in Bewegung und entschlossen, den Kapitalismus zu stürzen, gibt es keine Kraft, die sie aufzuhalten imstande wäre.
Warum hat also die Arbeiterklasse das kapitalistische System noch nicht mittels einer Revolution gestürzt?
Leo Trotzki, neben Lenin der wichtigste Führer der Russischen Revolution, schrieb kurz vor seinem Tod einen großartigen Essay mit dem Titel „Klasse, Partei und Führung – Warum wurde das spanische Proletariat besiegt?“
Wie der Titel schon sagt, behandelt der Text die Spanische Revolution von 1931-39 und die Gründe ihrer Niederlage. Wir werden später einige Details dieser Revolution näher behandeln. An dieser Stelle sei nur gesagt, dass die spanische Arbeiterklasse die Macht nicht ergreifen konnte und das trotz zahlreicher Aufstände, spontaner Versuche der ArbeiterInnen, die Kontrolle über die Fabriken zu übernehmen und der Bauernschaft, das Land zu kollektivieren, trotz der Existenz starker Gewerkschaften und einer beeindruckenden Kampftradition. 1939 wurde ein faschistisches Regime unter Franco errichtet, das sich bis in die 1970er Jahre halten konnte.
In all seiner Kürze ist Trotzkis Text (den er vor seiner Ermordung nicht mehr fertigstellen konnte) reich an politischen Lehren, mit denen die Gründe für solche revolutionären Niederlagen – und wie man Siege vorbereiten kann – erklärt werden können. Dieser Text sollte für alle SozialistInnen als Pflichtlektüre gelten.
„Klasse, Partei und Führung“ eröffnet mit einer Polemik gegen eine kleine, vorgeblich marxistische Zeitschrift mit dem Namen „Que faire?“. Diese begründete in einem Artikel die Niederlage der spanischen Revolution mit der „Unreife“ der Arbeiterklasse. Wenn die Spanische Revolution gescheitert ist, so sei der Fehler bei den Massen selbst zu suchen.
Die Schuld auf die Massen abzuschieben, ist in der heutigen Arbeiterbewegung sehr weit verbreitet. Viele Linke sehen tatsächlich die Verantwortung dafür, dass der Kapitalismus noch immer fest im Sattel sitzt, bei der Arbeiterklasse.
Die Arbeiterklasse sei angeblich „zu schwach“, um die Welt zu verändern – so erklärten sich einige Linke auch das Scheitern der Venezolanischen Revolution in den 2000ern. Trotz einer historischen Mobilisierung während des Putschversuches 2002, obwohl die ArbeiterInnen die Kontrolle über die Betriebe übernahmen und 2019 weitere Putschversuche vereitelten, gibt es immer noch Leute, die behaupten, die venezolanische Arbeiterklasse sei zu schwach.
Jesús Farías, seines Zeichens führendes Mitglied der Regierungspartei PSUV, erklärte beispielsweise:
„Wir können ohne den geringsten Zweifel feststellen, dass eines der Haupthindernisse für eine schnellere Entwicklung der sozialistischen Umwälzung im Land die organisatorische, politische und ideologische Schwäche der Arbeiterklasse ist. Sie ist heute unfähig, ihre Rolle als treibende Kraft des sozialen Fortschritts zu spielen.“
Yanis Varoufakis, der ehemalige griechische Finanzminister in der Syriza-Regierung von 2015, vertritt ebenfalls diese Argumentationslinie. In einem Artikel mit dem amüsanten Titel „Geständnis eines erratischen Marxisten“ erklärte er 2013, dass die Krise in Europa „nicht mit einer fortschrittlichen Alternative, sondern mit radikal rückschrittlichen Kräften schwanger ist.“ Das schrieb er, nachdem die griechische Arbeiterklasse seit 2008 rund 30 Generalstreiks organisiert hat! Ohne jegliches Vertrauen in die Arbeiterklasse und nur die Möglichkeit eines „Rückschritts“ im Blick behauptete er, dass die einzige Option darin bestünde, eine breite Koalition „einschließlich Rechter“ zu bilden, um die Europäische Union und „den Kapitalismus vor sich selbst zu retten“.
Andere JournalistInnen, Intellektuelle und linke Promis sagen, dass die Arbeiterklasse keine Veränderung will und sich nicht für ein „linkes“ Programm begeistern lässt. So etwa der bekannte linke Journalist Paul Mason aus Großbritannien.
In Großbritannien traten Hunderttausende mit großer Begeisterung der Labour Party bei, als Jeremy Corbyn, der sich selbst als Sozialist bezeichnet, 2015 zum Parteichef gewählt wurde. Nach der Wahlniederlage der Labour Party 2019 trat Corbyn als Vorsitzender zurück. Die Parteirechte hat in der Folge mit Sir Keir Starmer wieder das Ruder an sich gerissen und sich prompt an die Drecksarbeit gemacht, die Partei von Linken zu säubern.
Mason argumentierte nach Corbyns Niederlage, dass „bestimmte Teile der linken Agenda“ die „traditionelle Arbeiterklasse“ in Großbritannien „abschrecken“ würden: „Offene Grenzen, die Verteidigung der Menschenrechte, allgemeine Sozialleistungen und vor allem Antimilitarismus und Antiimperialismus.“ Allgemeine Sozialleistungen, wie schrecklich! Er fügt hinzu: „Bringt es etwas, eine Geschichte der Hoffnung zu erzählen, wenn die Wählerschaft Veränderungen fürchtet?“
Das Problem sei also, dass die Arbeiterklasse angeblich keine Veränderungen will – sie sogar fürchte. In logischer Konsequenz unterstützte Mason auch Keir Starmer, den moderaten Führer der britischen Labour Party. Mason hat jegliches Vertrauen in die Fähigkeit der Arbeiterklasse als gesellschaftsverändernder Faktor verloren – falls er dieses Vertrauen überhaupt jemals besessen hat.
All diese Personen vertreten die Idee, dass die ArbeiterInnen unwillig oder unfähig sind, die Gesellschaft zu verändern.
Diese Ideen verschleiern, dass diese Leute keinerlei Vertrauen in die Fähigkeit der Arbeiterklasse haben, eine Revolution durchzuführen und die Gesellschaft zu verändern. Diese Ideen werden von diversen JournalistInnen, Liberalen und AkademikerInnen verbreitet, haben jedoch über den Weg der Gewerkschaftsbürokratie auch Eingang in die Arbeiterbewegung gefunden. Die GewerkschaftsführerInnen, die eigentlich gewählt wurden, um die ArbeiterInnen zu führen, geben genau diesen ArbeiterInnen die Schuld, weil sie angeblich „nicht kampfeswillig sind“.
Wie entgegnen MarxistInnen diesen Argumenten? Warum hat die Arbeiterklasse den Kapitalismus noch nicht gestürzt?
Für MarxistInnen ist der Ausgangspunkt aller Überlegungen die zentrale Rolle der Arbeiterklasse im Kampf zur Veränderung der Gesellschaft. MarxistInnen haben nichts mit dem Pessimismus und Zynismus jener Intellektuellen gemein, die auf die Arbeiterklasse herabschauen. Die Arbeiterklasse hat in den letzten 100 Jahren bei unzähligen Gelegenheiten alles in ihrer Macht stehende getan, um ihre Unterdrücker zu stürzen und die Gesellschaft zu verändern.
Aber fast jedes Mal war es die Führung der Arbeiterbewegung – entweder der Gewerkschaften oder der großen linken Parteien – die diese Bewegungen gestoppt hat und Kompromisse mit der herrschenden Klasse eingegangen ist, anstatt die Macht zu ergreifen. Dutzende Revolutionen wurden so durch die Führung der Bewegung zurückgehalten. Im „Übergangsprogramm“ brachte es Leo Trotzki auf den Punkt: „Die historische Krise der Menschheit ist zurückzuführen auf die Krise der revolutionären Führung.“
Wir müssen jedoch aufpassen, nicht eine Karikatur dieser Position einzunehmen. MarxistInnen vertreten nicht die Idee, dass die ArbeiterInnen immer bereit für Revolution sind, dass sie einfach nur auf eine sozialistische Führung warten, die ihnen den Weg weist. Wenn wir sagen, dass die Führung der Arbeiterbewegung ein Hindernis ist, heißt das umgekehrt nicht, dass die Revolution sofort ausbrechen und den Kapitalismus siegreich stürzen würde, wenn wir nur eine sozialistische Gewerkschaftsführung oder eine revolutionäre Organisation an der Spitze der Arbeiterbewegung hätten.
Es stimmt nicht, dass die ArbeiterInnen immer kampfbereit sind und nur auf eine gute Führung warten. Eine Massenbewegung lässt sich nicht aus dem Ärmel schütteln. Doch die Geschichte zeigt, dass es entscheidende Momente gibt, in denen die Massen zu kämpfen beginnen: Revolutionen. Die wichtigen Fragen, die sich alle AktivistInnen, die die Welt verändern wollen, stellen müssen, sind: Wie können wir unsere Klasse, die Arbeiterklasse, organisieren, um den Kapitalismus zu stürzen? Was ist die Rolle von SozialistInnen, um dieses Ziel zu erreichen? Wie können wir uns darauf vorbereiten?
Das Klassenbewusstsein der ArbeiterInnen entwickelt sich nicht geradlinig.
In einem langen historischen Prozess haben die ArbeiterInnen die Notwendigkeit verstanden, sich zu organisieren. Gewerkschaften wurden geschaffen für den täglichen Kampf mit den Unternehmern. Schließlich organisierten sich die ArbeiterInnen in eigenen Parteien, um ihren politischen Bestrebungen einen Ausdruck zu verleihen. Marx erklärte, dass die Arbeiterklasse ohne Organisation nur Rohmaterial für die kapitalistische Ausbeutung ist. Im Zuge des Klassenkampfs entwickelte die Arbeiterklasse mittels Gewerkschaften oder anderen Organisationen auch einen politischen Kampf. Dieser Prozess ist nicht einheitlich und ist von Land zu Land sehr unterschiedlich.
Es ist eine Sache zu verstehen, dass man sich organisieren muss, es ist etwas gänzlich anderes, zu dem Schluss zu kommen, dass ein revolutionärer Umsturz des Kapitalismus notwendig ist. Wenn die Arbeiterklasse zu kämpfen beginnt, zieht sie nicht automatisch revolutionäre Schlussfolgerungen.
Das Bewusstsein ist nicht per se revolutionär, im Gegenteil, es ist sogar generell sehr konservativ. Menschen halten an alten Ideen, Traditionen und dem tröstlichen Altbekannten fest. Zuallermeist wollen die Menschen einfach nur in Frieden zu annehmbaren Bedingungen leben. Und wer kann’s ihnen verübeln? Keiner will große Umwälzungen im eigenen Leben. ArbeiterInnen gehen ja nicht zur Arbeit, um zu streiken.
Revolutionen sind Ausnahmen in der Geschichte. ArbeiterInnen befinden sich nicht permanent im Kampf – im Gegenteil. Allerdings gibt es eben Zeiten, in denen der Status quo einfach nicht länger aufrechterhalten werden kann. Millionen von Menschen haben die Nase voll, weil sie von Sparprogrammen betroffen sind, weil die Lebenskosten steigen, während die Löhne stagnieren, weil öffentliche Dienstleistungen privatisiert werden, und weil die Reichen immer reicher werden.
Nicht RevolutionärInnen machen Revolutionen. Es ist der Kapitalismus selbst, der die Bedingungen schafft, dass sich Millionen gegen die herrschenden Verhältnisse zu erheben beginnen. Millionen von ArbeiterInnen, die gestern noch apathisch waren, strömen am nächsten Tag auf die Straße. Das Bewusstsein von gestern, das hinter den Ereignissen hinterherhinkte, holt mit einem Schlag mit der Realität auf. Und das ist der Moment, in dem Revolutionen ausbrechen.
Oft sind es „Zufälle“, die Revolutionen auslösen. Die Arabische Revolution von 2011 begann in Tunesien, als sich ein junger Straßenhändler vor dem örtlichen Regierungsgebäude selbst in Brand setzte. Das war der Funke, der das Feuer entfachte. Eine Massenbewegung folgte, die im Sturz der tunesischen Diktatur kulminierte. Die Bewegung breitete sich dann auf Ägypten und schließlich auf den gesamten arabischen Raum aus. Die Wut, die sich über Jahrzehnte angestaut hatte, brauchte nur einen Funken. Am Beginn fast einer jeden Revolution findet sich solch ein Ereignis.
Was ist überhaupt eine Revolution? Leo Trotzki gibt in seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ folgende Erklärung:
„Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse. In gewöhnlichen Zeitläufen erhebt sich der Staat, der monarchistische wie der demokratische, über die Nation; Geschichte vollziehen die Fachmänner dieses Handwerks: Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier, Journalisten. Aber an jenen Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich wird, durchbrechen diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen, überrennen ihre traditionellen Vertreter und schaffen durch ihre Einmischung die Ausgangsposition für ein neues Regime. Ob dies gut oder schlecht, wollen wir dem Urteil der Moralisten überlassen. Wir selbst nehmen die Tatsachen, wie sie durch den objektiven Gang der Entwicklung gegeben sind. Die Geschichte der Revolution ist für uns vor allem die Geschichte des gewaltsamen Einbruchs der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke.“
Dieses Zitat fasst das Wesen einer Revolution perfekt zusammen. Es ist vor allem der Einbruch der Massen – die sich heute in ihrer überwältigenden Mehrheit aus ArbeiterInnen zusammensetzen – in die Geschichte.
Wenn wir die letzten 100 Jahre und darüber hinaus betrachten, mangelte es nicht an Revolutionen. Es gab kein einziges Jahrzehnt, in dem nicht zumindest eine wichtige Revolution stattgefunden hat.
Die Russischen Revolutionen von 1905 und 1917; die Deutsche Revolution 1918-1923 und die Chinesische Revolution 1925-27; die Spanische Revolution 1931-39, die Massenstreiks in Frankreich 1936; die revolutionäre Welle in Italien, Griechenland und Frankreich zwischen 1943-45 und die Chinesische Revolution 1949; die Revolution in Ungarn 1956; der Mai 1968 in Frankreich; die Chilenische Revolution 1970-73, die Revolution in Portugal 1974; die Nicaraguanische Revolution 1980-83, die Revolution in Burkina Faso 1983-87; der revolutionäre Sturz der indonesischen Diktatur 1998; die Revolution in Venezuela unter Hugo Chavez in den 2000ern; die Arabischen Revolutionen 2011.
Die Liste ließe sich noch um einiges verlängern. In der Geschichte kommt es also immer wieder zu Momenten, in denen die Massen den Status quo nicht länger hinnehmen können. Sie gehen dann auf die Straße und beginnen ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Revolutionen können mit Erdbeben verglichen werden. Keiner kann genau vorhersagen, wann ein Erdbeben ausbricht. Erbeben sind generell auch eher seltene Phänomene. Aber wir können die Bewegung der tektonischen Platten untersuchen und so herausfinden, wo die Bedingungen für ein Erdbeben gegeben sind. Erdbeben passieren nicht ständig, aber sie sind letztendlich unausweichlich.
Genauso ist es auch mit Revolutionen. Keiner kann genau vorhersehen, wann eine Revolution ausbrechen wird. Aber wir studieren die ökonomischen Bedingungen, sehen die anwachsende Wut unter den Unterdrückten und können eine revolutionäre Epoche vorhersehen.
Der Unterschied besteht darin, dass Revolutionen von Menschen gemacht werden. Wir können uns darauf vorbereiten und selbst eine Rolle darin spielen, mit dem Ziel, die Revolution zum Sieg zu führen. Aber wie können wir das tun?
Wie laufen Revolutionen in der Realität ab? Wenn die ArbeiterInnen den Kapitalismus einfach in einem Schwung abschaffen könnten, gäbe es keine Notwendigkeit, sich groß Gedanken über die Revolution zu machen. Es bestünde keine Notwendigkeit in der Arbeiterbewegung Ideen, Programme, konkrete Maßnahmen etc. zu debattieren. Es wäre nicht notwendig, Organisationen mit einem bestimmten Programm aufzubauen.
AnarchistInnen betonen sehr stark die Spontanität von Massenbewegungen. Die verschiedenen anarchistischen Theorien laufen fast alle darauf hinaus, dass die Massen irgendwie spontan eine klassenlose Gesellschaft errichten können. Kropotkin schreibt in seinem berühmtesten Artikel über den Anarchismus zum Beispiel, dass sein Beitrag darin bestand „zu zeigen, wie sich eine große Stadt während einer revolutionären Periode – sofern ihre Einwohner die Idee akzeptiert haben – dem freien Kommunismus gemäß organisieren kann.“ Er impliziert damit, dass die ArbeiterInnen den Kapitalismus spontan auf revolutionärem Weg überwinden könnten. Kropotkin erklärt dabei allerdings nicht, wie es dazu kommen könnte, dass die EinwohnerInnen „die Idee des Kommunismus akzeptieren.“
Ohne Zweifel gibt es in allen Massenbewegungen und allen Revolutionen ein Element der Spontanität. Das ist zu Beginn sogar ihre Stärke. Spontan strömen Millionen von Menschen, die davor nichts mit Politik am Hut hatten, auf die Straße und überrumpeln die herrschende Klasse. Meistens überrascht der Ausbruch einer Revolution sogar die revolutionären Kräfte selbst. Zur Zeit der Russischen Februarrevolution 1917 hinkten die Bolschewiki in Petrograd den Ereignissen so weit hinterher, dass sie am ersten Demonstrationstag den ArbeiterInnen rieten, nicht auf die Straße zu gehen!
Aber ist das Element der Spontanität ausreichend, um den Kapitalismus zu stürzen? Die Geschichte lehrt uns, dass das nicht der Fall ist.
Und in Wahrheit gibt es in jeder Bewegung, in jedem Kampf, jeder Revolution – egal wie spontan die Ereignisse erscheinen mögen – Gruppen oder Individuen, die eine Führungsrolle spielen.
Ob es uns gefällt oder nicht: Die Massen drücken ihren politischen Willen durch Organisationen aus, oder zumindest durch Individuen, die eine Führungsrolle spielen, nachdem sie sich das Vertrauen ihrer KollegInnen erarbeitet haben.
Selbst in einer scheinbar spontanen Bewegung hält irgendjemand eine Rede, die die KollegInnen in einer Betriebsversammlung davon überzeugt, in den Streik zu treten. Eine Organisation oder ein Individuum schreibt das Flugblatt, das den ArbeiterInnen die Argumente für einen Streik darlegt. Eine Organisation oder ein Individuum bringt die Idee auf, den Betrieb zu besetzen. Diese Ideen kommen nicht aus dem Nichts.
Umgekehrt können Organisationen oder Individuen in der Arbeiterbewegung ihre Autorität auch dafür nützen, den Kampf in geordnete Bahnen zu lenken. Menschen oder Organisationen können für ein Ende des Streiks argumentieren. Manche werden sagen, dass ein Arbeitsplatz nicht besetzt werden kann, weil dadurch das Eigentumsrecht der Bosse verletzt wird.
Der Wettstreit um Ideen und Methoden ist nicht von vornherein entschieden. Nicht alle ArbeiterInnen ziehen dieselben Schlussfolgerungen, schon gar nicht gleichzeitig. Eine Minderheit wird die Notwendigkeit einer Betriebsbesetzung, eines Generalstreiks etc. vor dem Rest der Klasse erkennen. In einer Revolution wird eine Minderheit die Möglichkeit erkennen, dass die ArbeiterInnen die Kontrolle über die Wirtschaft übernehmen. Ihre Aufgabe besteht dann darin, den Rest der ArbeiterInnen zu überzeugen.
Selbst in einer scheinbar spontanen Bewegung wird die eine oder andere Organisation früher oder später eine führende Rolle spielen.
Trotzki erklärt in „Klasse, Partei und Führung“:
„Die Geschichte ist ein Prozess von Klassenkämpfen. Aber die Klassen bringen ihr volles Gewicht nicht automatisch und gleichzeitig zum Tragen. Im Verlauf des Kampfes entwickeln die Klassen verschiedene Organe, die eine wichtige und unabhängige Rolle spielen und Deformationen unterworfen sind. (…) In den entscheidenden Momenten historischer Wendungen kann die politische Führung ein genauso entscheidender Faktor werden wie das Oberkommando in den kritischen Momenten eines Krieges. Geschichte ist kein automatischer Prozess. Warum sonst Führer? Warum Parteien? Warum Programme? Warum theoretische Auseinandersetzungen?“
Die unterschiedlichen Strömungen in der Arbeiterbewegung drücken sich in verschiedenen Organisationen aus. Auch MarxistInnen organisieren sich – und wollen eine revolutionäre Partei aufbauen.
Der Begriff „Partei“ hat in bestimmten Schichten der Arbeiterklasse und Jugend heute einen negativen Beigeschmack – und das aus gutem Grund. Die bestehenden politischen Parteien tun alles, um diese Schichten abzustoßen. Selbst die sogenannten „linken“ Parteien beugen sich den Wünschen der Banken und erledigen die Drecksarbeit für die Bürgerlichen, wenn sie an der Macht sind. Manchmal agieren sie sogar härter als die Rechte. Das war beispielsweise bei der Syriza-Regierung in Griechenland 2015 der Fall.
Wenn MarxistInnen von der Notwendigkeit einer revolutionären Partei sprechen, meinen wir damit keine Wahlmaschinerie. Eine Partei ist nach unserem Verständnis zuallererst Ideen, ein Programm basierend auf diesen Ideen und Methoden, um das Programm umzusetzen. Erst dann kommen die Struktur und die Organisation, die dieses Programm in der Bewegung verbreiten und Menschen dafür gewinnen können.
Wie wir bereits erklärt haben, gibt es innerhalb der Arbeiterklasse so etwas wie einen natürlichen Drang zur Organisation, was zur Gründung von Gewerkschaften und Parteien führt. Die unterschiedlichen Strömungen in der Arbeiterbewegung drücken sich in verschiedenen Organisationen aus.
Gewerkschaften versuchen ihrer Natur nach so viele ArbeiterInnen wie möglich zu vereinen. Wer vorschlägt, dass Gewerkschaften nur aus revolutionären ArbeiterInnen bestehen sollen, hätte dann wahrlich schwache Gewerkschaften. Aber eine revolutionäre Partei ist nicht vergleichbar mit einer Gewerkschaft.
In einem „Brief an einen französischen Syndikalisten über die Kommunistische Partei“ schreibt Trotzki:
„Was muss diese initiative Minderheit [die Partei, Anm. d. Autors] sein? Es ist offensichtlich, dass sich nicht nach Berufsgruppen oder Regionen organisieren kann. Es handelt sich nicht um fortschrittliche Metallarbeiter, Eisenbahner oder Tischler, sondern um die klassenbewusstesten Proletarier im ganzen Lande. Sie müssen sich zusammenschließen, ein wohldefiniertes Aktionsprogramm ausarbeiten, durch innere Disziplin eine feste Einheit schmieden und auf diese Weise einen führenden Einfluss auf den gesamten Kampf der Arbeiterklasse sichern: auf ihre Organisationen und vor allem auf ihre Gewerkschaftsverbände.“ (eigene Übersetzung)
Nicht alle Schichten der Arbeiterklasse und Jugend ziehen gleichzeitig dieselben Schlussfolgerungen. Es gibt auch genügend ArbeiterInnen, die der Meinung sind, dass der Kapitalismus das beste System ist. Andere sind zwar gegen den Kapitalismus, glauben aber nicht, dass er gestürzt werden kann. Wiederum andere stehen dieser Frage gleichgültig gegenüber. Aber einige kommen zu dem Schluss, dass der Kampf für den Sozialismus notwendig ist. Wenn sie das verstanden haben, werden sie auch versuchen, die Arbeiterbewegung für diese Position zu gewinnen.
Die Aufgabe dieser sozialistischen Minderheit (Trotzki spricht von den „Kadern“ der Bewegung) besteht selbstverständlich darin, sich zu organisieren und im Klassenkampf das Vertrauen der anderen Schichten der Arbeiterklasse zu gewinnen. In diesem Bestreben werden sie umso effektiver sein, wenn sie sich auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms in einer Organisation zusammenschließen.
In den Diskussionen zum „Übergangsprogramm“ erklärte Trotzki:
„Was ist nun die Partei? Worin besteht ihr Zusammenhalt? Dieser Zusammenhalt ist ein gemeinsames Verständnis der Ereignisse, der Aufgaben; und dieses gemeinsame Verständnis – das ist das Programm der Partei. Genau wie moderne Arbeiter, weniger noch als einst die Barbaren, nicht ohne Werkzeuge auskommen können, so hat die Partei ihr Werkzeug im Programm. Ohne das Programm muß jeder Arbeiter sein Werkzeug improvisieren bzw. improvisierte Werkzeuge suchen, und eines widerspricht dann dem anderen.“ („Das Übergangsprogramm“, 1997, Arbeiterpresse Verlag, Essen. S. 165.)
Ein Programm und eine Organisation müssen vor der Revolution herausgebildet werden, so wie sich ein Arbeiter die Werkzeuge beschaffen muss, bevor er an die Arbeit geht.
Was passiert, wenn es keine revolutionäre Führung oder revolutionäre Organisation gibt? Oder wenn die bestehenden Organisationen die Bewegung zurückhalten?
In seiner Broschüre „Klasse, Partei und Führung“ analysierte Trotzki die Gründe für die Niederlage der Spanischen Revolution von 1931-39. Dieses inspirierende Ereignis ist das vielleicht tragischste Beispiel dafür, was passiert, wenn die Arbeiterklasse alles versucht, um den Kapitalismus zu stürzen, aber über keine revolutionäre Führung verfügt bzw. wenn sich die bestehenden Organisationen weigern, die Macht zu ergreifen.
Die Krise der 1930er Jahre traf Spanien besonders hart. Die Arbeiterklasse und die Bauernschaft lebten in erdrückender Armut. Die Großgrundbesitzer und Kapitalisten (oft ein und dieselben Personen) hatten den Lebensstandard der Massen auf ein elendes Niveau gedrückt, um die eigenen Profite sichern zu können. 1931 sah sich die herrschende Klasse angesichts einer revolutionären Massenbewegung jedoch gezwungen, die Monarchie aufzugeben, und es wurde die Republik ausgerufen. Doch das allein löste die Probleme der ArbeiterInnen und der armen Bauernschaft nicht.
Im Februar 1936 brachten die Massen nach zwei Jahren unter einer rechten Regierung die Volksfront an die Macht. Diese Regierung bestand aus der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei sowie der POUM (einer linken Partei, die sich selbst als marxistisch bezeichnete, jedoch ständig zwischen revolutionären und reformistischen Methoden schwankte) und hatte auch die Unterstützung des wichtigsten Gewerkschaftsverbandes, der anarchistischen CNT. Diese Arbeiterorganisationen banden auch die bürgerlichen Republikaner in die Regierung mit ein. Um deren Beteiligung zu ermöglichen, sah sich die linke Volksfrontregierung gezwungen ihr Programm abzuschwächen und ihre sozialen Reformvorhaben im Interesse der Bauernschaft und der Arbeiterklasse zu verlangsamen. Das bürgerliche Eigentum blieb unangetastet, und die Volksfrontregierung ging in der Folge sogar so weit, dass sie Arbeitskämpfe unterdrückte.
Ohne auf die von der Volksfront getätigten Reformversprechungen warten zu wollen, setzten die ArbeiterInnen eigenständig die 44-Stundenwoche und Lohnerhöhungen durch. Sie befreiten die politischen Gefangenen, die unter der rechten Regierung eingesperrt worden waren, und zwischen Februar und Juli 1936 gab es in jeder wichtigen spanischen Stadt zumindest einen Generalstreik. Eine Million ArbeiterInnen befanden sich Anfang Juli 1936 im Streik.
Die Arbeiterbewegung ging aus der Sicht der Bürgerlichen zu weit. Am 17. Juli 1936 startete General Francisco Franco einen faschistischen Putsch, der die volle Unterstützung der Industriellen und Großgrundbesitzer hatte. Sein Ziel war es, die Regierung zu stürzen, die Gewerkschaften und Arbeiterparteien zu zerschlagen und eine starke Regierung zu bilden, sodass die Kapitalisten die Ausbeutung der Arbeiterklasse und der Bauernschaft fortsetzen konnten, ohne ständig auf kollektive Gegenwehr zu stoßen. Angesichts dieses faschistischen Staatsstreichs weigerten sich die Parteien der Volksfront die Arbeiterklasse zu bewaffnen.
Trotz der Passivität dieser Parteien taten die ArbeiterInnen spontan alles in ihrer Macht Stehende, um den faschistischen Putsch abzuwehren. Sie ergriffen Stöcke, Küchenmesser und andere Waffen, die sie bei Hand hatten, verbrüderten sich mit den Soldaten und drangen in die Kasernen ein, um an echte Waffen zu gelangen. Sie bildeten Arbeitermilizen, die die bürgerliche Polizei ersetzten. Zusätzlich zu diesen „militärischen“ Verteidigungsmaßnahmen gegen den Faschismus ergriffen die ArbeiterInnen auch ökonomische Maßnahmen. In Katalonien gingen der Transport und die Industrie fast vollständig in die Kontrolle von Arbeiter- und Fabrikkomitees über. Neben der Zentralregierung in Madrid und der Regierung in Katalonien war eine zweite Macht im Entstehen begriffen – eine Arbeiterdemokratie.
Aber was folgte darauf? Die Führung aller Organisationen – die der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei, der POUM und der anarchistischen CNT – bremsten die Bewegung. In Katalonien waren sie daran beteiligt, die Arbeiterkomitees wieder aufzulösen. Die sozialistischen und kommunistischen ParteiführerInnen waren ganz vorne mit dabei, wenn es darum ging, den ArbeiterInnen zu erklären, dass sie nicht die Fabriken besetzen, sondern besser heimgehen und den Kampf gegen den Faschismus der bürgerlichen Regierung überlassen sollten. Die POUM hechelte den anderen Organisationen hinterher und trat im Herbst 1936 in Katalonien in die bürgerliche Regierung ein, die Strafmaßnahmen zur Eindämmung der Revolution beschloss.
Besonders beachtenswert ist hier die Haltung der anarchistischen Führung des Gewerkschaftsverbandes CNT. Damals prahlten sie sogar damit, dass sie die Macht ergreifen hätten können: „Wenn wir die Macht ergreifen hätten wollen, so wäre das im Mai [1937] sicherlich möglich gewesen. Aber wir sind gegen eine Diktatur.“
Weil sie AnarchistInnen waren, und daher ganz generell gegen jede Form von Herrschaft sind, weigerten sich die Führer der CNT die Arbeitermacht abzusichern, die gerade entstanden war. Dadurch wurde eine riesige Chance vergeben. Aber dieselben AnarchistInnen, die sich weigerten im Namen der Arbeiterklasse die Macht zu übernehmen, hatten kein Problem damit, in Katalonien in die bürgerliche Regierung einzutreten!
Die ArbeiterInnen wurden dadurch schwer demoralisiert. Diese tragische Geschichte endete mit dem Sieg Francos im Bürgerkrieg 1936-39 und der Machtergreifung durch den Faschismus.
Warum wurde die Spanische Revolution besiegt?
Die Arbeiterklasse nahm spontan den Kampf gegen den Faschismus auf und ergriff vor allem in Katalonien die Kontrolle in den Betrieben. Die ArbeiterInnen taten genau das, was damals notwendig war. Aber die FührerInnen aller Arbeiterorganisationen schoben dieser Bewegung von unten einen Riegel vor. Wie Trotzki in „Klasse, Partei und Führung“ erklärt, ist es in einer solchen Situation nicht leicht für die Arbeiterklasse, den Konservativismus der eigenen Führung zu überwinden:
„Man muss schon absolut gar nichts auf dem Gebiet der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Klasse und Partei, zwischen den Massen und der Führung begriffen haben, um die leere Phrase nachzuplappern, die spanischen Massen seien einfach ihren Führern gefolgt. Sie versuchten zu jeder Zeit, auf den richtigen Weg zu gelangen. Das einzige was gesagt werden kann, ist, dass es über die Kraft der Massen ging, mitten im Kampf eine neue Führung aufzubauen, die den Erfordernissen der Revolution entsprochen hätte. Wir stehen vor einem zutiefst dynamischen Prozess, wo die verschiedenen Stadien der Revolution sehr schnell auf einander folgen, wo die Führung oder verschiedene Teile der Führung plötzlich zum Klassenfeind überlaufen“
Und weiter:
„Aber sogar dann, wenn die alte Führung ihre innere Korruption offenbart hat, kann die Klasse sich nicht aus dem Stegreif eine neue Führung schaffen, zumal wenn sie nicht aus der vorangegangenen Periode starke revolutionäre Kader ererbt hat, die fähig sind, sich den Zusammenbruch der alten führenden Partei zunutze zu machen.“
Die Spanische Revolution war bei weitem kein Einzelfall, und ihre Lehren sind alles andere als nur eine Sache der Vergangenheit.
Erst 2019 brach in Lateinamerika, Nordafrika und im Nahen Osten eine neuerliche revolutionäre Welle aus. In Chile, Ecuador, Kolumbien, im Irak, im Libanon, in Algerien und im Sudan sahen wir überall Generalstreiks, Massenbewegungen von teilweise revolutionärem Ausmaß. Und überall stellte sich dieselbe Frage nach der revolutionären Führung. Das Fehlen einer solchen Organisation war ganz entscheidend für den vorläufigen Ausgang dieser Ereignisse.
Das Beispiel der Revolution im Sudan ist besonders eindrücklich. Im Dezember 2018 brach eine Massenbewegung gegen den Diktator Umar al-Baschir aus. Die extreme Armut, die vom IWF erzwungene Sparpolitik und die massive Arbeitslosigkeit brachten die Massen auf die Straßen. Die revolutionären AktivistInnen besetzten in der Hauptstadt Khartum große Plätze.
Ein Artikel in der „Financial Times“ beschrieb die Situation wie folgt:
„Man kann nicht genau wissen, wie es sich 1917 in Russland angefühlt haben muss, als der Zar gestürzt wurde, oder in Frankreich 1871 in den aufregenden, von Idealismus erfüllten Tagen der kurzlebigen Pariser Kommune. Aber es muss sich in etwa so angefühlt haben, wie Khartum im April 2019.“
Das war eine wahrhafte Revolution! Im April war die herrschende Klasse gezwungen, den Diktator fallen zu lassen. Ein Militärischer Übergangsrat wurde gebildet, um den Machterhalt des Militärs zu sichern.
Die tragende Organisation hinter den Protesten war die „Sudanese Professionals Association“ (SPA). Diese rief zu Demonstrationen und Ende Mai sogar zu einem Generalstreik auf und forderte die Armee zum Machtverzicht auf. Der Generalstreik legte das Land komplett lahm.
Anfang Juni entsandte das Regime Milizen, um die Platzbesetzung in Khartum aufzulösen. Die Massen ließen sich dadurch aber nicht einschüchtern und die SPA organisierte einen weiteren Generalstreik, der ebenfalls erfolgreich war. Verteidigungskomitees wurden gegründet.
Hier gab es eine wirkliche Chance zur Machtübernahme durch die Massenbewegung, eine Chance, die Kontrolle über die Wirtschaft zu ergreifen. Doch die SPA rief stattdessen dazu auf, den Streik zu beenden. Dann verhandelte sie mit dem Militärrat eine dreijährige Übergangsphase bis zu demokratischen Wahlen aus. Das Ergebnis ist, dass heute, zwei Jahre später, immer noch das Militär an der Macht ist und das Elend weiter besteht.
Was fehlte im Sudan? Die ArbeiterInnen traten zweimal in den Generalstreik, besetzten trotz Repression die Plätze und bildeten Basiskomitees, um die Bewegung zu organisieren. Die ArbeiterInnen gaben auch in diesem Fall ihr Bestes. Sie hätten die Macht ergreifen können.
Doch die Organisationen, die in den Augen der Massen über große Autorität verfügten, schlossen einen Kompromiss mit dem Militär, anstatt die Macht zu ergreifen. Wie wir bereits erklärt haben, kann man in einer solchen Situation keine neue Organisation improvisieren.
Ob es einem gefällt oder nicht: Man kann der Notwendigkeit, sich zu organisieren, nicht entkommen. Solange die Arbeiterbewegung von der falschen Führung angeleitet wird, solange die Arbeiterorganisationen die Bewegung zurückhalten, besteht unsere Aufgabe darin, in Vorbereitung auf künftige revolutionäre Bewegungen eine politische Alternative aufzubauen – und zwar eine genuin revolutionäre Partei.
Diskutiert man die Rolle einer revolutionären Partei, kommt man nicht umhin, auf die Erfahrungen der Russischen Revolution von 1917 einzugehen.
Nicht ohne Grund widmen wir dem Studium dieser Revolution so viel Zeit. Zum ersten Mal in der Geschichte – abgesehen von der kurzen Episode der Pariser Kommune 1871 – ergriffen die ArbeiterInnen und die Unterdrückten die Macht, stürzten den Kapitalismus und unternahmen die ersten Schritte im Aufbau einer Arbeiterdemokratie und einer sozialistischen Gesellschaft. Die Siege der Vergangenheit studieren, kann einen wichtigen Beitrag leisten in der Vorbereitung auf zukünftige Kämpfe.
Der Sieg der russischen Arbeiterklasse im Oktober 1917 kam nicht von ungefähr.
Im Februar 1917 befand sich Russland inmitten eines verheerenden Weltkriegs. An der Front wollten die Arbeiter und Bauern „in Uniform“ nicht länger für Interessen, die nicht die ihren waren, kämpfen. Die ArbeiterInnen in den Fabriken und ihre Familien litten Hunger. Der Status quo war nicht länger erträglich. Auf Initiative der Petrograder Arbeiterinnen traten auch die männlichen Arbeiter in der Stadt in den Streik und nach einer Woche der Massenmobilisierungen musste der Zar zurücktreten.
Im Zuge des Kampfes bildete sich der Petrograder Sowjet (=Rat), und Sowjets sprossen in ganz Russland aus dem Boden. Die Sowjets waren erweiterte Streikkomitees, die dafür zu sorgen begannen, dass die Gesellschaft im Interesse der ArbeiterInnen funktionierte. De facto hatten die Sowjets die Macht in ihren Händen.
Doch neben den Sowjets bildete die Bourgeoisie in ihrem verzweifelten Versuch, den Kapitalismus zu retten, eine „provisorische Regierung“. Diese „Doppelherrschaft“ hielt bis zum Oktober 1917 an.
Zwischen Februar und Oktober, das von mehreren Auf und Abs der Revolution gekennzeichnet war, bewies die provisorische Regierung, dass sie keinerlei Interesse daran hatte, die Forderungen der Massen zu erfüllen: Friede, Brot und Land.
In den ersten Monaten der Revolution hatten in den Sowjets die damaligen reformistischen Parteien, die Sozialrevolutionäre (SR) und die Menschewiki, eine Mehrheit. Sie nützten ihre Position dafür, der bürgerlichen provisorischen Regierung das Vertrauen der Sowjets zu sichern. Führende Vertreter dieser Parteien traten sogar in diese Regierung ein. Die Menschewiki und SR glaubten, dass es „zu früh“ für die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse sei, dass die Bourgeoisie das Land führen sollte und der Kampf für den Sozialismus erst später auf die Tagesordnung kommen sollte.
Mit der Zeit diskreditierten sich die Menschewiki und die SR jedoch in den Augen der ArbeiterInnen, der Soldaten und der Bauernschaft. Doch zum Glück gab es eine Alternative. Die Massen wandten sich den Bolschewiki unter der Führung von Lenin und Trotzki zu. Diese hatten Monate damit verbracht, geduldig zu erklären, dass es notwendig und möglich war, den Bürgerlichen die Macht zu entreißen. Das war die Grundlage, um das Vertrauen der Massen gewinnen zu können. So konnten die Bolschewiki die immense Energie und Initiative der Massen für den Sieg im Oktober 1917 nutzen.
In der Russischen Revolution übernahmen die ArbeiterInnen zum ersten Mal in der Geschichte die Macht. Warum waren sie erfolgreich, wo so viele andere Bewegungen gescheitert sind?
Es kann nicht daran liegen, dass die russischen ArbeiterInnen im Vergleich etwa zu den spanischen ArbeiterInnen der 1930er eine größere politische „Reife“ an den Tag legten. Es lag auch nicht daran, dass die russischen ArbeiterInnen kämpferischer waren als die spanischen. Der Unterschied lag schlicht und ergreifend in der Existenz der bolschewistischen Partei.
Die Bolschewiki hatten die Russische Revolution nicht losgetreten. Obwohl Bolschewiki in der Februarrevolution durchaus schon eine führende Rolle spielten, war die revolutionäre Stimmung der Massen ein direktes Resultat der desaströsen Lage im Land. Trotzki ging auf diese Frage in seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ ein:
„Man beschuldigt uns, daß wir die Stimmung der Massen erzeugen; das ist eine Unwahrheit, wir versuchen nur, sie zu formulieren.“
Genau das ist die Rolle einer marxistischen Organisation: Sie muss bewusst formulieren, was die ArbeiterInnen halb-bewusst oder unbewusst bereits verstanden haben.
Aber die bolschewistische Partei bildete sich nicht erst spontan im Jahr 1917, sondern konnte auf eine lange Geschichte zurückblicken. Der Aufbau einer revolutionären Partei kann nicht von einem Tag auf den anderen, inmitten revolutionärer Ereignisse passieren, sondern braucht Zeit und Kraft.
Die russischen MarxistInnen hatten ihre Arbeit in den 1880er und 1890er Jahren begonnen. Sie bildeten kleine, noch sehr isolierte Gruppen, die Lesezirkel organisierten, um marxistische Theorie zu studieren. 1898 wurde die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) offiziell gegründet. Die Spaltung der SDAPR in zwei Fraktionen, die Bolschewiki und Menschewiki, fand 1903 statt. Die Bolschewiki verteidigten konsequent den Marxismus und 1912 trennen sie sich endgültig von den Menschewiki, um eine unabhängige Partei zu gründen.
Heute hören wir oft, dass sich die Linke einfach zusammentun und ihre Unterschiede beiseitelegen sollte. Wir werden gefragt: Warum gibt es so viele sozialistische oder linke Organisationen? Warum beharrt die IMT so sehr auf marxistischer Theorie? Die Wahrheit ist jedoch, dass durch eine Vereinigung von Gruppen ohne tatsächlicher politischer Übereinstimmung Handlungsunfähigkeit vorprogrammiert ist. Theoretische Differenzen werden dann bei jeder wichtigen Frage zutage treten und die „vereinte“ Organisation wird nicht vom Fleck kommen. Ein Kajak, in dem zwei Personen in unterschiedliche Richtung paddeln, dreht sich im Kreis, während eine einzelne Person vorwärts kommt.
Jede politische Gruppe stützt sich auf die eine oder andere Theorie. Das ist eine der wichtigsten Lehren aus der Geschichte des Bolschewismus. Lenin erklärte schon 1900:
„Ehe wir uns einigen und um uns zu einigen, müssen wir uns zunächst entschieden und bestimmt voneinander abgrenzen. Sonst wäre unsere Einigung nur eine Fiktion, die die vorhandene Zerfahrenheit verhüllt und ihre radikale Beseitigung behindert. Es ist also begreiflich, dass wir nicht die Absicht haben, unser Blatt zu einem einfachen Sammelplatz der verschiedenartigen Anschauungen zu machen. Wir werden es, im Gegenteil, im Geiste einer streng festgelegten Richtung führen. Diese Richtung kann durch das eine Wort: Marxismus gekennzeichnet werden (…)“ (Ankündigung der Redaktion der ‚Iskra‘)
15 Jahre lang bauten die Bolschewiki auf Basis eines gemeinsamen Programms geduldig eine Organisation auf. Sie bildeten schon vor Ausbruch der Revolution ihre Mitglieder in den Ideen des Marxismus aus, mit dem Ziel, dass diese eine führende Rolle in der Arbeiterbewegung spielen sollten. Das Studium der Theorie und der Geschichte ist für den Aufbau einer revolutionären Organisation auch heute noch essenziell.
Hätte es 1917 in Russland nur die Menschewiki und Sozialrevolutionäre gegeben, sie hätten mit Sicherheit die Revolution in eine Niederlage geführt. Glücklicherweise gab es in Gestalt der Bolschewiki eine Alternative, die im Laufe des Jahres 1917 die ArbeiterInnen für sich gewinnen konnten – und zwar auf Grundlage der Erfahrungen, die die Massen zwischen Februar und Oktober selbst machten. Das erklärt auch Trotzki in „Klasse, Partei und Führung“:
„Nur schrittweise, nur auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrung durch mehrere Stadien hindurch können die breiten Schichten der Massen sich schließlich davon überzeugen, dass eine neue Führung entschlossener, verlässlicher, ergebener ist als die alte. Freilich, in einer Revolution, d.h. wenn sich die Ereignisse überschlagen, kann eine schwache Partei rasch zu einer mächtigen heranwachsen, falls sie klar den Verlauf der Revolution begreift und zuverlässige Kader besitzt, die sich nicht an Phrasen berauschen und nicht durch Verfolgungen einschüchtern lassen. Aber eine solche Partei muss schon vor der Revolution bestehen, weil der Erziehungsprozess der Kader eine beträchtliche Zeit in Anspruch nimmt, und die Revolution diese Zeit nicht gewährt.“
In Russland existierte diese Partei rechtzeitig. Im Februar 1917 zählten die Bolschewiki rund 8.000 Mitglieder. Zur Zeit der Machtübernahme im Oktober waren sie auf Basis ihrer korrekten politischen Perspektive auf 250.000 Mitglieder angewachsen.
Aber wie gelangten die Bolschewiki zu einer korrekten politischen Perspektive? Ist die Existenz einer Partei an und für sich schon ausreichend?
Der Aufstieg der Bolschewiki bis zur Machtübernahme war kein geradliniger. Es ist nicht allgemein bekannt, aber zwischen März und April 1917 hatte die Führung der Bolschewiki, die sich in Russland befand, keinerlei Bestrebungen, den Kampf um die Macht zu führen. Lenin und Trotzki waren zu der Zeit noch auf dem Weg aus dem Exil zurück nach Russland, und die Führung der Bolschewiki in Petrograd bestand zu jener Zeit aus Stalin und Kamenew. Unter ihrer Führung vertrat die bolschewistische Zeitung „Prawda“ im Wesentlichen die Linie der Menschewiki, sprich, es sei „noch zu früh“ für die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse.
Einige Basismitglieder der bolschewistischen Partei lehnten diese Linie ab. Sie waren mitten im Geschehen aktiv und verstanden, dass es möglich und notwendig war, dass die ArbeiterInnen mittels der Sowjets die Macht übernehmen. Die Macht im Land lag de facto bereits in den Händen der Sowjets, doch diese mussten ihre Macht erst noch absichern. Was sollten sie dem Argument entgegnen, es sei „noch zu früh“ für die Machtübernahme?
Trotzki schreibt in der „Geschichte der Russischen Revolution“:
„Den revolutionären Arbeitern fehlten nur die theoretischen Mittel, um ihre Positionen zu verteidigen. Doch waren sie bereit, den ersten Zuruf mit Widerhall zu beantworten.“
Dieser Zuruf kam mit Lenins Rückkehr nach Russland im April 1917. Lenin vertrat von da an folgende Position: Die Arbeiterklasse könne gemeinsam mit der armen Bauerschaft die Macht mittels der Sowjets ergreifen. Sie könne so nicht nur die Bauern befreien, Frieden bringen und den ArbeiterInnen Brot geben, sondern auch eine internationale sozialistische Revolution lostreten und in Russland die ersten Aufgaben einer sozialistischen Revolution angehen.
Im April 1917 war Lenin der einzige Führer der Bolschewiki, der diese Perspektive verteidigte (Trotzki war noch nicht in Russland angekommen und trat erst im Juli der Partei bei). Aber aufgrund seiner enormen persönlichen Autorität und insbesondere, weil seine Politik mit den Erfahrungen der bolschewistischen BasisaktivistInnen übereinstimmte, gelang es Lenin die bolschewistische Partei bei einer Konferenz Ende April von seiner Perspektive zu überzeugen. Von diesem Moment an war es das erklärte Ziel der Bolschewiki unter der Führung Lenins den ArbeiterInnen geduldig die Notwendigkeit einer Machtübernahme durch die Sowjets zu erklären.
Was wäre passiert, wenn Lenin nicht rechtzeitig nach Russland zurückgekommen wäre? In einer Revolution ist Zeit ein entscheidender Faktor. Die anderen Führer der Bolschewiki hätten vielleicht die Notwendigkeit der Sowjetmacht verstanden, aber es ist nicht gesagt, ob sie rechtzeitig zu diesem Schluss gekommen wären, als die ArbeiterInnen noch in Bewegung waren. Die Arbeiterklasse kann nicht in einem permanenten Zustand der Mobilisierung bleiben. Ab einem gewissen Punkt gelingt es entweder die Revolution zum Sieg zu führen, oder es machen sich Zweifel und Apathie breit. Hätte Lenin 1917 nicht mit seiner eigenen Linie interveniert, dann hätten die Bolschewiki höchstwahrscheinlich die Chance verpasst. Es reicht also nicht, eine Partei zu haben; die Partei braucht auch eine Führung, die einen klaren Plan hat.
Eine siegreiche sozialistische Revolution kann nur erfolgreich sein, wenn die Arbeiterklasse eine aktive Rolle in der Bewegung spielt. Aber die Arbeiterklasse braucht eine Partei. Und diese Partei braucht eine Führung, die weiß, was sie tut. Diese drei Elemente sind der Schlüssel für den Erfolg einer jeden Revolution.
Vergleicht man Spanien und Russland könnte man sich die Frage stellen, ob es nicht einfach Zufall war, dass die russische Arbeiterklasse auf eine Persönlichkeit wie Lenin zählen konnte? Hätte es nicht einfach einen spanischen Lenin gebraucht und die Geschichte hätte einen ganz anderen Verlauf genommen?
Erstens kam Lenin nicht als Lenin zur Welt: In gewisser Weise war er auch nur ein Produkt der russischen Arbeiterbewegung. Lenin war, was seine Persönlichkeit anlangt, das Ergebnis der Arbeit zum Aufbau einer revolutionären Partei, zu der er selbst ganz wesentlich beigetragen hatte. Ohne die Partei hätte Lenin seine Ideen 1917 nicht verbreiten können und nicht seine Rolle spielen können. Umgekehrt rührte aber Lenins Autorität in der Partei zum großen Teil gerade davon, dass er sie fast 25 Jahre lang geduldig mitaufgebaut hatte.
Trotzki fasst diesen Gedanken in „Klasse, Partei und Führung“ perfekt zusammen:
„Ein kolossaler Faktor für die Reife des russischen Proletariats im Februar oder März 1917 war Lenin. Er war nicht vom Himmel gefallen. Er verkörperte die revolutionäre Tradition der Arbeiterklasse. Damit Lenins Parolen ihren Weg zu den Massen finden konnten, mussten Kader existieren, selbst wenn es anfangs nur wenige waren; die Kader mussten Vertrauen in die Führung haben, ein Vertrauen, das auf der gesamten Erfahrung der Vergangenheit basierte. (…) Die Rolle und die Verantwortung der Führung in einer revolutionären Epoche ist enorm.“
Ähnliches schreibt Trotzki auch in der „Geschichte der Russischen Revolution“:
„Lenin war kein zufälliges Element der historischen Entwicklung, sondern Produkt der gesamten vergangenen russischen Geschichte. Er war tief in ihr verwurzelt. Gemeinsam mit den fortgeschrittenen Arbeitern hatte er während des vorangegangenen Vierteljahrhunderts ihren ganzen Kampf mitgemacht. (…) Lenin stand der Partei nicht von außen gegenüber, sondern er war ihr vollendetster Ausdruck. Indem er sie erzog, erzog er sich an ihr.“
Die revolutionäre Führung, die Lenin und die Bolschewiki verkörperten, kam nicht von irgendwo. Sie war das Ergebnis eines Vierteljahrhunderts geduldiger Aufbauarbeit. Indem er die Partei aufbaute, wurde Lenin zu dem Mann, der als Revolutionsführer in die Geschichte einging. Tausende andere Bolschewiki wurden ebenfalls Führer der Arbeiterbewegung, indem sie die Partei aufbauten. Diese Tatsache lässt sich anhand einer Anekdote veranschaulichen, wonach ein einziger Bolschewik in einer Fabrik alle seine Kollegen für das Parteiprogramm gewinnen konnte. Diese Autorität rührte von der ganzen Arbeit, mit der diese bolschewistischen ArbeiterInnen die Partei aufgebaut hatten. Der Aufbau der Partei ist dialektisch mit der Herausbildung jener Individuen verknüpft, die in der Revolution eine derart entscheidende Rolle spielen konnten.
Die Russische Revolution ist ein bestechendes Beispiel für die Rolle des Individuums in der Geschichte. Der Aufbau einer revolutionären Organisation ist ein kollektives Unterfangen, das jedoch erst die Herausbildung von Individuen ermöglicht, die in der Bewegung eine entscheidende Rolle spielen können. Das Ganze ist größer als die Summe seiner Teile; und die Stärkung des Ganzen stärkt wiederum seine Teile! Wir müssen das für die heutige Zeit verinnerlichen und die Erfahrung der Bolschewiki zum Ausgangspunkt unserer Arbeit machen.
Tragischerweise ereilte eine Zeitgenossin der Bolschewiki, die großartige Marxistin Rosa Luxemburg, ein ganz anderes Schicksal. Sie verbrachte ihr Leben mit dem Kampf gegen die reformistische Bürokratie in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Doch sie baute, anders als Lenin und die Bolschewiki in der SDAPR, keine revolutionäre Fraktion innerhalb der Partei auf. Der Spartakusbund gründete sich erst 1916 und selbst da war es mehr ein dezentrales Netzwerk denn eine revolutionäre Organisation.
Als die Revolution in Deutschland im November 1918 ausbrach, hatte der Spartakusbund kaum Verbindungen zu den Massen. Im Dezember 1918 beteiligte sich der Bund an der Gründung der Kommunistischen Partei (KPD). Doch von Beginn an zeichnete sich die Partei durch einen stark sektiererischen Zugang aus, was die Arbeit der Partei massiv erschwerte. Die ParteiaktivistInnen weigerten sich in den Gewerkschaften zu arbeiten und die Partei boykottierte die Parlamentswahlen, die ihnen eine Bühne zur Verbreitung ihrer Ideen geboten hätten. In dieser jungen Kommunistischen Partei trat Rosa Luxemburg gegen diesen Linksradikalismus auf. Doch sie hatte keine Gruppe von Kadern um sich, die die politische Situation so gut einschätzen konnte, wie sie selbst, und die ihre Ideen verbreiten hätte können. In der Folge beging die Kommunistische Partei einen Fehler nach dem anderen.
Im Januar 1919 provozierte die sozialdemokratische Regierung einen Aufstand der Arbeiterklasse in Berlin, um so die fortschrittlichsten Schichten der Arbeiterklasse, insbesondere jene, die sich in der KPD zusammengeschlossen hatten, zu isolieren und zu unterdrücken. Die Unerfahrenheit und die mangelnde Verankerung der jungen KPD innerhalb der Arbeiterklasse führten dazu, dass sie sich auf diese Provokation einließ. Im Zuge dieser Ereignisse, die als Spartakusaufstand in die Geschichte eingingen, wurde Rosa Luxemburg gemeinsam mit Karl Liebknecht, dem anderen großen Führer der Deutschen Revolution von 1918, ermordet. Die Tatsache, dass Rosa Luxemburg nicht rechtzeitig eine revolutionäre Partei aufgebaut hatte, führte zu einer tragischen Niederlage und zu ihrem eigenen Tod, womit die Avantgarde der deutschen Arbeiterklasse ihren wichtigsten Kopf verlor. Von 1919 bis 1923 schaffte es die Kommunistische Partei ohne ihre zwei wichtigsten Führungspersönlichkeiten nicht, die Arbeiterklasse zur Macht zu führen. Die Russische und die Deutsche Revolution können trotz ihres unterschiedlichen Ausgangs beide zur Untermauerung einer zentralen These des Marxismus herangezogen werden: Damit eine sozialistische Revolution siegreich sein kann, braucht es notwendigerweise eine revolutionäre Führung.
Einige Tage vor ihrer Ermordung zog Rosa Luxemburg wichtige Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen der ersten Monate der Deutschen Revolution. Mit dem „Spontaneismus“, der ihr von vielen ihrer angeblichen AnhängerInnen zugeschrieben wird, haben folgende Gedanken jedenfalls wenig zu tun:
„Der bisherige Zustand der mangelnden Führung, des fehlenden Organisationszentrums der Berliner Arbeiterschaft ist unhaltbar geworden. Soll die Sache der Revolution vorwärts gehen, soll der Sieg des Proletariats, soll der Sozialismus mehr als ein Traum bleiben, dann muß sich die revolutionäre Arbeiterschaft führende Organe schaffen, die auf der Höhe sind, die die Kampfenergie der Massen zu leiten und zu nutzen verstehen.“ (Das Versagen der Führer, 11. Jänner 1919)
Es ist kein Geheimnis, dass die marxistische Bewegung weltweit über eine ganze geschichtliche Epoche hinweg zurückgeworfen worden ist. Der Nachkriegsaufschwung gab dem Reformismus im Westen eine neue Grundlage und mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging eine beispiellose ideologische Offensive gegen den Marxismus einher. Die überheblichsten Wortführer der Bourgeoisie, wie Francis Fukuyama, riefen sogar das „Ende der Geschichte“ aus, denn die Geschichte hätte in der liberalen Demokratie ihren absoluten Höhepunkt erlangt.
Während die 1970er Jahre eine Zeit der Massenbewegungen und Revolutionen gewesen war, erlitt die Arbeiterbewegung in den 1980er und 1990er einmal mehr schwere Rückschläge. In den folgenden Jahrzehnten rückten die Organisationen der Arbeiterbewegung weit nach rechts.
Ein Beispiel: In der kanadischen Provinz Québec strich der größte Gewerkschaftsbund FTQ sein Bekenntnis zum „demokratischen Sozialismus“ aus dem eigenen Programm und der zweitgrößte Gewerkschaftsbund CSN verabschiedete sich von seinen antikapitalistischen Wurzeln, die in der Programmschrift „Ne comptons que sur nos propres moyens“ („Wir können uns nur auf unsere eigene Kraft verlassen“, Anm. d. Ü.) festgeschrieben standen. Zu oft stehen heute Leute an der Spitze der Arbeiterbewegung, die mit dem Kapital zusammenarbeiten, anstatt die Mitglieder zu mobilisieren. Zum Beispiel sagte der derzeitige Präsident der CSN zum 50. Jahrestag der Gründung der Industriellenvereinigung in Québec: „Wir haben manchmal Auseinandersetzungen und verschiedene Sichtweisen, aber wir kommen sehr gut miteinander aus, wenn es darum geht Arbeitsplätze zu schaffen, gute Arbeitsbedingungen herzustellen und das Wirtschaftswachstum in Québec zu fördern.“ Das ist bei weitem kein Einzelfall. Das ist heute de facto weltweit der Zustand der Führung der Arbeiterbewegung.
Innerhalb der Arbeiterbewegung sind die MarxistInnen mit der Unterstellung konfrontiert, wir würden behaupten, die ArbeiterInnen wären immer kampfbereit, wenn es nur eine revolutionäre Führung gäbe. Man unterstellt uns, wir würden die Meinung vertreten, die Gewerkschaftsführungen könnten jederzeit wie durch Magie Massenbewegungen lostreten.
Das ist aber eine völlige Karikatur der marxistischen Herangehensweise an die Beziehung zwischen der Arbeiterklasse und ihrer Führung.
Wie wir schon erklärt haben, sind die ArbeiterInnen nicht ständig kampfbereit. Revolutionen sind überhaupt historische Ausnahmesituationen, die unweigerlich aus dem Klassenkampf selbst entstehen. Aber was passiert vor einer Revolution? Welche Rolle sollte die Führung der Arbeiterbewegung spielen, wenn es keine revolutionäre Situation gibt – das heißt, die meiste Zeit über?
Auf die Gefahr hin, dass wir uns wiederholen: Die Arbeiterklasse ist keine homogene Masse. Bis zum Tag der Revolution wird es apathische Schichten geben, skeptische Schichten, und andere, die gegen die Angriffe des Kapitals entschlossen kämpfen wollen. Der widersprüchliche und heterogene Charakter des Klassenbewusstseins ist ein Fakt, den wir als Ausgangspunkt für unsere strategischen Überlegungen begreifen müssen.
Gewerkschaftsführer haben nicht die Macht, einfach mit dem Finger zu schnipsen und dann treten alle in den Streik. Aber eine gute Führung kann die Basis auf kommende Klassenkämpfe vorbereiten, einen Aktionsplan entwerfen und die Gewerkschaftsmitglieder schulen, damit sie zum Aufbau einer Massenbewegung beitragen können. Nein, es ist nicht möglich, einfach aus dem Nichts eine Massenbewegung zu organisieren. Aber ja, es ist möglich, die ArbeiterInnen zu schulen, welche Forderungen und welche Kampfmethoden es in den kommenden Kämpfen brauchen wird.
Ein sehr gutes Beispiel dafür, was eine gute politische Führung erreichen kann, liefert der Studierendenstreik, der 2012 in Québec stattfand. 2010 deutete die liberale Regierung in Québec an, dass die Studiengebühren erhöht werden würden. Schon damals begannen die AktivistInnen an den Unis damit, sich zu organisieren und auf einen Abwehrkampf vorzubereiten. Im März 2011 wurde offiziell verkündet, dass die Studiengebühren mit Herbst 2012 um 75% angehoben werden würden.
Die Führung der ASSÉ, der damals radikalsten Studierendengewerkschaft, nutzte das Jahr 2011 dafür, die Studierenden darüber zu informieren, was die Erhöhung der Studiengebühren bedeuten würde. Die Mobilisierung der Studierenden zielte ganz bewusst darauf ab, einen unbefristeten Generalstreik zu organisieren. Die meisten ASSÉ-AktivistInnen, die sich wohl als AnarchistInnen bezeichnet hätten, würden sicherlich nicht wollen, dass der Begriff „Führung“ mit ihrer Aktivität in Zusammenhang gebracht wird, aber man kann die Realität nicht ändern, indem man Dingen einen anderen Namen gibt. Auf jeden Fall spielten diese AktivistInnen eine führende Rolle, und zwar auf eine gute Art und Weise!
Da die Regierung nicht bereit war, von ihren Plänen abzurücken, organisierte die ASSÉ-Führung den größten Unistreik in der Geschichte Nordamerikas.
Eine führende Rolle zu spielen, steht in keiner Weise im Widerspruch zur größtmöglichen Einbeziehung der Basis. Im Gegenteil: Gerade deshalb, weil die ASSÉ-Führung einen Weg aufzeigte und tausende AktivistInnen auf einen Kampf gegen eine Erhöhung der Studiengebühren politisch vorbereitete, konnte sie den Kampfgeist und die Kreativität von hunderttausenden Studierenden entfachen, die sich in Québec an der Bewegung aktiv beteiligten.
Das Beispiel des Unistreiks zeigt die Rolle, die eine gute Führung spielen kann. Indem ein Weg nach vorne aufgezeigt wird, werden die Bedingungen geschaffen, unter denen tauende Menschen aktiv am Kampf teilnehmen können. Natürlich machte die ASSÉ-Führung auch einige Fehler. Im Sommer 2012, als die Liberalen Neuwahlen ankündigten, lehnte die ASSÉ es ab, (die Linkspartei, Anm. d. Ü.) Québec Solidaire zu unterstützen, die einzige größere Partei, die für ein freies Bildungssystem eintrat. Stattdessen ignorierte die ASSÉ letztendlich die Wahlen, während die meisten Studierenden den Streik beendeten und in der konkreten Phase an der Wahlurne versuchten, die Liberalen aus dem Amt zu jagen. Wir haben diese Bewegung an anderer Stelle analysiert. Aber dieser Fehler ändert nichts an der wichtigsten Lehre, die wir aus dieser Bewegung ziehen können: Es braucht eine Führung.
Die Frage der Führung der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften ist weltweit ein brennendes Problem. Wie oft hören wir, dass die ArbeiterInnen angeblich nicht kämpfen wollen? Dass man nicht so einfach einen Streik organisieren kann? In Québec verhandeln die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes seit über einem Jahr. Die von der Rechtspartei CAQ (Coalition Avenir Québec, Koalition für die Zukunft Québecs) angeführte Regierung gibt nicht nach und ist nur zu lächerlich geringen Zugeständnissen bereit. Während einige Lehrergewerkschaften für einen unbefristeten Streiks argumentieren, lassen andere Gewerkschaften nur über einen fünftägigen Streik abstimmen, wobei die Streiktage zu einer „passenden Zeit“ angesetzt werden sollen. Diese Herangehensweise haben wir an anderer Stelle schon kritisiert. In einer öffentlichen Veranstaltung, die von Labour Fightback in Quebec organisiert worden war, erklärte ein Regionalvorsitzender einer dieser Gewerkschaften mit einem Mandat für einen fünftägigen Streik seine Sicht auf die Rolle der Gewerkschaftsführung folgendermaßen:
„Es liegt nicht an uns [der Gewerkschaftsführung] zu entscheiden [ob ein Streik stattfindet], es ist die Entscheidung der Mitglieder, und sie können sich dafür entscheiden, wenn wir sie informieren… bei der FSE [der Gewerkschaft] hätten wir zu einem unbefristeten Streik aufrufen können, aber in den ‚plateaux‘ [den lokalen Gewerkschaftsgliederungen] sehe ich keine Delegierten, die sagen ‚los geht’s, machen wir einen unbefristeten Streik‘… Wir müssen Informationen weitergeben, wir sind als Gewerkschafts[führer] Marionetten, wir sind nicht diejenigen, die den Leuten sagen müssen, was zu tun ist… wenn jemand in meiner lokalen Generalversammlung kommen und sagen würde, ‚ich will einen unbefristeten Streik‘, ich würde das wollen, ich würde vor Freude zerplatzen.“
Diese Logik, die hier ins Extrem getrieben wurde, findet sich in der ganzen Bewegung. Wenn ArbeiterInnen nicht von sich aus die Methode des unbefristeten Streiks zum Thema machen, wäre es nach dieser Logik nicht die Aufgabe der Gewerkschaftsführung, einen solchen vorzuschlagen. Diese Logik ist eine sich selbst bewahrheitende Prophezeiung: Wenn die Führung nichts tut und den Mitgliedern keine mutige Lösung präsentiert (was als „den Leuten sagen, was zu tun ist“ erachtet wird), dann ist es nur logisch, dass die ArbeiterInnen kein Vertrauen haben, dass sie kämpfen und gewinnen können, und sie werden auch selbst keine kämpferischen Methoden vorschlagen!
Wir sagen nicht, dass man eine Massenbewegung organisieren kann, indem man mit den Fingern schnipst. Aber was wir sagen ist, dass es die Aufgabe der Gewerkschaftsführung ist, zu führen, und nicht einfach eine „Informationsstelle“ zu sein, die darauf wartet, dass die Mitglieder selbst zu radikalen Schlussfolgerungen gelangen. Die Gewerkschaftsführung muss einen Aktionsplan formulieren, die Mitglieder schulen, ihnen Selbstvertrauen geben, und damit die Bedingungen dafür schaffen, dass die Mitgliedschaft bereit für den kompromisslosen Klassenkampf ist – genauso wie es die Führung der Unibewegung 2012 tat.
Gegenwärtig wird die Arbeiterbewegung von Leuten angeführt, die an das kapitalistische System glauben, bzw. keine Möglichkeit sehen, dieses System zu stürzen. Die Gewerkschaftsführungen sind völlig abgehoben von der Lebensrealität der ArbeiterInnen. Anstatt den Kampf gegen das Kapital zu organisieren, tragen sie lieber zur Aufrechterhaltung des Status quo bei. Wenn es um die Kreativität und den Kampfgeist der eigenen Basis geht, sind sie zutiefst skeptisch.
Die aktuelle Führung der Arbeiterbewegung wird unter den Bedingungen der Krise immer mehr in Konflikt mit der kapitalistischen Realität geraten. Schon bald werden überall Sparpakete geschnürt werden. Der Kapitalismus wird immer deutlicher sein wahres Gesicht zeigen, und das bedeutet Schrecken ohne Ende für die arbeitenden Menschen. Wir sehen das bereits in den vergangenen Monaten in der Art und Weise, wie die Pandemie bekämpft wurde.
Aber was wird passieren, wenn die Führung der Arbeiterbewegung Angriffe auf die ArbeiterInnen zulassen und nichts tun wird? Sie werden sich in den Augen der ArbeiterInnen, die sie angeblich vertreten, diskreditieren. Trotzki erklärt, wie sich dieser Prozess vollziehen wird:
„Eine Führung wird vielmehr im Prozess der Zusammenstöße zwischen den verschiedenen Klassen oder der Reibung zwischen den verschiedenen Schichten einer gegebenen Klasse geformt. Einmal aufgestiegen, erhebt sich die Führung stets über die Klasse und wird dadurch den Einflüssen und dem Druck anderer Klassen ausgesetzt. Das Proletariat kann für lange Zeit eine Führung „dulden“, die schon eine vollständige innere Degeneration durchgemacht hat, die jedoch noch nicht die Gelegenheit hatte, dies angesichts großer Ereignisse zu zeigen.
Ein großer historischer Schock ist notwendig, um in aller Schärfe die Widersprüche zwischen der Führung und der Klasse zu enthüllen.“
Die Pandemie und die davon ausgelöste Wirtschaftskrise sind genau solche historische Schocks. Auf der ganzen Welt staut sich die Wut der Massen an. Die Lohnabhängigen leiden unter Arbeitslosigkeit, der Verschlechterung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen, während die Reichen täglich noch größere Vermögen anhäufen. Wir stehen am Beginn einer Epoche der Revolution, und zwar weltweit, doch die Führung der Arbeiterbewegung steckt immer noch in der Vergangenheit fest.
Was können SozialistInnen in dieser Phase also tun?
In einem kürzlich erschienenen Artikel der Industrial Workers of the World (IWW), schreibt einer ihrer Aktivisten:
„Die Leute denken, dass Führung bedeutet, eine Schärpe und eine Krone zu tragen, dass man einfach, indem man gewählt wurde, Glaubwürdigkeit genießt und alle auf einen hören – aber das stimmt einfach nicht.
Man muss einfach an der Basis Organisierungsarbeit leisten. Es ist nicht so, als könntest du das als Gewerkschaftsfunktionär nicht tun, aber Funktionär zu sein, trägt auch nichts dazu bei.“
In gewisser Weise stimmen wir unseren anarchosyndikalistischen FreundInnen in diesem Punkt zu. Sie greifen hier die Orientierung einzelner SozialistInnen an, die sich ohne Verankerung an der Basis in führende Gewerkschaftspositionen hieven lassen, weil sie glauben, dann leichter eine kämpferische sozialistische Politik betreiben zu können. Es gibt zahllose Beispiele von guten AktivistInnen, die sich auf eine derartige Strategie einlassen, nur um dann in den Führungsstrukturen isoliert zu sein und von der Bürokratie aufgesogen zu werden. MarxistInnen lehnen es ab, Führungspositionen anzunehmen, ohne davor eine entsprechende Basis aufgebaut zu haben.
Aber daraus einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Organisierung an der Basis und Gewerkschaftsführung abzuleiten, ist im Grunde falsch und berücksichtigt nur eine Seite des Problems. Viele reformistische GewerkschaftsführerInnen würden der Idee, dass gewählte FunktionärInnen keine Organisierungsarbeit an der Basis machen können, sogar zustimmen, weil sie genau dadurch der Verantwortung enthoben wären! Außerdem ist die Mobilisierung der Basis selbst eben auch ein Ausdruck von Führungsarbeit – es bedeutet nämlich, dass man seine KollegInnen in der Praxis anleitet. Aber was, wenn man die Basis organisiert hat, was dann? Was, wenn die Leute in führenden Gewerkschaftspositionen aktiv versuchen, die Basis wieder zu desorganisieren? Dann muss man sie stoppen. Aber wie? Wenn man nicht bereit ist, sie durch eine kämpferische Führung zu ersetzen, bedeutet das, dass man die Kontrolle über die Organisation in den Händen einer schlechten Führung belässt. Ob es einem gefällt oder nicht: Hier kommt man wieder an den Punkt, wo sich die Frage der Notwendigkeit einer Führung stellt, die den Herausforderungen der Bewegung gerecht wird. Es geht darum, der abgehobenen Gewerkschaftsführung eine klassenkämpferische Führung entgegenzustellen.
Welche Rolle sollten also SozialistInnen in der Arbeiterbewegung spielen? Wir sagen: Ja, wir müssen die Basis organisieren, die Methoden des Klassenkampfes verteidigen, die ArbeiterInnen für den Kampf gegen das kapitalistische System vorbereiten. Und auf dieser Basis können wir das Vertrauen und die Autorität unter den ArbeiterInnen gewinnen, die es braucht, um in den Gewerkschaften Führungspositionen einnehmen und die Bewegung anführen zu können. Und der beste Ort, um sich genau diesen Aufgaben zu widmen, ist eine gemeinsame revolutionäre Organisation.
Tatsache ist, dass es in den Gewerkschaften eine Reihe von Individuen gibt, die sich als SozialistInnen verstehen. Aber das allein ändert noch nichts am Charakter der Gewerkschaften. Das Problem ist, dass diese Personen meist isoliert sind und keine Organisation hinter sich haben, die es ihnen ermöglicht, wirklich sozialistische Politik gegen den Widerstand des Gewerkschaftsapparats, der nicht kämpfen will, durchzusetzen. Um ein wirkliches Gewicht in der Bewegung entfalten zu können, ist es notwendig sich gemeinsam mit denjenigen zu organisieren, die ebenfalls verstanden haben, dass es eine sozialistische Perspektive braucht.
Die Geschichte hat mehr als nur einmal gezeigt, und das nicht nur in der Arbeiterbewegung selbst, was mit SozialistInnen oder radikalen EinzelkämpferInnen passiert, die keine revolutionäre Organisation aufbauen. Unweigerlich kapitulieren sie früher oder später vor den existierenden Organisationen. So zum Beispiel Angela Davis, eine ehemalige kommunistische Aktivistin, die sehr respektiert ist, aber schon lange die Idee aufgegeben hat, dass man eine revolutionäre Partei aufbauen sollte. Bei den letzten US-Wahlen hat sie den demokratischen Kandidaten Joe Biden unterstützt. Das gleiche gilt für den Anarchisten Noam Chomsky oder den „akademischen Marxisten“ David Harvey. Politik wird von Organisationen gemacht. Wenn man keine organisatorische Alternative aufbaut, ordnet man sich unweigerlich dem „geringeren Übel“ des bestehenden Angebots unter.
Das Klassenbewusstsein kann sich unter bestimmten Bedingungen sehr sprunghaft entwickeln. Die meisten Menschen, die sich an großen Protestbewegungen oder gar an Revolution aktiv beteiligen, waren zuvor politisch nicht sonderlich interessiert und vielmehr apathisch. Das menschliche Bewusstsein ist unter normalen Bedingungen eben konservativ, aber es hat das Potential revolutionäre Formen anzunehmen.
SkeptikerInnen betonen stets die schwachen Seiten der Arbeiterklasse, verweisen auf die apathischen und demoralisierten Schichten der Klasse und argumentieren, davon abgeleitet, die Unmöglichkeit einer Revolution. Wir MarxistInnen betonen im Gegensatz dazu stets das revolutionäre Potential unserer Klasse.
Nein, die ArbeiterInnen sind natürlich nicht zu jedem Zeitpunkt bereit für eine Revolution. Indem wir jedoch jetzt schon versuchen, sozialistische Ideen in der Arbeiterbewegung zu verankern, leisten wir wichtige Vorarbeit, damit im Fall einer revolutionären Massenbewegung diese auch siegreich sein kann.
Im Zuge der COVID19-Pandemie machen weltweit Millionen ArbeiterInnen die Erfahrung, was es bedeutet, in Armut zu leben und von Zukunftsängsten geplagt zu werden. Aus diesem Chaos erwächst vor unseren Augen eine neue Generation, die bereit ist, gegen das kapitalistische System zu kämpfen.
Die beeindruckende „Black Lives Matter“-Bewegung, die vergangenes Jahr als Reaktion auf die Ermordung von George Floyd ausgebrochen war, hat gezeigt, dass die zunehmende Radikalisierung auch vor der größten imperialistischen Supermacht nicht haltmacht. Das ist das Potential, aus dem MarxistInnen ihren unerschütterlichen Optimismus ziehen.
Die sozialistische Revolution wird nicht automatisch passieren. Es braucht AktivistInnen, die in der Bewegung zielstrebig ein sozialistisches Programm vertreten. Auf sich allein gestellt, kann niemand etwas bewegen. Doch vereint unter einem gemeinsamen Banner, auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms und Theoriegebäudes, können wir einen unendlich größeren Einfluss entwickeln, als es jede Einzelkämpferin, jeder Einzelkämpfer je könnte. Indem du Teil einer revolutionären Organisation wirst, bekommst du die Möglichkeit dich weiterzubilden und zu entwickeln und du hilfst anderen, sich politisch zu entwickeln. Indem du Teil einer revolutionären Organisation wirst, baust du eine politische Alternative zu den bestehenden Organisationen, die die Arbeiterklasse bislang von einer Niederlage in die nächste geführt haben, mit auf. Indem du der revolutionären Organisation beitrittst, hilfst du bei der Verbreitung der Ideen des Marxismus in der Arbeiterklasse. Das ist das Angebot, das die International Marxist Tendency (IMT) ArbeiterInnen und Jugendlichen machen kann. Werde Teil dieses Projekts, das größer ist als jeder und jede von uns es allein sein kann.
Das letzte Wort überlassen wir Leo Trotzki, der uns wenige Monate vor seiner Ermordung folgende Zeilen hinterlassen hat:
„Für die kapitalistische Welt gibt es keinen Ausweg, es sei denn, man betrachtet einen hinausgezögerten Todeskampf als einen solchen. Es ist notwendig, sich auf lange Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, des Krieges, der Aufstände, kurzer Atempausen neuer Kriege und neuer Aufstände vorzubereiten. Eine junge revolutionäre Partei muss sich auf diese Perspektive gründen. Die Geschichte wird ihr genug Gelegenheiten und Möglichkeiten liefern, sich zu prüfen, Erfahrungen zu sammeln und zu reifen. Je rascher sich die Reihen der Vorhut zusammenschließen, desto mehr wird die Epoche der blutigen Erschütterungen verkürzt, desto weniger Zerstörung wird unser Planet erleiden. Aber das große historische Problem wird auf keinen Fall gelöst werden, bevor nicht eine revolutionäre Partei an der Spitze des Proletariats steht. Die Frage des Tempos und der Zeitintervalle ist von enormer Bedeutung; aber sie ändert weder die allgemeine historische Perspektive noch die Richtung unserer Politik. Die Schlussfolgerung ist einfach: Es ist notwendig, die Arbeit der Erziehung und Organisierung der proletarischen Avantgarde mit zehnfacher Energie weiterzutreiben.“
Fightback (Kanadische Sektion der IMT)
05.04.2021
Julien Arseneau
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