Die Verhandlungen über den neuen Landesmantelvertrag (LMV) für das Baugewerbe sind in vollem Gange. Um die Lebensbedingungen der ArbeiterInnen zu verteidigen, reicht Routine nicht mehr aus. Es braucht ein mutiges Aktionsprogramm und Basisgruppen in den Betrieben.
Der LMV für den Bau wird vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen verhandelt. Der Vertrag betrifft direkt 80’000 ArbeiterInnen. Indirekt ist er Taktgeber für die 8 % der ArbeiterInnen in der Schweiz, welche im Bausektor tätig sind. Es handelt sich auch um den Vertrag für den am stärksten organisierten Sektor des Landes. Mit anderen Worten: Das Ergebnis dieser Verhandlungen gilt als wichtigster Taktgeber für die GAVs in anderen Branchen. Die Gewerkschaften müssen hier aufzeigen, wie man gegen die Krise und die Inflation kämpft.
Die Patrons führen eine beispiellose Offensive gegen die MaurerInnen. Sie wollen die Arbeitsorganisation weiter «flexibilisieren», indem sie 50-Stunden-Wochen im Sommer durchsetzen und das System der Leistungslöhne verallgemeinern. Alles in allem sind die Absichten der Bosse klar: Sie wollen die Reihen der Arbeiterklasse durch krasseste Manöver spalten, wie die Stigmatisierung ausländischer und älterer ArbeiterInnen, und mit Leistungslöhnen und der generellen Liberalisierung der Arbeitsbeziehungen zerschlagen. Dadurch wollen sie Bedingungen schaffen, die es ihnen ermöglichen, ihre Profite zu maximieren.
In den letzten 30 Jahren haben die Arbeitsbelastung und der Stress auf den Baustellen zugenommen, was vor allem auf die sinkende Zahl der Beschäftigten und die gestiegenen Anforderungen der Bauherren zurückzuführen ist. Letztere verlangen kürzere Fristen für die Durchführung der Arbeiten. Die Folge dieses höllischen Arbeitstempos ist ein Anstieg der schweren Unfälle um 17,9 % in dieser Zeit.
Die Bosse haben von dieser Intensivierung voll profitiert. Die ArbeiterInnen hingegen spüren, wie ihre Körper und ihre Psyche durch die harte Arbeit leiden. Sie bezahlen die Profite der Bosse mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben. Denn anstatt mehr Leute einzustellen, lassen die Patrons lieber die Festangestellten mehr Arbeit verrichten (indem sie schneller arbeiten liessen und auch die Anzahl der Überstunden erhöhten) oder greifen auf Temporäre zurück, die sofort entlassen werden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Infolgedessen erreichte der Umsatz der Branche im Jahr 2021 satte 23,1 Milliarden Franken, was einer Steigerung von 4,5 % im Jahr entspricht, von der die ArbeiterInnen keinen Rappen gesehen haben.
Um dieser Arbeitsintensivierung entgegenzuwirken haben die Gewerkschaften korrekte Forderungen aufgestellt: Vergütung der Dienstfahrten, Einschränkung von Subunternehmern und Zeitarbeit, bezahlte 15-Minuten-Pausen, Kündigungsschutz für älterer Arbeiter, kürzere Arbeitstage, mehr Ferien und die Einrichtung eines Fonds, um die von den Chefs aufgrund des schlechten Wetters gestohlenen Arbeitsstunden zu entschädigen. All dies ist nur das Minimum für einen Vertrag, um der Offensive der Bosse gegen die Arbeiter, die unsere Häuser bauen, etwas entgegenzustellen. Ausserdem brauchen die ArbeiterInnen Lohnerhöhungen, damit die Reallöhne nicht von der Inflation gefressen werden.
Die Löhne der BauarbeiterInnen gingen in den letzten zehn Jahren real kontinuierlich nach unten. Der Median-Monatslohn ist zwischen 2010 und 2020 nur um 320 Franken (5,7 %) gestiegen. Mit der heutigen Inflation beginnen die Preise für lebensnotwendige Güter zu steigen. Wenn die Preise stärker steigen als der Lohn, bedeutet dies eine Senkung des Reallohns. In der Schweiz liegt die Inflation bereits bei 2,4 % und steigt weiter an. Folglich wurde bereits fast die Hälfte des Lohnanstiegs der letzten zehn Jahre aufgefressen. In Wirklichkeit ist die Situation sogar noch schlimmer. Viele alltägliche Konsumgüter sind noch teurer geworden: Seit 2017 sind die Mieten um 5 % und die Benzinpreise um 33 % gestiegen. Hinzu kommt, dass die Steuern und die Krankenversicherungsprämien steigen werden (letztere um schätzungsweise 5 % im nächsten Jahr). Das bedeutet, dass die Arbeiter heute schon eine kräftige Lohnerhöhung benötigen, um ihren derzeitigen Lebensstandard zu halten.
Die Bekämpfung der Inflation ist eine Schlüsselforderung für ein Programm, das dazu bestimmt ist, die laufenden und künftigen Vertragsverhandlungen zu leiten. Die bisher geforderten Lohnerhöhungen von 100 Franken oder 2 Prozent gehen an dieser Notwendigkeit vorbei, da sie immer noch einer Senkung der Reallöhne entsprechen! Wir brauchen eine allgemeine Lohnerhöhung von mindestens 6 bis 10 %. Eine einmalige Erhöhung reicht jedoch nicht aus, da die Inflation weiter anhält. Wir brauchen die gleitende Lohnskala: Der LMV muss den automatischen Teuerungsausgleich beinhalten.
Die Bosse werden sich weder durch rationale Argumente noch durch nettes Bitten erweichen lassen. Die Bauunternehmen spüren zunehmend die weltweite Krise des Kapitalismus. Die Branche hat lange Zeit von billigen Rohstoffimporten und niedrigen Zinssätzen profitiert. Doch diese beiden Elemente verschwinden nicht nur, sondern verkehren sich in ihr Gegenteil. Durch die Turbulenzen der Weltwirtschaft steigen die Kosten für Rohstoffe und die Zinssätze. Diese Probleme bestimmen schon jetzt den Alltag auf den Baustellen. Und das ist nur der Anfang. Die Unternehmer wollen ihre gestiegenen Kosten und die Unsicherheit auf die Arbeiter abwälzen. Um sich dagegen zu wehren, müssen die ArbeiterInnen kämpfen.
Die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in den letzten Jahrzehnten und die neuen Angriffe von Seiten der Patrons hämmern auf das Bewusstsein aller Arbeiterinnen und ArbeiterInnen in der Schweiz ein. Es wird immer klarer, dass es so nicht weitergehen kann. Diese Wut wird ihren Ausdruck finden. Bei den Verhandlungen über den Landesmantelvertrag liegt es an den Gewerkschaften, dieses Potenzial auszuschöpfen und die Art und Weise für den Kampf vorzubereiten und zu organisieren. Im Baugewerbe existiert eine Kampftradition und ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad. Das Potenzial hat sich erst kürzlich gezeigt, als sich die BauarbeiterInnen in Genf während der ersten Corona-Welle wehrten und die Baustellen schlossen, um ihre Gesundheit zu schützen. Die ArbeiterInnen werden den Gewerkschaften in den Kampf folgen, sobald diese zeigen, dass sie über ein korrektes politisches Programm und kämpferische Methoden verfügen.
Jede Gewerkschaftsstrategie muss mit den Forderungen beginnen, die objektiv notwendig sind, um den Lebensstandard aufrechtzuerhalten. In der gegenwärtigen Situation würde die Beibehaltung desselben Vertrags einen brutalen Rückschritt bedeuten. Die «Möglichkeit» oder «Unmöglichkeit», dieses Aktionsprogramm zu verwirklichen, ist hier eine Frage des Kräfteverhältnisses, die nur durch Kampf gelöst werden kann.
Nur ein kämpferisches Programm kann heute dieses Kampfpotenzial freisetzen. Es ist ein Risiko, diese Forderungen auf der Baustelle zu vertreten, die KollegInnen zu organisieren, zu demonstrieren und schliesslich zu streiken. Solch mutige ArbeiterInnen laufen Gefahr, von Polieren und Chefs schikaniert zu werden, aber auch potenziell ihren Arbeitsplatz und ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren. Entgegen den gängigen Vorurteilen ist es nicht mehr realistisch, kleine, «vernünftige» Änderungen zu fordern. Im Gegenteil: Die ArbeiterInnen werden nicht das Risiko eingehen, für kleine und unbedeutende Veränderungen zu kämpfen. Stattdessen sind sie bereit für Forderungen zu kämpfen, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Die Gewerkschaften müssen ihr Vertrauen wecken, indem sie zeigen, dass sie bereit sind, im Kampf für ihre Ziele bis zum Ende zu gehen. Diese Führungsrolle erfordert auch, dass man den ArbeiterInnen zutraut, eine aktive und prägende Rolle im Kampf zu spielen. Spaltung und Passivität können überwunden werden. Indem wir für Verbesserungen kämpfen, erkennen wir unsere Stärke. Diese Stärke beruht auf unserer Einheit und gibt uns Vertrauen in die Zukunft.
Die Organisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter am Arbeitsplatz ist der Schlüssel zu einem erfolgreichen Kampf. Nur die fortschrittlichsten ArbeiterInnen können ihre Kollegen davon überzeugen, in den Streik zu treten. Bei dieser Hauptaufgabe hinken die Gewerkschaften hinterher. Es ist entscheidend, nicht das durchschnittliche politische Bewusstsein auf alle ArbeiterInnen zu projizieren und dann pessimistische Schlussfolgerungen zu ziehen. Es gilt, die fortschrittlichsten ArbeiterInnen zu finden und sie politisch zu schulen. Mit einer kämpferischen Perspektive und einem mutigen Programm können die ArbeiterInnen selbst die Ereignisse in ihrem Betrieb einordnen und sie ihren KollegInnen erklären. Mit dem Wissen über Arbeitskonflikte können sie die nächsten Schritte erkennen und angehen. Mit politischen Kenntnissen können sie eine Betriebsgruppe gründen, die den Kern der allgemeinen Mobilisierung bildet.
Die Gewerkschaften bereiten am 25. Juni eine Demo in Zürich vor dem Sitz des
Baumeisterverbandes vor. Diese Aktion stellt einen notwendigen Schritt für den Aufbau des Kräfteverhältnisses in diesem Herbst dar. Es muss gezeigt werden, dass die ArbeiterInnen bereit sind zu kämpfen. Die Bosse werden jedoch nur dann zurückweichen, wenn die ArbeiterInnen ihre wirksamste Waffe einsetzen: den Streik. In Genf, wo der Kampf 2018 besonders intensiv war, konnten die Patrons durch zwei Streiktage zum Rückzug gezwungen werden. Doch dieses Mal werden einzelne Streiktage nicht mehr ausreichen.
Mit einem Aktionsprogramm gegen Arbeitsintensivierung und Inflation und mit kämpferischen Methoden können die Gewerkschaften den Organisationsgrad der ArbeiterInnen erhöhen und sich so gegen die Angriffe der Bosse wehren. Einerseits ist es ihre Aufgabe, dem Kampf gegen die Inflation, der keine branchenübergreifenden Schranken kennt, einen gesamtschweizerischen Ausdruck zu verleihen. Das ist ihre Aufgabe und der Grund für die Existenz der Gewerkschaften, die historisch gesehen im und für den Kampf der Arbeiterbewegung entstanden sind, um die Isolation der Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt zu durchbrechen. Sie müssen die Spaltung unter den ArbeiterInnen überwinden und ihren gemeinsamen Problemen einen kollektiven Ausdruck zu verleihen. Derzeit zwingt der LMV die Gewerkschaften dazu, dies bis zu einem gewissen Grad zu tun, aber es liegt in ihrer Verantwortung, darüber hinauszugehen, weil der Klassenkampf über die bürgerliche Arbeitsteilung hinausgeht.
Lukas Nyffeler, ASEMA Genf
Kiril Ognenov, Gewerkschaftssekretär Genf
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