Im ersten Halbjahr 2018 landeten 55 Mio. Franken des Gewinns der gesamten Saurer Group in den Portemonnaies der Aktionäre – obwohl die Arboner Stickerei-Abteilung der Saurer Group nicht mehr rentabel ist. Erstaunt ob dieser Tatsache, folgert einer der Arbeiter Saurers: «Es wird halt vor allem für die Aktionäre geschaut.»
Während die KapitalistInnen ihr Geld für sich arbeiten lassen, müssen jetzt in Arbon TG rund 35 Arbeiter, die über Jahre und Jahrzehnte für Saurer geschwitzt haben, ihre Sachen packen. Nur der Kampf einer organisierten Arbeiterschaft kann solche Angriffe abwehren.
In der beinahe leeren Produktionshalle Saurers in Arbon treffe ich Jakob Auer. Er ist Teil der zweiköpfigen Arbeitnehmervertretung (AV) und Präsident der UNIA Ostschweiz-Graubünden. Seit vier Monaten gibt es keine Arbeit mehr in der Produktion. Einige seien seit Januar nur zwei Wochen zur Arbeit gekommen. Der Rest der Zeit sind bezahlte Absenzen.
Heute liegt ein Sozialplan vor. Diesen haben die Vertreter der Firmenleitung und die AV ausgearbeitet. Er besteht aus diversen Abfindungen und Unterstützung bei finanziellen Härtefällen (z.B. Frühpensionierungen). Nebst dem Sozialplan lagen zu Beginn auch andere, kämpferische Massnahmen auf dem Tisch. Nach Ankündigung der Entlassungen trafen sich die involvierten Gewerkschaften, um das Vorgehen zu besprechen. Die AV erstickte allfällige militante Aktionen im Keim. An der ersten Sitzung erklärte sie: «Es gibt keine Solidarität unter den ArbeiterInnen. Wir tendieren deshalb lieber auf einen guten Sozialplan.» Die AV setzte auf Verhandlungen und gute Beziehungen mit der GL anstatt auf ökonomischen Druck (durch Arbeitsniederlegung). Somit wurde die Chance vertan, dass die ArbeiterInnen selbst über ihre Zukunft entscheiden und Erfahrungen in einem Arbeitskampf sammeln.
Auer erklärt: Nebst der Solidarität brauche es aber auch Gewerkschaftsmitglieder und gerade diese seien schwierig zu rekrutieren. 50% der Arbeiter in der Produktion sind Mitglied in der UNIA. In Genf streikte 2017 die Belegschaft von ABB Sécheron gegen die Verlagerung. Im Betrieb waren weniger als 10% gewerkschaftlich organisiert, trotzdem schaffte es die Genfer UNIA diese für einen Streik zu mobilisieren. Es ist die Aufgabe einer Gewerkschaft, die ArbeiterInnen von kämpferischen Aktionen zu überzeugen und sie darin zu bestärken. Es gibt keinen Grund, warum es in Arbon nicht auch funktionieren würde.
Anders als für die Deutschschweizer, sei für die Romands und die Tessiner Solidarität selbstverständlich, deshalb seien sie auch militanter, so Kollege Auer. Für ihn ist das Retten von Arbeitsplätzen nicht mehr möglich, verteidigt werden müssten die Errungenschaften des letzten Jahrhunderts (Achtstundentag, AHV, Samstag, etc). Doch dies sei für die meisten ArbeiterInnen zu wenig, um der Gewerkschaft beizutreten.
Auers Pessimismus müssen wir zurückweisen.
In der gleichen Halle treffe ich mich mit vier Arbeitern (zwei Entlassene und zwei, die bleiben dürfen). Die Entlassung sei früher oder später zu erwarten gewesen, bestätigen alle vier. “Es ist, wie wenn jemand stirbt. Man weiss, dass die Person stirbt, doch wenn sie stirbt, ist es trotzdem ein Schlag in die Fresse», berichtet einer der Entlassenen. Bei der Bekanntmachung seien alle Emotionen dabei gewesen. Sechs Wochen später war schon der Sozialplan fertig. Die AV klärte die Betroffenen mündlich über die wichtigsten Punkte auf. Eine schriftliche Version erhalten die ArbeiterInnen erst bei der formellen Entlassung.
Die AV geniesst ein hohes Ansehen bei den Arbeitern. Alle vier finden, dass sie gute Arbeit in der Aushandlung des Sozialplans geleistet hat. Die Arbeiter wurden nie bzgl. ihrer Vorstellung eines Sozialplans konsultiert. «Was soll die Belegschaft auch mitbestimmen. Die AV hat jahrelange Erfahrung und man erwarte von der AV, dass sie die ArbeiterInnen vertrete», bekräftigt einer der Entlassenen. Trotzdem ist er sich sicher, dass der Plan nicht für alle reichen wird.
Alle anerkennen, dass die UNIA medial sehr präsent ist und Erfolge verbuchen konnte. Trotzdem formulieren zwei sehr konkrete Kritik. Die UNIA tauche immer erst auf, wenn die Extremsituation eingetroffen sei (in diesem Fall die Entlassung). In der Zeit zwischen diesen Situationen höre man keinen Pieps von der Gewerkschaft.
Was fehle, sei die konstante Basisarbeit, um die ArbeiterInnen aufzuklären und die Wichtigkeit der Gewerkschaft aufzuzeigen. Einer der Entlassenen geht weiter. Die UNIA schaue nicht nur für das Wohl der ArbeiterInnen, sondern auch für das Wohl der UnternehmerInnen. Sie müsse sich wieder mehr den ArbeiterInnen zuwenden. Doch, ihm zufolge, machen in der Schweiz die Chefs die Gesetze. Dies müsse sich ändern, damit «die Leute, die wirklich für ihr Geld schwitzen, auch mehr bekommen als jetzt». Dafür sei es essentiell, dass die Gewerkschaften in die Politik eingreifen. Ohne Verbindung zur Politik verliere die Gewerkschaft ihre Funktion, erklärt er mir.
Ein Streik der Belegschaft wäre nicht unvorstellbar gewesen, die Nicht-Entlassenen hätten zwar aus Angst vor Konsequenzen die Entlassenen im Falle eines Streiks nicht unterstützt — so die etwas schwarzmalerische Prognose des Arbeiters –, doch wäre die Stimmung unter den Entlassenen für einen Streik reif gewesen. Jetzt sei alles vorbei und die Entlassenen hätten sich damit abgefunden, doch in den Tagen nach der Bekanntmachung wäre ein Streik durchaus möglich gewesen.
Das Beispiel Genf zeigt wie schnell sich das Bewusstsein der ArbeiterInnen in einer Phase des Kampfes verändern kann. So hätte auch bei Saurer ein Streik der Entlassenen ihre KollegInnen bewegen können.
1933, auf dem Höhepunkt der Arbeitskämpfe in Arbon, hielten die Arboner Gewerkschaften fest: «Es müssen Mittel und Wege gefunden werden, um diese Mutlosigkeit in der Arbeiterschaft überwinden zu können.» Heute stehen wir vor der gleichen Aufgabe!
Diese Entlassung ist beschlossene Sache, jetzt gilt es die Weichen zu stellen, um die nächste zu verhindern. Hierfür muss die Gewerkschaft wieder ein Ort der politischen Bewusstseinsbildung für ArbeiterInnen sein. Die ArbeiterInnen erkennen die Wichtigkeit der Gewerkschaft, doch müssen sie in der Praxis sehen, wozu eine geeinte Belegschaft fähig ist. Zumindest die jetzt entlassenen ArbeiterInnen hätte man für militante Aktionen für den Erhalt der Arbeitsplätze oder für bessere Abgangsentschädigungen gewinnen können. Solidarität und Vertrauen in die eigenen Kräfte kann erlernt werden. Damit kann man nicht bis zur Katastrophe warten, man muss sich darauf vorbereiten. Dazu muss die Basisarbeit in den Betrieben vorangetrieben werden.
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