Von «Paukenschlag» und «Eklat» war in den Medien die Rede, nachdem die Gewerkschaften angekündigt hatten, dem Bundesrat die Verhandlungen zu den flankierenden Massnahmen (FlaM) zu verweigern. Die Gewerkschaften waren klar in ihrer Ansage: Beim Schutz vor Dumping-Löhnen werden sie keinen Schritt zurück machen. Die heute geltenden FlaM wurden 2004 auf Druck der Gewerkschaften errungen. Sie sollten sicherstellen, dass auch nach der Einführung der Personenfreizügigkeit im Rahmen der Bilateralen Verträge mit der EU die in der Schweiz geltenden Lohn- und Arbeitsbedingungen eingehalten und die Löhne nicht durch die ausländische Konkurrenz gedrückt werden.
In den aktuellen Verhandlungen um ein institutionelles Rahmenabkommen drängt die EU nun auf die Preisgabe essentieller Bestandteile der FlaM. Auch Teile der Schweizer Bourgeoisie haben zum Angriff auf die flankierenden Massnahmen geblasen. Während der Arbeitgeberverband Economiesuisse sich wohl aus politischen Erwägungen (im guten Wissen, dass ein Rahmenabkommen mit der EU nur mit den Gewerkschaften eine Chance hat) noch hinter die FlaM stellt, hat der liberale Thinktank Avenir Suisse sie bereits offen in Frage gestellt. Auch die Unternehmerfraktion der SVP hatte im Januar 2018 mit ihrer «Kündigungsinitiative» zur Eliminierung der Personenfreizügigkeit klargemacht, worum es ihr bei ihrer Anti-EU-Rhetorik tatsächlich geht: um die Aufkündigung der FlaM und um die Zurückdrängung der Gewerkschaften. SVP-Nationalrätin Martullo-Blocher erklärte ganz offen, der liberale Arbeitsmarkt, schwache Gewerkschaften und der Arbeitsfrieden seien historische Stärken der Schweiz. Dies habe sich durch die Personenfreizügigkeit und die gleichzeitig von den Gewerkschaften errungenen FlaM geändert: die «Vertragsfreiheit» und der liberale Arbeitsmarkt seien «eliminiert» worden, so die Milliardärin. Tatsächlich ist die Anzahl der Gesamtarbeitsverträge (GAV) und der branchenweiten Mindestlöhne seit Einführung der FlaM stark gestiegen. Rufe nach Flexibilität und Freiheit bedeuten hier nichts anderes als die Forderung nach Abschaffung dieses Schutzes der Arbeitsbedingungen und der Möglichkeit, die Löhne zu drücken. Freiere und flexiblere Ausbeutung der Lohnabhängigen soll es also sein!
Der SVP geht es deutlich mehr um die Zurückdrängung der Gewerkschaften und die Aufhebung des Lohnschutzes als um die eigentliche Kündigung der Personenfreizügigkeit oder die Einschränkung der Einwanderung. Und wenn die Anti-EU-Partei die Flankierenden und die Gewerkschaften angreift, dann befindet sie sich in dieser Hinsicht interessanterweise auf der gleichen Linie wie die EU. So ist es auch nur scheinbar widersprüchlich, dass die SVP den «liberalen Arbeitsmarkt» ausgerechnet durch die Aufkündigung der liberalen Personenfreizügigkeit «retten» will, wo diese doch dem Kapital einen freieren Zugriff auf einen grösseren Arbeitsmarkt ermöglicht. Sie führt den gleichen Angriff auf die Lohnabhängigen und deren Organisationen wie die EU und andere Bourgeoisien, nur tut sie es mit anderen Mitteln. Überall verschärfen sich unter dem Druck des chronisch schlechten Zustandes des globalen Kapitalismus die Angriffe auf die Arbeiterklasse. Wo sich das Kapital den sozialen Frieden und Klassenkompromisse – wie die FlaM! — nicht mehr leisten kann, wird der Klassenkampf durch das Kapital wieder offen ausgetragen, verschleiert höchstens durch die Anti-Einwanderungs-Rhetorik.
Im Sommer nun haben die freisinnigen Bundesräte Cassis und Schneider-Ammann ebenfalls angedeutet, dass man die Flankierenden auch so neugestalten könne, dass auch die EU-Kommission damit einverstanden sein könne. Also doch die EU direkt beim Lohnschutz mitsprechen lassen, die Lohnkontrollen und andere Bestandteile der FlaM abbauen will? Und dies nur wenig nachdem der Bundesrat in Hinsicht auf die verknorzten Verhandlungen mit der EU für ein institutionelles Rahmenabkommen klargemacht hat, dass die FlaM eine «rote Linie» seien. Im Klartext, sie seien nicht verhandelbar.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) bezeichnete das Vorgehen von Schneider-Ammanns Wirtschaftsdepartement als «Verrat an den Lohnabhängigen» und erklärte, man werde daher nicht an den Verhandlungen teilnehmen. Ein begrüssenswerter Akt von Seiten der Gewerkschaften mit einer guten Portion Selbstbewusstsein und Entschiedenheit! Die Lohnabhängigen hat es wenig zu kümmern, in welche zähen Verhandlungen sich der helvetische bürgerliche Staat mit der EU verzwickt hat. Einbussen beim Schutz von Löhnen sollen nicht toleriert werden. Ist ein Deal nur zu kriegen mit einer Verschlechterung der Bedingungen und Sicherheit der Lohnabhängigen, dann kann es wohl kein guter Deal gewesen sein; ist die herrschende Klasse mit ihrer politischen Vertretung nicht fähig, ihre Angelegenheiten so zu lösen, dass sich die Situation der Lohnabhängigen nicht verschlechtert, dann hat sie auch keine Legitimität für ihre Herrschaft!
Der «Paukenschlag» hat gezeigt, welche Macht die Gewerkschaften eigentlich haben.
Freilich ist letzteres nicht die Argumentation der Gewerkschaften. Aber ihre Reaktion ist erstmal korrekt und begrüssenswert. Der «Paukenschlag» hat gezeigt, welche Macht die Gewerkschaften eigentlich haben. Ohne die Unterstützung der Gewerkschaften geht nichts. So tönte es aus allen Parteizentralen, und es stimmt. Das Gesagte zeigt aber auch die widersprüchliche Position der Gewerkschaften im Klassenkampf auf. Einerseits wird die Stärke der organisierten Arbeiterklasse klar: Schafft es die Bourgeoisie nicht, die Führung der Arbeiterorganisationen zu einem Deal zu bewegen, dann wird es schwierig für sie, ihre Interessen gegen jene der Lohnabhängigen durchzusetzen. Gerade das offenbart aber andererseits auch den staatstragenden Charakter der Gewerkschaften: Wenn die Gewerkschaften Wirtschaft und Politik lahmlegen können, in dem sie konsequent auf die lohnabhängige Mehrheit der Bevölkerung setzen, weshalb dann nicht einfach das Kapital in die Knie zwingen?
Hier werden auch die Grenzen der Strategie der Schweizer Gewerkschaften in den letzten Jahren deutlich. Martullo-Blocher hat durchaus einen wunden Punkt getroffen, wenn sie auf die grosse Kluft hinwies zwischen dem tiefen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad der Lohnabhängigen in der Schweiz und der Tatsache, dass die Gewerkschaften mittlerweile für über die Hälfte der Lohnabhängigen Gesamtarbeitsverträge ausgehandelt haben: Seit 2004 haben Zahl der GAV und Mindestlöhne stark zugenommen – während gleichzeitig die Gewerkschaften kontinuierlich sinkende Mitgliederzahlen verzeichnen! Das heisst nicht – im Sinne Martullo-Blochers –, dass die Mindestlöhne und die vielen Lohnkontrollen nicht positiv wären. Mit der Abschaffung des Saisonnierstatuts und den Flankierenden Massnahmen wurde eine Rechtsgrundlage zum Lohnschutz geschaffen, hinter die man nicht mehr zurückfallen darf. Die FlaM gegen Angriffe von der Bourgeoisie zu schützen, ist deshalb eine Notwendigkeit. Aber es zeigt doch, dass die Gewerkschaften über die Köpfe der Arbeitenden hinweg voll auf den bürgerlichen Staat und den Kompromiss mit dem Kapital setzen, um Löhne und Arbeitsbedingungen zu schützen. Damit wurden sie nicht nur finanziell stark von den GAV und den FlaM abhängig, was die Erhaltung der GAV für die Gewerkschaften auch zum Selbstzweck verkommen lässt. Was passiert, wenn das Kapital mal nicht mehr auf die Kompromisse einsteigt? Der fehlende Fokus auf und die gewerkschaftliche Organisierung einer kampfähigen Basis verschlechtert auch ihre Position, überhaupt etwas zu verteidigen, wenn das Kapital dann mal nicht mehr auf die Kompromisse einsteigt.
Der wirkliche Aufbau der Stärke der Arbeiterklasse kann nur über die Organisierung und die Verankerung in den Betrieben geschehen. Nur so wird sie kampffähig und kann eine unabhängige Klassenposition einnehmen.
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