Vor dem 1. Mai war es wieder mal so weit: Die Bürgerlichen und ihre Medienforcierten warnten vor dem gefährlichen schwarzen Block und Terror und Krawall in Zürichs Strassen. Gleichzeitig stellten sich Organisationen aus der linksradikalen Szene die Frage, wie eine militante Praxis in der Schweiz wieder realisierbar gemacht werden könnte. Doch ist die Frage nicht viel eher, unter welchen Umständen man als politische Organisation militante Aktionsformen überhaupt ins Auge fassen sollte? Ein Beitrag zur Geschichte und Perspektive der Militanzdebatte.
Wie es in der gegenwärtigen Krise zu erwarten war, nahmen auch dieses Jahr in den meisten Weltgegenden mehr Leute an Veranstaltungen zum ersten Mai teil als im Vorjahr. Dabei hat es an vielen Orten auch ziemlich gescheppert: In der Türkei kam es trotz massiver Repressionen seitens der Polizei zu den grössten Protesten seit den Demonstrationen der Gezi-Bewegung, in Hamburg wurde die 1.-Mai-Demo nach Zusammenstössen von Polizei und Demonstrierenden durch die Staatsmacht aufgelöst und bei Ausschreitungen in Turin kam es zu mehreren Verletzten unter linken AktivistInnen. In Zürich indes blieb es sehr ruhig. Allfällige Nachdemonstrationen blieben aus und es kam nur zu kleinen Zwischenfällen. Es erstaunt also nicht, dass insgesamt nur 15 Personen vorübergehend festgenommen wurden. Mit 550 Festnahmen klickten noch vor 2 Jahren 35-mal häufiger die Handschellen.
Geht man also davon aus, dass der 1. Mai und seine Veranstaltungen in der Schweiz Aufschluss über die politische und soziale Grosswetterlage bieten kann, dann wirkt es nicht so, als wären militante Aktionen als Kampfformen in effektivem Masse durchführbar. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen scheint das Thema „Militanz“ in Teilen der radikalen Linken sehr aktuell zu sein. In der 1.-Mai-Ausgabe des Organs der kommunistischen Jugend, der „Njet“, befasste sich die Partei damit, wie solidarisch Banküberfälle in industrialisierten Staaten sein können, um damit Bewegungen in den nicht entwickelten Staaten zu unterstützen. Fast zur gleichen Zeit publizierte der revolutionäre Aufbau in seiner Zeitung einen Artikel, der die Frage thematisierte, ob militante Praxis am 1. Mai möglich sei. Im Angesicht des Polizeiaufgebots seien diejenigen mit einer „revolutionären Position“ in der Lage eines Fliegengewichts, das gegen einen Schwergewichtsboxer im Ring steht. Trotzdem dürfe militante Praxis nicht aufgegeben werden.
Etwas geht jedoch ob der ganzen Revolutionsromantik verloren, bei der eine Aktion um der Aktion Willen durchgeführt wird. Und zwar ist das die Frage, unter welchen Bedingungen Militanz als Kampfform entsteht. Der Begriff „entsteht“ wird hierbei bewusst benutzt. Für uns als MarxistInnen muss nämlich klar sein, dass es nicht an uns ist, bestimmte Widerstandsformen zu forcieren. Es lohnt sich in dieser Sache, Lenin zu zitieren. Dies insbesondere, da viele Gruppen, die Militanz als einzige probate Kampfform wahrnehmen, sich positiv auf ihn beziehen. So liest man in einer vom russischen Revolutionär verfassten Resolution: „Erstens unterscheidet sich der Marxist von allen primitiven Formen des Sozialismus dadurch, dass er die Bewegung nicht an irgendeine bestimmte Kampfform bindet.“1 Viel mehr ist Militanz eine Folge von sich verschärfenden Widersprüchen innerhalb des Kapitalismus. Wenn die herrschende Klasse die Ketten der Unterdrückten weiter anzieht, wenn sie gnadenlos prekarisiert und brutalst ausbeutet, dann werden militantere Ausdrucksformen des Klassengegensatzes von Seiten der werktätigen Klasse die Folge sein. Wer jedoch der umgekehrten Vorstellung anhängt – dass man durch militante Aktionen die Widersprüche zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden so verstärken kann, dass es zur militanten Massenaktion kommt – sollte sein kleines Einmaleins des Marxismus vielleicht noch einmal repetieren.
Die Idee davon, dass sich eine vergleichsweise kleine Gruppe der Militanz unbedingt verpflichtet, ist nicht neu. Das Grundverständnis, dass man den ProletarierInnen nur zu zeigen brauche, dass der Umsturz machbar ist, war schon bei den AnarchistInnen der „Propaganda der Tat“ auszumachen. Durch Bombenanschläge und Morde an Politikern und Adligen, wurde die Propaganda der Tat in ihrer Bedeutung deckungsgleich mit anarchistisch motivierten Anschlägen. Die Erhebung der Masse als Folge jener Aktionsform blieb aus. In der neueren Vergangenheit standen in Italien die „Brigatte Rosse“ und in Deutschland die „Rote Armee Fraktion“ in Tradition der Propaganda der Tat. Dies übrigens obwohl beide Gruppen ein marxistisch-leninistisches Selbstverständnis pflegten. Im Gegensatz zu diesen westeuropäischen Varianten des Konzepts der Stadtguerilla konnten die Tupamarus in Uruguay und die Sandinisten in Nicaragua auch gewisse Erfolge verbuchen, auch wenn der letztliche Sturz der dortigen Militärregierungen nicht durch diese Gruppen herbeigeführt wurde.
Betrachtet man eingehender unter welchen Bedingungen militante Aktionsformen von Erfolg gekrönt waren, wird ein Umstand klar: Im Versuch den politischen Kampf zu gewinnen, indem man möglichst medienwirksam zeigt, dass der Aufstand möglich ist, scheiterten die meisten isolierten kleinen Gruppen. Den Sieg konnten letztlich emanzipatorische Gruppen, wie im Fall des Umsturzes der russischen Verhältnisse im Jahr 1917, nur durch die Verbindung mit den Massen erreichen. Dass die organische Verbindung zwischen solchen Gruppierungen wie den Stadtguerillas und dem Proletariat jedoch auch nicht Teil des angepeilten Vorgehens waren, wird sichtbar, wenn die RAF, wie sie selbst ausführte, als „im Spalt zwischen Staat und Masse (…)“2 zu operieren habe. Will man den Begriff „Militanz“ analysieren, ist eine moralische Wertung desselben fehl am Platz. Das Festhalten an militanter Praxis also verkommt, ohne die notwendigen Grundlagen in der Bevölkerung für einen gesellschaftlichen Wandel, zum Selbstzweck. Es wird zu einem Fetisch, dem Eigenschaften zugeschrieben werden, die er in der gegenwärtigen Situation nicht besitzt – ja gar nicht besitzen kann.
Seit Beginn der Krise schlittert die Welt zusehends in eine Phase von Revolution und Konterrevolution. Mit den sich verstärkenden sozialen Kämpfen weltweit weiteten sich die sozialen Proteste erst aus, um sich anschliessend zu radikalisieren. Das sonst ach so ruhige Europa und seine Randregionen wurden selbst in den letzten paar Wochen zusehends destabilisiert. In vielen progressiven Bewegungen weltweit haben sich militante Aktionsformen fest eingebürgert. Das war jedoch nicht Folge dessen, dass es dort Gruppierungen gegeben hatte, die stets diese Formen propagierten. In den Worten Lenins: „Und anderseits, wer selbst durch die in Russland herrschende Willkür nicht auf gerüttelt wird und nicht aufzurütteln ist, der wird offenbar auch dem Zweikampf zwischen der Regierung und einem Häuflein von Terroristen ruhig zusehen und „die Daumen drehen“.“3 Der Umstand, dass es dort auch die grösste Radikalisierung unter den Werktätigen gab, wo die Krise am härtesten einschlug, und nicht dort, wo die radikalste Kleingruppe sass, zeigt dies klar auf.
Werfen wir also noch einen Blick in die Schweiz. Trotz häufigerer Arbeitskämpfe hierzulande gibt es momentan keine militante Massenbewegung. Die Versuche, solche Massenbewegungen durch die Durchführung militanter Aktionen zu etablieren, misslangen ebenso, wie sie dies überall werden, wo die Bedingungen dafür nicht gegeben sind. Dies wird umso offensichtlicher, wenn man sich gewahr wird, welche geringe Akzeptanz ein geworfener Stein, eine eingeschmissene Scheibe und eine besprayte Wand besitzen. Es ist jedoch durchaus zu erwarten, dass mit den kommenden Sparpaketen, mit Prekarisierungen und Kürzungen auch im politischen und sozialen Umfeld der Schweiz, dem veränderten Sein, ein Wandel im Bewusstsein der Lohnabhängigen in der Alpenrepublik folgen wird. Die Schweiz wird keine Insel der Glückseligen bleiben, die von den Wellen der Krise nur umspült bleibt, und das wird sich im Verhältnis der Menschen hierzulande, wie sie Politik machen, ausschlagen.
Als Marxistinnen und Marxisten ist unsere Aufgabe, die Erfahrungen, die in jahrzehntelangem sozialistischem Kampf für eine bessere Welt gemacht worden sind, zu nutzen. Auf Basis dieser Erkenntnisse müssen wir unsere eigene Praxis von klassenkämpferischer Politik ableiten. Früher in diesem Artikel wurde bereits geschrieben, dass wir die Frage der Militanz nicht moralisch werten dürfen. Wir dürfen Militanz weder an und für sich verdammen, noch dürfen wir sie zur alleinig legitimen Form sozialistischen Kampfes erheben. Fernab von den Forderungen der starken Hand mit dem Gummiknüppel und der Romantik des geworfenen Steins muss für uns die Frage im Zentrum stehen: Woher kommt Militanz als politisches Massenphänomen? Sie ist Symptom eines Systems, das den Menschen kein würdiges Leben ermöglicht und ihnen ihre anderen Aktionsformen raubt. Militanz ist nicht Folge dessen, was einzelne politische Organisationen und Verbände machen, sondern viel mehr daraus erwächst, wie die Menschen ihr Leben tagtäglich den Angriffen einer ausbeuterischen Wirtschaftsweise ausgesetzt sehen. Dass sich Militanz auch in Bahnen bewegen kann, die nicht mit unseren Vorstellungen vereinbar ist, wie die Welt auszuschauen hat, wissen wir nicht erst seit den brutalen Übergriffen von Neofaschisten in der Ukraine, die sich im militanten Kampf gegen den Staat sehen. Unsere Kernarbeit muss daher darin bestehen, eine revolutionär-marxistische ArbeiterInnenorganisation aufzubauen, die dazu in der Lage ist, die Widersprüche in der Gesellschaft aufzunehmen und progressive Forderungen zu stellen, hinter die sich die Werktätigen stellen können. Sind wir zu diesem Schluss gekommen, wird die Überlegung hinfällig, wie man militante Praxis ermöglicht oder an welche Aktionsform man sich bindet. Oder um mit den Worten von Rosa Luxemburg zu schliessen: „Die allmächtige Sozialreform gibt es ebensowenig, wie die allmächtige Barrikade oder den allmächtigen Generalstreik.“
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