Die Erinnerung an 1968 ist ein Schlachtfeld. Seit dem ersten Tag nach dem Generalstreik wird darum gekämpft, was im Mai-Juni genau geschehen ist. Wir unterhielten uns über den Barrikadenkampf der Geschichtsschreibung mit der (linken) französischen Historikerin Ludivine Bantigny.
Der Funke: Die allgemeine Frage: Warum ist 1968 immer noch ein politisch sensibles Thema?
Ludivine Bantigny: Erstens war es ein Generalstreik. Der wichtigste, den Westeuropa erlebt hat. Die Dauer, das Ausmass und die Formen der Besetzung unterschiedlichster Betriebe machen ihn speziell: Fabriken, Büros, Geschäfte, Bahnhöfe, Postämter, Theater, Universitäten – überall war er präsent. An manchen Orten kam es zur Einsperrung von Chefs oder Vorgesetzten. Die Ereignisse waren radikal und eröffneten enormen Handlungsspielraum. Es gab zwei Gruppen, die gemeinsam kämpften: die Studierenden und GymnasiastInnen sowie die ArbeiterInnen.. Die Herrschenden hatten die Kontrolle verloren. Deshalb haben jene, die die Wirtschaft, Politik und Medien in ihren Händen halten, seither grosse Angst, dass etwas Vergleichbares wieder passieren könnte. Deshalb kämpfen sie mit Falschdarstellungen dagegen. Für sie ist wichtig, dass 68 als erster Schritt zur Individualisierung und zum Neoliberalismus dargestellt wird. Das ist aber völlig unlogisch und schlicht falsch.
1968 hat eine grosse Schlagkraft und beschert der herrschenden Klasse noch immer Albträume. So sagte Nicolas Sarkozy 2007 in seiner Präsidentschaftswahlkampagne, dass 68 «liquidiert» werden müsse. Der neue Präsident Macron hatte andere Pläne: Er wollte das Erbe für sich beanspruchen. Doch angesichts der aktuellen Kämpfen (in Unis und v.a. bei der Bahn) krebste er rasch zurück. Die Unis zeigen, welches Potenzial noch im Andenken von 68 steckt. Heute besetzen wieder die CRS (Aufstandspolizei) die Campusse. Das Vermächtnis ist brennend politisch, da sich die Widersprüche nicht aufgelöst haben.
Was sind die Ursprünge der Ereignisse?
Über die Auslöser und die Ursprünge von 68 nachzudenken heisst, den Nachkriegsboom in Frage zu stellen. Es war eine Zeit steigenden Wohlstands – doch nur an der Oberfläche. Viele Leute lebten in sehr schwierigen Verhältnissen. Die Löhne waren niedrig, die Behausungen oft schlecht und die Arbeitswochen lang – 48 Stunden pro Woche. Auch kam es wieder zu Arbeitslosigkeit, vor allem bei den Jungen. Das war neu. Die soziale und wirtschaftliche Lage verschlechterte sich aber nicht nur in Frankreich, sondern auch in Westdeutschland. Die Entwicklung ging in Richtung einer neuen Krise.
Die volkswirtschaftliche Marschrichtung hiess aber Öffnung, Freihandel. Die europäischen Märkte wurden vereint. Das verschärfte den wirtschaftlichen Wettbewerb und damit den Druck auf dem Arbeitsmarkt. Viele Unternehmen entliessen ArbeiterInnen oder schlossen ganz ihre Tore. Ab 1967 kam es zu grösseren Streikbewegungen, die manchmal in Fabrikbesetzungen übergingen. Ebenso kam es zu politischen Mobilisierungen für die Verteidigung der Sozialwerke.
Dazu kam eine weitere Dimension: die internationale Solidarität. Der Vietnamkrieg stärkte den Anti-Imperialismus. Es gab grosse Solidarität mit den Kämpfen in kolonialen und ex-kolonialen Ländern. Dieses Gemisch gab den Kämpfenden das Gefühl, dass eine Revolution möglich sei, dass sich die Welt verändern liesse.
Wieso scheut sich die französische Linke, das Jubiläum 68 zu feiern?
Heute gibt es mehr Offenheit für die Auseinandersetzung mit 68 als früher. In meinem Buch gehe ich hart ins Gericht mit der Rolle der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) und der CGT (damals die Gewerkschaft der KP). Aber aktuell widmen beide den Geschehnissen viel Aufmerksamkeit in ihren Zeitungen und Magazinen. Sie beginnen heute über ihre damalige Haltung nachzudenken und geben zu, dass sie Fehler gemacht haben – vor allem die einzelnen AktivistInnen sagen das. Eine Neubelebung der Erinnerungen peilen die Organisationen aber nicht an.
1981 kommt die erste linke Regierung um François Mitterand an die Macht. Welchen Einfluss hatte sie auf die Geschichtsschreibung von 1968?
Diese Wahl war eine Spätfolge von 68. Sie war das Produkt der sozialen Kämpfe während der 1970er Jahre. Die Regierung galt als antikapitalistisch und führte grossangelegte Verstaatlichungen der Industrie durch. Doch die Prinzipien, nach denen diese Staatsbetriebe organisiert wurden, waren jene des Marktes. Die Unternehmen und Unternehmer wurden zu einer wichtigen Stütze der Regierung. Die Betriebe galten nicht mehr als Ort des Kampfes zwischen den Klassen, sondern als Hort der Klassenharmonie – die notfalls gewaltsam durchgesetzt wird.
Für die Geschichtsschreibung sind die 80er Jahre eine Zeit der Reaktion, in allen möglichen Auslegungen des Wortes. Es ist die Reaktion gegen die sozialen Kämpfe und die Emanzipation in den Jahren davor. Die Antwort kommt in Form des Konservatismus: Thatcher und Reagan. Sie stehen für den Gedanken: «Es gibt keine Alternative». Deshalb ist es auch eine Reaktion im politischen Sinn. Für die Geschichtsschreibung bedeutet das in Frankreich, dass man nicht mehr über die Arbeitswelt und die Arbeit spricht. Man schweigt sich aus über den Generalstreik und deutet 68 rein kulturalistisch. Es geht ausschliesslich um Kultur, die sexuelle Revolution, die Revolution in der Kunst etc. Es gibt nur wenige HistorikerInnen, die weiter eine andere Geschichte von 68 verteidigen.
Heute ist diese Kultur-Geschichte weiter sehr präsent. Was sind die Strategien der verschiedenen HistorikerInnen und ihre Ziele?
Es gibt trotzdem einige Ausstellungen in öffentlichen Institutionen, wo die Auseinandersetzung weiter geht als die «klassische» Reduktion auf die sexuelle Revolution. Die Behörden beauftragen HistorikerInnen mit Ausstellungen und sind dann überrascht, dass auch der Generalstreik vorkommt. Deshalb wird viel davon geredet. Sogar in den Mainstreammedien kommt man von der totalen Vereinfachung ab. Heute ist es weniger einfach, 68 auf eine kleine Randgruppe zu beschränken oder sie als eine verspielte, kleinbürgerliche Revolte abzutun.
Es gibt heute zwei Generation, die der Generalstreik interessiert: Diejenigen, die selber dabei waren und genug haben von der Reduzierung auf Daniel Cohn-Bendit und seine unzähligen TV-Auftritte. Und es gibt ebenso die junge Generation, die heute an den Unis ist oder sich in «autonomen Zonen» (ZAD) engagiert. Sie diskutieren ebenfalls den Generalstreik und seine Slogans. Sie versuchen aktiv, diese Slogans neu zu nutzen und einen Neuanfang zu wagen.
Zwar kennen die Jungen 68 nicht sehr gut. Aber eine aktuelle Umfrage zeigt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung Frankreichs ein sehr positives Bild von 68 hat, ohne über genaue Kenntnis zu verfügen. Nur die organisierten AktivistInnen wissen besser Bescheid. Unter ihnen gibt es viele, die mit 68 vor allem den Generalstreik assoziieren. Das war damals ähnlich. Während dem Generalstreik erwachten die Erinnerungen an die Pariser Kommune, die Oktoberrevolution oder die Volksfrontregierung der 30er Jahre erneut zum Leben. Einige Arbeiter hatten sie selber erlebt. Man erinnert sich nicht einfach aus Interesse an die Geschichte, sondern weil man etwas aus den vorhergehenden Kämpfen lernen will. In ähnlicher Art und Weise wird heute in den besetzten Universitäten 68 wieder zum Leben erweckt.
Fragen: Michael Wepf, Juso Basel-Stadt
Bild: flickr.com; jonandsamfreecycle (CC BY-NC-SA 2)
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