Die Auswirkungen der Digitalisierung treffen wir überall an. Heute besitzen die meisten ein Smartphone, kennen Plattformen wie Uber und AirBnB oder sind zumindest schon den automatischen «Self-Checkout»-Kassen in den Supermärkten begegnet. Immer mehr Geräte sind mit einem winzigen Computer und mit einem direkten Zugang zum Internet ausgestattet. Diese Phänomene treten als Resultat von einem kontinuierlichen Prozess des technologischen Fortschritts auf.
Der Begriff Industrie 4.0 ist eine deutsche Wortschöpfung. Sie geht auf ein Strategieprojekt der Deutschen Bundesregierung aus dem Jahr 2011 zurück. Dabei sollen die neuen Errungenschaften in der Informations- und Kommunikationstechnik die industrielle Produktion in eine sich selbst organisierende Produktion verwandeln. Nicht nur einzelne Produktionsschritte, sondern ganze Wertschöpfungsketten sollen so optimiert werden. Von der Idee eines Produktes – über die Entwicklung und Produktion, Verteilung und Verkauf, Nutzung und Wartung – bis zum Recycling, soll der komplette Lebenszyklus eines Produktes einbezogen werden. Damit versucht die deutsche Bundesregierung, durch eine Erhöhung der Produktivität die Wirtschaft konkurrenzfähig zu halten.
Möglich wurden diese Veränderungen in der Produktion durch den technologischen Fortschritt und die Massenproduktion von Computerprozessoren und Sensoren, welche immer kleiner und billiger werden. Durch maschinelles Lernen können Computer heute Aufgaben erledigen, die früher von Menschen ausgeführt werden mussten. Dadurch werden Produktionsanlagen autonomer, das heisst, sie kommen, mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft aus.
Die Bestandteile beispielsweise eines modernen Wasserkraftwerkes werden mit einem Computerchip und mehreren Sensoren ausgestattet. Diese Einzelteile der Anlage kennen dadurch ihren Zustand und Standort und wissen, mit welchen anderen Teilen sie zusammengesetzt werden müssen. Die gesammelten Informationen können (bspw. über das Internet) an die Zentrale übermittelt werden. Das ermöglicht es, die Produktion auch über grössere geografische Distanzen hinweg zu überwachen und optimieren. Dadurch kann der Arbeitsaufwand für die Produktion und Instandhaltung stark verringert werden.
Digitalisierung im Kapitalismus
Einige PolitikerInnen, ÖkonomInnen oder andere ProphetInnen wollen uns weismachen, dieser Fortschritt führe zum Wohlstandsgewinn für alle. So zum Beispiel der Ökonom Jeremy Rifkin: «Für jedes Produkt müssen Fixkosten veranschlagt werden. Grenzkosten sind die Kosten, die für die Produktion zusätzlicher Einheiten benötigt werden. Mit der Herstellung von Gütern in Massen sinken diese. Immer mehr Menschen können sich mehr leisten. Der Lebensstandard wächst. […] Eine neue Generation von Produzenten und Konsumenten hat sich längst auf den Weg in eine neue Gesellschaft gemacht, in der die Grenzkosten für die Produktion und den Austausch von Gütern gegen Null gehen. Wenn diese gegen Null tendieren, können alle Güter im Überfluss produziert und ausgetauscht werden, und es ist kein Profit zu machen. Die großen Konzerne gehen bankrott.»
Er verspricht sich aus diesem Fortschritt eine Garantie für künftiges Wachstum, das uns von der Arbeit befreien und ein Leben in Überfluss und Wohlstand ermöglichen wird. Es gelte nur, die Modernisierung nicht zu verschlafen und Umstrukturierungen durchzuführen, um weiterhin konkurrenzfähig zu bleiben. Betrachten wir im Folgenden diese widersprüchliche Prognose.
Im Kapitalismus, d.h. in einer Gesellschaft unter der Herrschaft der bürgerlichen Klasse, ist das Resultat des technologischen Fortschritts für die meisten Menschen nicht Wohlstand und Überfluss, sondern im Gegenteil grössere Unsicherheit. Wenn unsere Arbeit durch moderne Maschinen verringert werden kann, reduziert sich der insgesamt zur Herstellung einer Ware benötigte Arbeitsaufwand. Dadurch wächst bei vielen die Angst, die Arbeit zu verlieren, die uns unsere Existenzgrundlage sichert.
Diese Angst ist nicht unbegründet, wie Studien zeigen. Die Arbeit von Dienstleistungsberufen wie KassiererInnen, kaufmännischen Angestellten, Empfangspersonal, BuchhalterInnen oder Postangestellten wird in den nächsten Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit automatisiert werden. Am Weltwirtschaftsforum 2016 in Davos wurde die These aufgestellt, dass in den Industrieländern in fünf Jahren fünf Millionen Arbeitsplätze wegfallen. Dagegen sollen nur zwei Millionen neue entstehen. Auch die Universität Oxford zeigte auf, dass die Hälfte aller Jobs in den USA durch Maschinen ersetzt werden kann. (Siehe: Bz Basel)
Die Existenzängste werden zudem von den Kapitalisten und ihren Ideologen instrumentalisiert, um hinter der konstanten Drohkulisse der Digitalisierung die Löhne zu drücken und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Umstrukturierungen bedeuten meistens nichts anderes als Entlassungen und Intensivierung der Arbeitsbelastung für die verbleibende Belegschaft. Zum Beispiel in der Baubranche könnten viele Jobs obsolet gemacht werden. Aber statt in neue Maschinen zu investieren und die Produktivität auf den Baustellen zu erhöhen, versuchen die Baumeister beispielsweise das Rentenalter oder die Wochenarbeitszeit zu erhöhen. Damit werden die Kosten bei den Lohnabhängigen eingespart, die sich zu Krüppeln schinden. (Siehe: ‚Hitzige Lage auf dem Bau‘)
Für die Bürgerlichen zählt nur der Profit. In ihren Augen wird der Markt eisern von Adam Smiths unsichtbarer Hand regiert. Die KapitalistInnen streben danach, möglichst effizient (sprich: günstig) zu produzieren und zu handeln. Um sich die Profite zu sichern und in der kapitalistischen Konkurrenz nicht unterzugehen, werden die Firmen deshalb immer wieder zu Produktivitätssteigerungen und damit auch zu Automatisierungen gezwungen. Anstatt Wohlstand und Überfluss bringt uns Lohnabhängigen der technologische Fortschritt also vor allem schlechtere Arbeitsbedingungen oder gar Arbeitslosigkeit.
Potential und Realität
Der technologische Fortschritt hätte jedoch durchaus das Potential, den Überfluss und Wohlstand zu ermöglichen, von dem gesprochen wird. Er könnte uns wirklich von einem grossen Teil der Arbeitslast befreien. Kaum jemand aber liefert eine Erklärung, warum das Potential des technologischen Fortschritts nicht dafür genutzt werden kann und die Realität sich im Gegensatz zu diesem Versprechen entwickelt. Eine unsichtbare Hand ist dabei keine Erklärung, mit der wir uns begnügen können. Ohne Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise kann uns eine Erklärung dafür nicht gelingen.
In der kapitalistischen Produktionsweise werden Waren produziert, welche auf dem Markt angeboten werden. Wieviel ein Produkt zu einem bestimmten Zeitpunkt kostet, ist bekanntlich abhängig von Angebot und Nachfrage. Jedoch ist es viel entscheidender, wie viel Arbeitszeit, mit dem heutigen Stand der Technik, benötigt wird, um ein Produkt herzustellen. Der Preis von Produkten, wie z.B. Telefone oder Computer, ist in den letzten Jahrzehnten auf einen Bruchteil seines vorherigen Preises zusammengeschrumpft. Das kann nicht durch Veränderungen in Angebot und Nachfrage erklärt werden, sondern nur dadurch, dass durch Massenproduktion und technologische Fortschritte immer weniger Arbeitszeit zu ihrer Herstellung benötigt wurde. So kostete das erste Mobiltelefon, dessen Funktionalität nicht über das Telefonieren hinausging, vor 35 Jahren satte 4000 Dollar. Je höher die Produktivität, desto geringer die benötigte Arbeitszeit.
Von Produktivitätssteigerungen profitieren jedoch nicht vorwiegend wir Arbeitenden. Wenn wir, z.B. dank verbesserter Maschinen, während eines Arbeitstages mehr produzieren können, erhalten wir deswegen nicht automatisch einen höheren Lohn. Von einer durch technologischen Fortschritt gewonnenen Produktivitätssteigerung profitieren in erster Linie die Kapitalistinnen und Kapitalisten. Sie können sich dadurch kurzfristig höhere Profite sichern, bis ihre Konkurrenten nachziehen. Sie machen ihre bürgerlichen Eigentumsrechte geltend, indem sie erklären, dass die neuen Maschinen und dadurch auch die Produkte, die damit hergestellt werden, ihnen gehören. Aber damit verwehren sie sich letztlich dem Fortschritt, wie wir im zweiten Teil noch sehen werden.
Die KapitalistInnen bezahlen uns nicht für die von uns geleistete Arbeit, sondern für unsere Arbeitskraft, welche wir ihnen für eine vereinbarte Zeit zur Verfügung stellen. Können die KapitalistInnen die von uns hergestellten Produkte für mehr Geld verkaufen als sie für unsere Arbeitslöhne, die Rohstoffe und die Infrastruktur ausgeben müssen, stecken sie Profite ein. Denn die von uns Arbeiterinnen und Arbeitern produzierten Produkte sind mehr wert als alle unsere Löhne und die Kosten für die Rohstoffe zusammen. Man kann sich das so vorstellen: Wir ArbeiterInnen schaffen mit unserer Arbeit neuen «Wert». Während eines Teils unseres Arbeitstages schaffen wir den Wert, den wir in Form des Lohnes bezahlt bekommen. Der gesamte Wert, den wir danach schaffen, wird uns jedoch nicht ausbezahlt und wandert als Profit in die Tasche der Kapitalisten. Unser Arbeitstag spaltet sich also in einen bezahlten und in einen unbezahlten Teil.
Die Digitalisierung erlaubt es, effizienter zu produzieren. Das bedeutet, dass sich, zumindest bis die Konkurrenz nachgezogen ist und die Preise sinken, das Verhältnis zwischen bezahltem und unbezahltem Teil des Arbeitstages zugunsten der KapitalistInnen verändert. Indem wir in kürzerer Zeit den Gegenwert unseres Arbeitslohns produzieren, erhöht sich der unbezahlte Teil des Arbeitstages und somit der Profit, solange die Produktivität höher ist als bei der Konkurrenz. Die Kapitalisten investieren in Methoden zur Steigerung der Produktivität einzig und allein, um ihre Profite zu steigern.
Im Kapitalismus kommt der technologische Fortschritt also vor allem den die KapitalistInnen zu Gute. Die Produktivitätssteigerung könnte uns Arbeitenden ermöglichen, immer weniger zu arbeiten, um denselben gesellschaftlichen Reichtum zu schaffen. Aber von diesem Reichtum sehen wir nicht viel und stattdessen bringt der technologische Fortschritt uns hauptsächlich schlechte Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit und Armut.
Fordern was uns zusteht
Um von der Digitalisierung zu profitieren, müssen wir um die Früchte des Fortschritts und letztlich für die Befreiung von der Lohnarbeit kämpfen. Der Prozess des technologischen Fortschritts macht dies im Kapitalismus zu einem endlosen Kampf um den von uns erarbeiteten Reichtum. Wenn wir diesen nicht einfordern, werden wir nicht von der Produktivitätssteigerung profitieren und die Zahl der benötigten Arbeitskräfte sinkt weiter.
Wir Arbeitenden und die KapitalistInnen stehen uns in einem unversöhnlichen Klassengegensatz gegenüber. Einerseits versuchen die KapitalistInnen immer, ihren Profit zu maximieren. Andererseits mussten wir uns höhere Löhne und kürzere Arbeitstage stets erkämpfen. Wie der von uns produzierte Reichtum konkret verteilt wird, also wie das Verhältnis zwischen dem bezahlten und dem unbezahlten Teil unseres Arbeitstages ist, wurde und wird auch wesentlich durch den Klassenkampf bestimmt.
Kämpfe für die radikale Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichbleibendem Lohn sind ein wichtiges Mittel. Eine Verkürzung der Arbeitszeit ermöglicht es, unsere Lebensbedingungen zu verbessern und die Arbeit auf mehr Menschen zu verteilen, was die Arbeitslast und Arbeitslosigkeit vermindert. Die KapitalistInnen werden niemals bereit zu solchen Schritten sein, weil sie direkt ihre Profite verkleinern würden. Wenn uns unser Wohlergehen wichtiger ist als die Profite der KapitalistInnen, müssen wir bereit sein, uns gegen deren Willen durchzusetzen und mit dem Kapitalismus zu brechen.
Nur unter der Drohung und Durchführung von Streiks konnten wir heutige Errungenschaften wie den Achtstundentag oder Sozialversicherungen erkämpfen, geschenkt wird uns nichts. Genauso verhält es sich bei den Produktivitätssteigerungen. Um von ihnen zu profitieren, müssen wir die Kontrolle über die Produktionsmittel erlangen, die heute in der privaten Hand weniger KapitalistInnen sind. Nur so können wir die Produktion der Profitlogik entreissen und dafür sorgen, dass das unglaubliche Potential des technologischen Fortschritts auch den arbeitenden Menschen nützt.
Was notwendig ist, um diese Vorstellung auch zur Realität werden zu lassen und wie die Digitalisierung historisch eingeordnet werden kann, damit werden wir uns in den folgenden Artikeln beschäftigen.
Zum zweiten Teil…
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024