Die Chefetage drohte mit Entlassungen. Dennoch verliessen am 16. Oktober mehr als zweitausend Genfer MaurerInnen ihre Baustellen für zwei ganze Streiktage. Im ganzen Land haben die ArbeiterInnen auf dem Bau die Schnauze voll von den Angriffen auf ihre Lebensbedingungen.

Es ist noch dunkel, als die weissen Mützen mit der Aufschrift «GRÈVE» («STREIK») an MaurerInnen, GewerkschafterInnen, AktivistInnen und alle anderen Teilnehmenden der ganztägigen Demonstration in Genf verteilt werden. Es ist kalt, aber die Atmosphäre ist aufgeheizt. Der Grossteil der anwesenden ArbeiterInnen musste nicht von der Notwendigkeit des Streiks überzeugt werden. Sie sind bereit und motiviert für diesen und die kommenden Tage des Kampfes. Bereits seit dem 5. Oktober stimmten die MaurerInnen in der Westschweiz jeden Abend an den Generalversammlungen für Streiktage. An diesem Dienstag beschlossen nun mehr als 2’000 Genfer MaurerInnen, die Missbräuche und Angriffe ihrer Bosse nicht länger zu dulden und sich ihnen entgegenzustellen. Die Zahl der Anwesenden entspricht allerdings nur einem Sechstel der 12’000 Beschäftigten im Baugewerbe des Kantons, verteilt auf 1’400 Unternehmen. Die Entlassungsdrohungen, Einschüchterungen und Repression halten viele von der Teilnahme ab. Dies obwohl die Gewerkschaften Unia, Syna und SIT seit den frühen Morgenstunden Streikposten organisiert hatten.

Polizeipräsenz in Genf, Bild: Association des étudiant-e-s marxistes de l’Université de Genève

Die Gewalt der Bosse
Das Baugewerbe ist eine Hochrisikobranche. Jährlich gibt es in der Schweiz mehr als 50’000 Unfälle. Die ArbeiterInnen wissen genau, dass dies eine gefährliche Branche ist. Die Beschäftigten im Sommer zu 60 Stunden Arbeit pro Woche drängen, das Rentenalter anheben und die über-50-jährigen weiter zu prekarisieren, ist schlicht missbräuchlich. Genau diese Massnahmen werden aber durch den Schweizerischen Baumeisterverband (SBV) vorgebracht.

Der Kampf zwischen den Gewerkschaften und dem SBV ist eine langfristige Angelegenheit. Doch der SBV ist in einer komfortableren Position und hat momentan noch den längeren Atem. Die Bosse zeigen sich schockiert über den «Mangel an Diplomatie» seitens der ArbeiterInnen, die nicht bereit sind, über ihre Gesundheit zu verhandeln. Obwohl das Baugewerbe eine Branche mit steigenden Gewinnen ist, wollen die Unternehmen ihre «Wettbewerbsfähigkeit» durch Produktivitätssteigerungen weiter verbessern. Konkret heisst das, dass die MaurerInnen härter und länger arbeiten sollen; entweder mehr Stunden pro Tag oder länger in Bezug auf ihre Lebensdauer.

Als Antwort darauf haben am 23. Juni mehr als 18’000 Menschen demonstriert, um das Rentenalter 60 zu verteidigen. Die Kapitalisten haben die Botschaft verstanden. Sie stimmten zu, vorläufig auf eine Erhöhung zu verzichten. Im Gegenzug wollten sie aber die Möglichkeit, die Anzahl der flexiblen Stunden von 100 auf 300 Stunden zu verdreifachen. Eine Erpressung, die die MaurerInnen nicht akzeptierten. Unter den aktuellen Bedingungen kann es keine Diplomatie oder Kompromisse geben, es ist ein Armdrücken, das die ArbeiterInnen nur durch die Kraft der Einheit gewinnen können.

Unter den aktuellen Bedingungen kann es keine Diplomatie oder Kompromisse geben, es ist ein Armdrücken, das die ArbeiterInnen nur durch die Kraft der Einheit gewinnen können.»

Die Kampfbereitschaft wächst
«Heute drohen die Genfer Bosse damit, die am Streik Beteiligten zu entlassen», sagte Thierry Horner von der Gewerkschaft SIT. Viele ArbeiterInnen antworten darauf mit zynischem lächeln: Sie werden ohnehin ständig bedroht. Ob AusländerInnen, GrenzgängerInnen, über-50-Jährige oder Zeitarbeitskräfte (die 70% der MitarbeiterInnen auf den Baustellen ausmachen), alle sind an diese Art von Drohung gewöhnt.

Sie wissen, dass sie Teil eines Klassenkampfes sind, eines Kampfes um ihr eigenes Überleben. Drohungen und Gewalt gehören dazu. Um ihre Rechte zu wahren und konkrete Verbesserungen zu erreichen, müssen sie laut werden. Der Kampf soll nicht legal, ruhig oder diplomatisch sein. Einige der anwesenden eingewanderten ArbeiterInnen verstehen das Konzept des Arbeitsfriedens nicht und finden es unverständlich, dass eine Genehmigung für Demonstrationen oder Streiks erforderlich ist. «Es ist schade, dass es so ist. Wir sind eine kleine Gruppe und machen zur Zeit nicht wirklich einen Unterschied. Und die Bosse werden sagen können, dass sie uns demonstrieren lassen haben», sagt ein Maurer, der Grenzgänger ist. «Es sollte einen nationalen Streik in allen Sektoren geben, ohne Vorwarnung und mit viel Lärm.» Dieselben Gefühle werden auch in Spanisch und Portugiesisch ausgesprochen, die Sprachen die heute Morgen auf der Mont-Blanc-Brücke am häufigsten gesprochen werden.

Der Funke ist präsent am Streiktrag.
Bild: Association des étudiant-e-s marxistes de l’Université de Genève

Wütender und solidarischer Umzug
Der Umzug führt die Demonstrierenden zum Genfer Verband des Baugewerbes (FMB), dann zum Arbeitgeberverband der Romandie und schliesslich zur Genfer Tochtergesellschaft des SBV. Trotz vorübergehender Blockaden in der Innenstadt und im öffentlichen Nahverkehr erklären sich die meisten Beschäftigten in anderen Sektoren mit dem Maurerstreik solidarisch, insbesondere jene des Handwerks und des Baunebengewerbes, zu denen ElektrikerInnen, TischlerInnen und andere Angestellte gehören. Aber die Solidarität ist zu zaghaft: Selbst wenn sie an den gleichen Standorten arbeiten, wollen diese Beschäftigten nicht riskieren, entlassen zu werden. Darum geht es beim Arbeitsfrieden: sicherstellen, dass die ArbeiterInnen isoliert bleiben.

Die MaurerInnen fragen sich, wie sie die anderen Teile der Arbeiterklasse mobilisieren können. Sie wissen, dass sie Stück für Stück ihre Rechte verlieren und ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel setzen werden, wenn sie auf sich alleine gestellt bleiben. Und das für weniger als den Mindestlohn. Doch durch die Erfahrungen des Kampfes wird die Einheit geschmiedet. Die Demonstration der 3’000 MaurerInnen in Bellinzona am 15. Oktober ist Ausdrucks derselben Wut, genau wie schon jene im Juni in Zürich.

Der zweitägige Streik in Genf zeigte, dass die MaurerInnen mit oder ohne Genehmigung wissen, wie man sich organisiert und demonstriert. Jede Vollversammlung, jeder Tag der Mobilisierung hebt die Widersprüche des kapitalistischen Systems hervor und verstärkt den Klassenkampf. Jedes Mal wird die Unmöglichkeit von Verhandlungen aufgezeigt und die Wut der MaurerInnen steigt. Bei jedem Misserfolg im Verhandlungsprozess zeigen die reformistischen Gewerkschaftsbürokratien ihre eigenen Grenzen auf. Es ist die Stärkung des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft der ArbeiterInnenklasse, die die Gewerkschaften stärken und das Kräfteverhältnis mit den Bossen verändern wird.

Der nächste Verhandlungstag ist der 7. November und die Gewerkschaften drohen bereits mit mehrwöchigen Streiks. Aber um diesen Druck auch wirklich auszuüben, müssen mehr MaurerInnen anwesend sein. Die anwesenden ArbeiterInnen auf der Mont-Blanc-Brücke haben mit ihrem Bewusstsein und ihrem Kampfgeist die Richtung für die kommenden Kämpfe vorgegeben.

Ana Quijano
ASEMA Genf