«Safe-Spaces» und politisch korrekte Sprache sind für die Identitätspolitik unverhandelbar. Marco, Mitglied unserer kanadischen Schwestersektion «Fightback», zeigt im Interview auf, warum solche Konzepte den Kampf gegen Unterdrückung letzten Endes nicht fördern, sondern behindern.


«Du bist keine Frau, also kannst du nicht wissen, wie ich unterdrückt werde.» Sätze wie dieser gehören zum Standard-Repertoire der Identitätspolitik, die seit den 60er- und 70er-Jahren zunehmenden Einfluss in der Linken erlangt. Ein Hauptmerkmal dieser Theorie liegt darin, dass eine bestimmte unterdrückte Gruppe nur von jenen repräsentiert werden könne, die über dieselben Merkmale verfügen und somit dieselbe Unterdrückung am eigenen Leib erfahren. Die Erfahrungen von Fightback (IMT Kanada) zeigen, dass diese Ansätze in der Praxis schädliche Konsequenzen für den effektiven Kampf gegen den Kapitalismus und alle Formen der Unterdrückung haben. Sie spalten die Arbeiterklasse, indem sie zulassen oder sogar fördern, dass verschiedene Gruppierungen gegeneinander ausgespielt werden. «Aufgeteilt und zersplittert nach Ethnizität, Geschlecht etc. sind wir machtlos», meint Marco und erzählt uns von zwei Bewegungen, denen die Identitätspolitik direkt geschadet hat; eine davon eine Anti-Trump-Kundgebung. Er hält ihr eine marxistische Analyse entgegen und erklärt, dass nur der einheitliche Kampf der Arbeitenden alle Formen der Unterdrückung endgültig beenden kann.

Der Funke: Ihr habt nach den Wahlen in den USA bei der Organisation einer Anti-Trump-Kundgebung in Toronto mitgeholfen. Welche Erfahrungen habt ihr gemacht und auf welche Probleme seid ihr gestossen?

Marco: Im Vorfeld fingen VertreterInnen der Identitätspolitik, damit an, auf der Veranstaltungsseite die Frauen anzugreifen, welche die Kundgebung organisierten. Weil keine schwarze Person im Organisationskomitee war, nannten sie die Organisatorinnen «white supremacists». Es ist sehr widersprüchlich. Sie reden von «safe spaces» und bestehen auf politisch korrekte Sprache, aber griffen gleichzeitig diese Frauen und die Bewegung selbst an. Am Ende traten alle drei Frauen aus dem Organisationskomitee zurück. Es war die erste Anti-Trump-Demo in Toronto und die Identitätspolitik-AktivistInnen rieten den Leuten, nicht zu kommen! Sie waren so weit von der Realität der Demonstrierenden entfernt.

Was meinst du damit, dass sie von der Realität der Demonstrierenden entfernt waren?

Die Forderungen der Identitätspolitik haben nichts mit den tagtäglich erlebten Problemen von Unterdrückten zu tun. Anstatt mit ihnen über «safe spaces» oder gendergerechte Sprache zu sprechen, muss man sich wirklich auf die Bewegung stützen, um diese unterdrückten Gemeinschaften vertreten zu können. Man muss unter ihnen sein, ihnen zuhören und Seite an Seite mit ihnen gehen, wenn sie demonstrieren oder streiken.

Was bedeutet «sich auf die Bewegung stützen»? Und worauf stützt sich die Identitätspolitik?

Indem wir unsere Theorie auf reale Erfahrungen in der ArbeiterInnenbewegung basieren, verstehen wir, was an ihrer Realität anknüpft. Sie fordern bessere Arbeitsplätze, erschwingliche Miete, kämpfen gegen Polizeibrutalität oder häusliche Gewalt etc. Forderungen wie die der Identitätspolitik, welche sich beispielsweise auf Sprache oder bürgerliche Gesetze beschränken, sind für die herrschende Klasse völlig in Ordnung, weil sie die Machtfrage nicht stellen. Damit wollen sie die Menschen überzeugen, ihre Gewohnheiten und ihre Ideen zu ändern und so soll die Unterdrückung verschwinden.
Identitätspolitik kämpft gegen Einstellungen und die Sprache der Menschen, anstatt die Quelle der Unterdrückung anzugreifen, weil sie nicht verstehen, woher diese kommt.

Was ist also die Quelle der Unterdrückung?

Als MarxistInnen sind wir MaterialistInnen. Wir erklären Ideen und Einstellungen der Menschen anhand ihrer Lebensbedingungen, ihrer materiellen Basis. Um Ideen und Einstellungen zu verändern, müssen wir bei den Bedingungen, unter denen die Menschen leben, ansetzen. Die Revolution wird nicht automatisch alle Unterdrückung abschaffen. Sie liefert aber die materielle Grundlage dafür, indem sie den künstlichen Mangel, der unter dem Kapitalismus herrscht und die Leute gegeneinander aufbringt, beendet und so werden auch ihre Einstellungen sich verändern. Bis dahin ist es unsere Aufgabe, aufzuzeigen, wie Sexismus und Rassismus mit Kapitalismus zusammenhängen, um so die Arbeitenden hinter einem Banner zu vereinen.

Menschen leiden unter verschiedenen Formen der Unterdrückung, z.B. basierend auf Hautfarbe oder Geschlecht. Haben sie deshalb nicht auch unterschiedliche Interessen?

Ich sage nicht, dass Hautfarbe oder Geschlecht keine Rolle spielen. Im Kapitalismus tun sie das – aber nicht in Bezug auf die Interessen der Menschen, sondern auf das Niveau ihrer erlebten Diskriminierung, das unterschiedlich sein kann. 
Es wäre lächerlich zu sagen, dass ein dunkelhäutiger Mann, der sein ganzes Leben lang in den Slums von Detroit verbracht hat, etwas mit jemandem wie Kanye West gemeinsam hat. Viel mehr lässt sich sein Leben mit dem einer weissen Frau, die unter den gleichen Bedingungen lebt wie er, vergleichen. Entscheidend ist also in erster Linie Klassenzugehörigkeit, nicht Hautfarbe oder Geschlecht. Natürlich gibt es Probleme wie Polizeibrutalität, von denen Dunkelhäutige, oder häusliche Gewalt, von denen Frauen mehr betroffen sind. Aber wie bekämpfen wir die am besten? Indem wir die Unterdrückten und Diskriminierten in einem gemeinsamen und geeinten Kampf, basierend auf ihrem Klasseninteresse mit anderen Arbeitenden zusammenbringen, um die Bedingungen für alle zu verbessern – anstatt die einen gegen die anderen auszuspielen.

Auch als Teil des Streiks der Lehrerpersonen und Studierenden an der York University hat Fightback Erfahrungen mit Identity Politics gemacht. Kannst du erklären, was passierte?

Wir solidarisierten uns vom ersten Tag an mit den Streikenden. Unser einziges Interesse bestand darin, die Lehrerpersonen im Streik zu unterstützen. Also riefen wir anhand einer Resolution, welche von der Versammlung angenommen wurde, zur Einheit im Streik auf. Der Kampf der Lehrerpersonen ist der Kampf der Studierenden: Es ist ein Kampf für unsere Zukunft und er muss mit der ArbeiterInnenklasse geführt werden.

Andere Fraktionen aber lenkten von der Diskussion ab, indem sie uns alles mögliche vorwarfen, anstatt politisch auf uns zu antworten.

Sie beschuldigten uns der Pädophilie, patriarchaler Strukturen, des Rassismus… Eine unserer Genossinnen, eine dunkelhäutige Frau, stand auf und fragte sie höflich nach Namen, weil wir die Anschuldigungen ernst nahmen. Aber allein indem sie dies tat, wurde sie ausgebuht und beschuldigt, eine Vergewaltigung zu verteidigen. Am Ende führten diese Gruppen den Kampf in eine Niederlage, indem sie mit falschen Vorwürfen von den wichtigen Fragen ablenkten und die Bewegung spalteten.

Du hast die Wichtigkeit der Einheit im Kampf und die ArbeiterInnenklasse betont – was ist so besonders an ihr?

Die ArbeiterInnen haben eine Macht, welche Studierende oder Einzelpersonen nicht haben. Die Macht, die Produktion einzustellen oder Universitäten zu blockieren. Es ist die ArbeiterInnenklasse, welche sich der Gesellschaft bemächtigen und sie verändern kann. Man kann starke Ideen haben, aber egal wie stark diese Ideen sind, ein Individuum hat nicht die gleiche Macht oder den gleichen Einfluss auf die KapitalistInnenklasse wie die vereinten ArbeiterInnen. Das ist also die Macht der ArbeiterInnenklasse: Es ist das kollektive Handeln.