Im November 2018 jährt sich der Landesstreik zum 100sten Mal. Anlässlich des Jubiläums wollen der SGB und die SP den Streik als nationales, erfolgreiches Ereignis darstellen – als Gründungsmythos für alle sozialen Errungenschaften. Angesichts ausbleibender realer Reformen suchen SP und Gewerkschaften sich über Vergangenes zu legitimieren. Damit das gelingt, trickst die reformistische Linke.
Einerseits hilft eine Kombination aus Aussagen, die nicht umstritten sind, und historischen Details Kontroversen zu vermeiden. Beim 90-Jahre Jubiläum sprach sie selbstbewusst von Klassenkampf, der grossen Tradition der ArbeiterInnenbewegung, und bezeichnete den Streik als fundamentales Kampfmittel. Heute ist es komplexer: Er sei sowohl Sieg wie Niederlage gewesen. Andererseits präsentiert sie die Geschichte steril. Weder Handlungsmöglichkeiten noch Entscheidungen der damaligen Akteure interessiert sie. Der Verlauf der Ereignisse war alternativlos.
Das erreicht sie, indem lediglich über Hintergründe und Folgen des Streiks, nicht aber über die konfliktreiche Entstehung gesprochen wird. Nehmen wir das offizielle Bildungsmaterial von SP und JUSO als Grundlage, um diese Sicht näher zu betrachten.
Bei den Hintergründen des Streiks sprechen JUSO und SP über den ersten Weltkrieg und die europäischen Revolutionen, die ihn beendeten. Dabei lassen sie aber die Rolle der Sozialdemokratischen Parteien aus, welche die Kriegsführung ihrer Länder billigten und revolutionäre Prozesse aktiv bremsten. Auch die Schweizer SP unterstützte die Kredite, um das Militär zu mobilisieren und entsagte dem Klassenkampf.
Das materielle Elend in der Schweiz von 1918 und die vielen Demonstrationen und Streiks dagegen sind unbestritten. Jedoch werden die politischen Verhältnisse – die bürgerliche Klassendiktatur – schönfärberisch als «fehlende Mitsprache» (SP-Bildungsprogramm) bezeichnet. Die Radikalisierung breiter Teile der arbeitenden Klasse durch diese gesellschaftlichen Verhältnisse wird meist ausgeblendet.
Hier wäre ein wichtiger Ansatzpunkt gewesen: Eine revolutionäre Linke hätte diese Dynamik begrüsst und sie durch die radikalen Forderungen und den konsequenten Kampf unterstützt. Doch die sozialpatriotische Führung der SP machte diese Entwicklung nicht mit, was zu schweren Konflikten führte.
Trotzdem wurde die Idee eines landesweiten Generalstreiks immer beliebter. Aber nicht als Mittel der alten Funktionäre: In den Redaktionsstuben und Fraktionstreffen glaubte man nicht an die Veränderung durch Massenbewegungen. Eigenaktivität der Massen galt als undiszipliniert und gefährlich. Ein Landesstreik müsste also eine nach klarer Befehlskette organisierte Aktion sein, die nach Belieben von der Führung an- und abgestellt werden konnte. Aber in der Schweiz wäre so etwas ohnehin nicht nötig, da der parlamentarische und gewerkschaftliche Tageskampf ausreiche und der Sozialismus irgendwann automatisch käme. In dieser Art Politik haben Arbeitende, die selber die Initiative ergreifen, entscheiden und handeln, keinen Platz.
Die heutige SP bezeichnet den Landesstreik als «organisiert vom Oltener Aktionskomitee» (OAK). Damit vertuscht sie einen zentralen Punkt: Die damalige SP-Führung wollte den Landesstreik gar nicht. Doch Grossereignisse wie ein Massenstreik geschehen, ob sie von den Herrschaften der SP und Gewerkschaftsspitzen gewollt werden oder nicht. Der Klassengegensatz war zugespitzt und die Arbeitenden benötigten ein Ventil. Ein Teil der ArbeiterInnenführung um Robert Grimm erkannte das; sie setzten sich zum Ziel, sich an die Spitze des kommenden Streiks zu stellen, um ihn innerhalb des legalen Rahmens zu halten.
Zu diesem Zweck wurde auf Initiative Grimms Anfang 1918 das Oltener Aktionskomitee geschaffen. Eine Niederlage sei nach Grimm ein kleineres Übel im Vergleich zu den Folgen, «wenn wir die Bewegung durch zersplitterte, planlos arbeitende Massen führen lassen». Die grösste Gefahr sah Grimm also darin, dass die Führung der Linken ihre Machtposition und damit die Grundlage ihrer eigenen Karrieren einbüssten. Die mehrfache Androhung des Streiks 1918 brachte die Mitglieder des OAK mit dem Bundesrat an den Tisch. Nach einem Kompromiss über ökonomische Forderungen im August galt die Gefahr als gebannt und der Streik als vom Tisch.
Entsprechend überraschend war für das OAK die Streikbewegung im November. Das Komitee rief zum Streik auf. Das Ziel war aber nicht, ein «Programm für den sozialen und politischen Fortschritt in der Schweiz im 20. Jahrhundert» aufzustellen, wie uns die ReformistInnen heute weismachen wollen. Vielmehr war es der hastige Versuch, doch noch die Kontrolle über die sich anbahnende Bewegung zu behalten. Das Oltener Aktionskomitee hoffte zunächst, die Wut über einen Blitzableiter zu neutralisieren: ein eintägiger Proteststreik an 19 Orten. Als zusätzliche Orte ungeplant mitstreikten, zeichnete sich bereits ab, dass die Arbeitenden es nicht bei dieser Aktion belassen wollten. OAK-Mitglied Düby gibt im Nachhinein zu Protokoll, sie dachten, «dass wir nun dafür sorgen müssen, dass die Bewegung nicht etwa zu einer ungeordneten werde und übergreife auf andere Kreise, sondern dass wir diese Bewegung von Anfang an in den Händen behalten». Da sich der Streik nun sowieso ausdehnen würde, müsse das OAK die Kontrolle behalten.
Nach nur drei Tagen gab das OAK bereits die Anweisung zum Streikabbruch – bis heute eine der wichtigsten Kontroversen. SP und Gewerkschaften rechtfertigen (damals wie heute) den Entscheid mit der militärischen Übermacht und der Gefahr eines Bürgerkrieges. Es gibt kein Anzeichen, dass die Kampfbereitschaft der Streikenden erschöpft war. Sie waren völlig überrascht und am Boden zerstört von der Nachricht. Viel zentraler als die Frage der möglichen Weiterführung ist aber die fehlende Vorbereitung.
Im Gegensatz zur Linken war die bürgerliche Gegenseite nicht untätig. Besonders der reaktionäre General Wille liess Arbeitersoldaten aus militärisch wichtigen Posten entfernen und Bauerneinheiten an Maschinengewehren ausbilden. Mit der Besetzung Zürichs wurde dann der Streik gezielt provoziert.
Das Oltener Aktionskomitee sprach 1918 immer wieder vom Streik, traf aber keinerlei Vorbereitungen. In den Monaten vor dem Streik diskutierten sie nicht einmal mehr intern darüber. Während des Streiks riefen sie zur Bildung von Soldatenräten auf, taten aber nichts, um das konkret umzusetzen. Sie wollten weder die bürgerliche Ordnung noch deren Staat infrage stellen. Folglich hielten sie es nicht für nötig, Soldaten gegen die herrschende Klasse zu politisieren und zu organisieren. Das wäre nötig gewesen, um den Militäreinsatz gegen den Streik zu neutralisieren. In der ganzen Schweiz hatte es vor dem Krieg Militäreinsätze gegeben, zweimal kam es gar zu Toten. Nicht mit einem Militäreinsatz zu rechnen war also fahrlässig, wenn nicht destruktiv. Sie hatten keine Vorbereitungen getroffen und konnten sich letztlich bloss auf Schadensbegrenzung konzentrieren.
Die heutige SP stellt sich klar gegen diese Interpretation des Landesstreiks. Einerseits würde es ihren friedlichen Mythos vom erfolgreichen Streik beschmutzen. Andererseits machen sie weiterhin die gleichen grundsätzlichen Fehler: Sie sehen den Kapitalismus in der Praxis als alternativlos an und beschränken sich auf den bürgerlich-rechtlichen Rahmen. Massenbewegungen drohen jedoch genau diesen zu brechen, weshalb die SP sich davor fürchtet.
Das OAK war der Illusion verfallen, man könne einen Generalstreik als Druckmittel anführen, ohne mit diesem die Machtfrage zu stellen. Dementsprechend haben sie sich nicht so vorbereitet wie es eine revolutionäre Strategie verlangt hätte. Heute verdreht die SP den Landesstreik in ein unkontroverses Plädoyer für eine bürgerliche Herrschaft mit ein wenig mehr SP-Beteiligung. Eine andere Haltung wäre auch nicht vereinbar mit ihrer heutigen Praxis, die ja mit dem Landesstreik-Jubiläum gerechtfertigt werden soll.
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