In Bosnien brachen letzte Woche aufstandsähnliche Massenproteste aus. Die Balkankriege haben das Land in die Barbarei zurückgeworfen. Kapitalismus bedeutet nur wachsendes Elend. Wir blicken auf die Hintergründe der Proteste.
Der Fall des eisernen Vorhangs brachte für den Balkan einen Rückfall in die Barbarei längstvergangener Zeiten. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ging einher mit dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens. Die Folge waren Krieg, nationalistische Hysterie und sozialer Verfall.
Die grossen Profiteure dieser Wende waren keine Demokraten, wie sie einst in Westeuropa nach den bürgerlich-demokratischen Revolutionen ans Ruder gelangt waren. Es handelte sich in Osteuropa und auf dem Balkan auch nicht um eine bürgerlich-demokratische Revolution, sondern um eine kapitalistische Restauration, in der das korrupte Bürgertum der Zwischenkriegszeit, welches im stalinistischen Staatsapparat überlebt hat, erneut an die Oberfläche kroch und zum bestimmenden Faktor in der Wirtschaft wurde. Um in Osteuropa und auf dem Balkan eine kapitalistische Restauration zu erreichen, konnte sich der Westen nicht auf fortschrittliche Elemente stützen. Ein durch und durch reaktionäres Unterfangen verlangt durch und durch reaktionäre Handlanger. Mafiakapitalisten und korrupte Ex-Bürokraten bereicherten sich an den „Privatisierungen“. Das waren alles andere als verlässliche Partner für den Westen. Sie fielen über die fettesten Brocken der verstaatlichten Industrie her, vieles verscherbelten sie an ausländische Konzerne, einiges ging auch in die eigene Tasche. Die neuen Machthaber waren zu allem bereit. Für ihren Raubzug betrieben sie chauvinistische Hetze bis ins Extrem. Wie sein Vorgänger, der parasitäre Dynast eines südosteuropäischen Pufferstaats, ist der moderne Mafiakapitalist „stets bereit Europa in Brand zu stecken, um sich ein Ei daran zu kochen“ (so der Balkanforscher Hermann Wendel, Anm.). Auf diese Weise verwandelte sich der Balkan nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder in die Eiterbeule Europas. Wieder einmal begannen abenteuerliche Chauvinisten Kriege in der Hoffnung die Unterstützung europäischer Grossmächte zu gewinnen.
Dieser Rückfall in die Barbarei vergangener Zeiten ist zweifellos eine Folge des kapitalistischen Restaurationsprozesses. Besonders tragisch war das Resultat dieser nationalistischen Aufwallungen für Bosnien. Ähnlich wie in Kroatien erfolgte auf die internationale Anerkennung Bosniens 1992 eine Welle der Säuberungen seitens moslemischer und kroatischer Banden, aber auch seitens der serbischen Nationalisten, die eine „Serbische Republik Bosnien-Herzegowina“ gründeten und binnen kurzem 70% des Territoriums unter ihre Kontrolle brachten. Zwischen Frühjahr und Sommer 1992 wurden in der Hoffnung, die Grossmächte vor vollendete Tatsachen stellen zu können, von den Faschisten jeder Prägung täglich rund 200 Häuser zerstört und tausende Menschen vertrieben. Drei Jahre wütete der Krieg in Bosnien. Im Frühjahr 1995 entschloss sich die NATO auf der Seite von Kroatien und Bosnien einzugreifen. 200.000 Serben wurden in Folge vertrieben. Nachdem Serbiens Staatsoberhaupt Milosevic, anders als zuvor gehofft, in London und Paris keine Bündnispartner fand, sah er sich zum Einlenken gezwungen und unterstützte den Friedensplan von Dayton. Bosnien und Herzegowina wurde nun als unabhängiger Staat anerkannt. Obwohl es offiziell ein multiethnischer Staat ist, wird das Land nach dem ethnischen Prinzip geteilt. Es setzt sich aus zwei Teilrepubliken (Entitäten) zusammen: der Republika Srpska (Serbische Republik) mit 49 % und der (bosniakisch-kroatischen) Föderation von Bosnien und Herzegowina mit 50 % des Territoriums. Auf beiden Seiten haben chauvinistische Kräfte das Sagen. Internationale Truppen (die EUFOR, die 2004 die NATO abgelöst hat) garantieren seither die Aufrechterhaltung des Dayton-Abkommens. Österreichische Soldaten bilden das Rückgrat dieser EUFOR-Truppen, die auch von einem Österreicher kommandiert werden. Für die zivilen Aspekte des Abkommens ist im Auftrag der UNO der Hohe Kommissar (derzeit der Österreicher Valentin Inzko) zuständig. Er verwaltet das Protektorat Bosnien de facto autoritär. So besitzt er weitgehende Vollmachten, kann demokratisch gewählte Amtsträger entlassen, Gesetze erlassen und neue Behörden schaffen. Er hat damit gedroht, Truppen der Eufor einzusetzen, wenn die Demonstrationen ausser Kontrolle geraten.
Der Zerfall Jugoslawiens war aus der Sicht des Westens eine nicht unbedingt gewünschte, aber nichts desto trotz notwendige Nebenerscheinung der kapitalistischen Restauration. Der Kapitalismus in seiner Epoche des Niedergangs, kann nicht in demselben Ausmass frische Kräfte hervorbringen wie in den Zeiten seiner Morgendämmerung. Westeuropa hat im Osten keine Robespierres, Dantons, Washingtons, ja nicht einmal Bismarcks oder Cavours gefunden, um sein pro-kapitalistisches Projekt umzusetzen. Das Balkanbürgertum hat es zu keiner Zeit in so luftigen Höhen geschafft, wie die Bourgeoisie im Westen. Es war vielmehr nach 1945, von Korruption, Chauvinismus und Kollaborantentum zerfressen, der Zukunft in Form von Titos Partisanenarmee gewichen. Nach der Wende in den frühen 1990ern musste sich der Westen zur Durchsetzung seiner Ziele wohl oder übel mit dubiosen Elementen begnügen, die nahtlos an die schlimmsten Traditionen des Balkanbürgertums anknüpften.
Doch diese waren die einzige soziale Kraft, mit der man an die Restauration des Kapitalismus auf dem Balkan heranschreiten konnte. Auf diesem Weg waren allerdings „zugleich in der gesamten Region die Hindernisse auszuräumen, die dem Abbau des Staatssozialismus entgegenstehen.“
Diese sogenannten „Hindernisse“, also gewerkschaftliche Oppositionsgruppen auf regionaler Ebene, Antikriegsinitiativen von ArbeiterInnen und Jugendlichen in den industriellen Zentren, waren jedoch die einzige in der Bevölkerung verankerte internationalistische Alternative zu dem Regime der nationalen Oligarchien.
Nach den Balkankriegen knüpfte die internationale Staatengemeinschaft ihre gesamten Hoffnungen auf den Aufbau einer Zivilgesellschaft auf dem Balkan. Unter Zivilgesellschaft wurde alles verstanden, was sich nicht nach dem ethnischen Prinzip organisiert. Zu dieser offiziellen Darstellung muss noch eine inoffizielle hinzugefügt werden: Die Zivilgesellschaft muss pro-marktwirtschaftlich und pro-westlich sein.
Die Streikbewegungen Ende der 1980er Jahre, an denen sich Millionen ArbeiterInnen sämtlicher „Ethnien“ beteiligten, wurde jedenfalls nicht als Zivilgesellschaft unterstützt, sondern auf Druck der Weltbank, des IWF und der Kreditgeberländer abgewürgt und mit rassistischen Phrasen gespalten.
Zu Beginn des Krieges in Kroatien gab es noch gewaltige internationalistische Proteste der städtischen Bevölkerung in den bosnischen Zentren Tuzla, Brcko, Zenica und auch in Sarajewo. Gerade in den industriellen Zentren, wo sich noch 1991 mehr als 20% der Bevölkerung als Jugoslawen bezeichneten, kam es zu Antikriegskundgebungen, an denen sich 100.000 ArbeiterInnen und Jugendliche beteiligten. Dieselben Politiker, die heute der Zivilgesellschaft das Wort reden, haben 1992 gegen den Willen dieser internationalistischen Bewegung ein verfassungswidriges Referendum über die Unabhängigkeit Bosniens anerkannt und damit den ChauvinistInnen sämtlicher Couleur freie Hand gelassen.
Ausplünderung
Anders als der Nahe Osten und Osteuropa, die über reiche Rohstoffquellen bzw. eine profitable verarbeitende Industrie verfügen, war der Balkan für die imperialistischen Mächte eher von geopolitischer als von wirtschaftlicher Bedeutung. Nichtsdestotrotz wurde der Balkan auch wirtschaftlich erobert.
Die Vorgehensweise war im Grossen und Ganzen überall gleich. Die billigen, besser verarbeiteten Produkte aus dem Westen verdrängten heimische Produkte der Balkanländer und schufen ein riesiges Aussenhandelsdefizit. Um die teuren Importe bezahlen zu können, mussten ausländische Direktinvestitionen herbeigeschafft werden. Die verstaatlichte Industrie wurde ans Ausland verscherbelt und produzierte ab sofort für den Weltmarkt und nicht für die Bedürfnisse der Bevölkerung. Die Qualität der Exportwaren stieg zwar in der Regel, doch wurden wegen der gigantischen Überkapazitäten am Weltmarkt die Produktionskapazitäten eingeschränkt. Nicht selten wurden in Südosteuropa Werke einfach geschlossen, um lästige Billigkonkurrenten loszuwerden.
Österreichische Unternehmen schnappten sich in jenen Jahren ein nicht zu kleines Stück vom Kuchen. „Die Presse“ schrieb im Februar 2002 über die Privatisierungen in Bosnien und Herzegowina:
„Zusätzlich zum Privatsektor gab es bis vor einigen Jahren rund 1000 grössere Unternehmen im gemeinschaftlichen bzw. staatlichen Eigentum, die seit einigen Jahren privatisiert werden. Die ‚Privatisierungsagentur der Föderation von Bosnien und Herzegowina’ mit Sitz in Belgien hat nun eine Liste von 20 Firmen aufgestellt und die ersten drei zum Verkauf ausgeschrieben. Dabei handelt es sich um Feroelektro, ein Produktions- und Handelsunternehmen, das vor dem Krieg 12.000 Mitarbeiter hatte und nun mit 295 Angestellten gewinnbringend arbeitet. Unter den Hammer kommt weiters die Handelskette Merkur mit 20 Läden in Mostar und 13 in Sarajewo sowie das Transportunternehmen Intersped.“
Eine Folge der Privatisierungspolitik war, dass auch nach Ende des Krieges die Arbeitslosigkeit extrem hoch blieb. Arbeitsplätze gingen in der Industrie verloren und entstanden wenn dann nur in der von der Mafia kontrollierten Schattenwirtschaft, der soziale Basis der Chauvinisten, neu.
„Die Arbeitslosenrate ist mit 40 Prozent weiterhin sehr hoch, inoffiziell hat sich aber eine florierende Schattenwirtschaft etabliert“, schrieb „Die Presse“ 2002. Und weiter:
„Österreichs Unternehmen sind in Bosnien-Herzegowina sehr aktiv, die Investitionen erreichten laut Wirtschaftskammer im Vorjahr ein Volumen von 192 Mill. Euro. An vorderster Front befinden sich dabei Banken – mittlerweile sind vier heimische Institute tätig – und Versicherungen. Interessant ist Bosnien auch für die Säge- und Zementindustrie, für den Versand- und den Agrarhandel. Rund 70 österreichische Unternehmen haben Niederlassungen gegründet, […]“
Heute ist Österreich der grösste Investor in Bosnien-Herzegowina und hält 85% des Finanzsektors (nur 3% des Marktes gehören heimischen Banken). Die Raiffeisenbank hat einen Marktanteil von ca. 30%, gefolgt von der Ersten Group mit ca. 8%. Seit Kriegsende in Bosnien-Herzegowina flossen aus Österreich knapp 2 Milliarden Euro an Investitionen ins Land.
Hinter sämtlichen nationalistischen Konflikten am Balkan verbirgt sich ein Kampf verschiedener Cliquen zuerst um Anteile am Schwarzmarkt, dann um Anteile an der ehemaligen verstaatlichten Industrie. Die chauvinistischen Banden in Bosnien entwickelten sich direkt aus den Bandenkämpfen auf dem Schwarzmarkt von Sarajewo.
Der Nationalismus und die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung auf dem Balkan beinhalten kein Fünkchen Fortschritt. Das Recht auf Selbstbestimmung der Nationen bedeutete in den letzten 20 Jahren auf dem Balkan das Recht auf Selbstbestimmung der Zigarettenmafia, der Waffen- und Frauenhändler, der Mafiakapitalisten. Dieses Recht können MarxistInnen nicht anerkennen.
Klassenkampfperspektive
Vor rund 10 Jahren schrieben wir über die Perspektiven des Klassenkampfs auf dem Balkan: „Trotz der Wunden, die der Bürgerkrieg in die Seelen der Bevölkerung gerissen hat, ist der Balkan nicht auf ewig zum Nationalismus verdammt. Noch immer sind die gegenläufigen Tendenzen, die zum Internationalismus führen, die langfristig stärkeren. In sämtlichen Regionen, in denen sich nationalistische Gruppen durchgesetzt haben, wird deren Rolle als Kollaborateure der Besatzungsmächte immer offensichtlicher. (…) In Bosnien haben die verschiedenen chauvinistischen Gruppen das Land in eine Lage geführt in der ein Hoher Kommissar Politiker einsetzt und gegen den Willen des Parlaments in den letzten Jahren über 140 Dekrete verabschiedet hat. Die romantischen Reden der Chauvinisten von neuen Grossreichen auf dem Balkan haben sich in Staub aufgelöst. Immer klarer wird den Menschen, wer der wirkliche Feind am Balkan ist. (…) Andererseits führen die Privatisierungen dazu, dass die ArbeiterInnen am Balkan in den Betrieben dem westlichen Kapital gemeinsam gegenüberstehen. Nationalismus ist nur dann von Dauer, wenn er eine soziale Grundlage hat, wenn er den Hass auf die politisch und wirtschaftlich Herrschenden widerspiegelt. (…) Entlang dieser Linie und nicht als Bruderkrieg werden die kommenden Auseinandersetzungen verlaufen. Die Balkanbevölkerung wird im gemeinsamen Kampf gegen die Besatzungsmächte, gegen die Privatisierungen und gegen die chauvinistischen Mafiakapitalisten zusammengeschweisst werden. Der Klassenkampf wird auf dem Balkan zu einer Schule der Kameradschaft werden.“
Bosnien heute
Der Kapitalismus trat also in Südosteuropa nicht als soziale Marktwirtschaft mit menschlichem Antlitz an die Oberfläche, sondern als Mafiakapitalismus. Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise fand auch der Wiederaufbau der bosnischen Nachkriegsökonomie ein Ende. Die Rechnung hatten einmal mehr die ArbeiterInnen zu zahlen. Stellenabbau und ausständige Löhne stehen seither auf der Tagesordnung.
Schon 2009 schrieb der bosnische Sozialist Majevica: “Unter den ArbeiterInnen verlieren nationalistische Ideologien immer mehr an Einfluss. Die Lohnabhängigen haben mit eigenen Augen gesehen, wie die Nationalisten das Land ins Elend und in die Abhängigkeit von den westlichen Mächten geführt haben. Viele Menschen lehnen die gegenwärtige Gesellschaftsordnung, die ihnen von den Nationalisten und deren ausländischen Verbündeten aufgezwungen wurden, ab. Zwei Drittel der Bevölkerung würde gerne auswandern, weil die Lebensbedingungen in Bosnien so katastrophal sind. Die ArbeiterInnen, die einst das Recht hatten über ihre Arbeitsbedingungen und Löhne selbst zu bestimmen, müssen heutzutage froh sein überhaupt einen Job zu haben. Die Arbeitslosigkeit ist eines der grössten Probleme in Bosnien, nachdem noch immer rund ein Drittel der Bevölkerung ohne Arbeit ist. Finanzielle Hilfe aus dem Ausland fliesst meist direkt in die Hände der Nationalisten und in den Bau oder die Renovierung von Kirchen und Moscheen, anstatt in die Verbesserung der Infrastruktur oder die Erhaltung von Schulen und Krankenhäusern investiert zu werden.”
Der wachsende Unmut in der Bevölkerung gegenüber den nationalistischen Eliten zeigte sich 2012 bei den Gedenkfeiern für das Massaker von Srebrenica, bei dem 1995 bis zu 8000 muslimische Männer ermordet worden waren. Jahr für Jahr wurde dort die nationale Einheit beschworen. Doch angesichts der Krisenfolgen wurde immer mehr Menschen klar, dass die nationalistischen Kräfte keine Antworten zu bieten haben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die bosnische Bevölkerung aus dem gesellschaftlichen Koma, in das sie nach dem Krieg verfallen war, wieder zu politischem Leben erwacht. Einen ersten Ausdruck fand das darin, dass bei den besagten Gedenkfeiern die überlebenden Angehörigen der Opfer forderten, dass die offiziellen Ansprachen nicht von PolitikerInnen gehalten werden. Als dem Wunsch der Familien nicht nachgekommen wurde und sich RegionalpolitikerInnen wie auch VertreterInnen der internationalen Staatengemeinschaft diese Bühne nicht nehmen lassen wollten, kam es zu einem gewaltigen Pfeifkonzert.
Seit 2012 kam es auch zu immer mehr Streiks, und zwar in beiden Teilen des Landes. Dabei kam es auch regelmässig zu gegenseitigen Solidaritätsbekundungen. Selbst die Bürgerkriegsveteranen solidarisierten sich. Als ihnen im serbischen Teil Bosniens die Kantonalregierung keine Pensionen zugestehen wollte, organisierten muslimische Veteranen eine Spendenkampagne für ihre ehemaligen Gegner an der Front. Es wurde also immer deutlicher, dass das alte Spiel vom Teilen und Herrschen nicht mehr zieht. Der jugoslawische Marxist Filip Sacirovic aus Belgrad schrieb damals in einem Bericht für den „Funke“: „Die Arbeiterklasse in Bosnien kann auf eine lange und stolze Tradition des Klassenkampfes zurückblicken. Bosnien war die Region, wo Titos Partisanenbewegung die stärkste Verankerung in der Bevölkerung hatte, hier wurden die ersten von den Nazis wieder befreiten Territorien von ganz Europa erkämpft. Doch hier nahm der Zusammenbruch der alten Planwirtschaften in Osteuropa auch seine grausamste Form an und führte zu einem brutalen Bruderkrieg zwischen Menschen, die dieselbe Sprache sprachen und mit Ausnahme der Religion dieselbe Kultur hatten. Es ist verständlich, dass auf diesen Genozid eine Periode des Schockzustands folgen musste, der die bosnische Arbeiterklasse über 20 Jahre ruhig halten liess. Doch es scheint, als würde diese Periode nun zu Ende gehen. Als MarxistInnen begrüssen wir diese Ereignisse als Vorboten für ein Wiederaufleben der revolutionären Traditionen der bosnischen und jugoslawischen Arbeiterklasse.“
In den vergangenen Tagen kam es tatsächlich zu dieser sozialen Explosion, die nur eine Frage der Zeit gewesen ist. Ausgangspunkt war wohl nicht zufällig Tuzla. Auslöser war die Tatsache, dass ArbeiterInnen von drei privatisierten Betrieben für die Auszahlung der ausständigen Löhne und Gehälter protestierten. Bei der Firma „Dita“ wurde seit 50 Monaten nicht mehr bezahlt! Es waren die Betriebsräte dieser Unternehmen, die die erste Demo mit 3000 ArbeiterInnen organisierten. Die Polizei reagierte brutal auf diesen Protest, was aber nur zusätzliches Öl ins Feuer goss. In Folge schlossen sich die Familien und viele Jugendliche dem Arbeiterprotest an. Man darf dabei nicht vergessen, dass die Jugendarbeitslosigkeit in den bosnischen Städten bei 60 Prozent liegt. Diese Bedingungen sind ein soziales Pulverfass. Unter dem Druck der Strasse zog sich die Polizei schliesslich zurück und die Kantonalregierung in Tuzla musste zurücktreten. In Sarajewo wurden Staatsgebäude gestürmt und teilweise in Brand gesteckt.
Unsere Schwesterorganisation „Cvreni“ aus Belgrad schrieb an die DemonstrantInnen in Tuzla: „Euer Beispiel ist umso herausragender, weil ihr die aufoktroyierten engen nationalistischen Grenzen und den religiösen Fanatismus überwunden habt. (…) Die ganze Macht der lokalen Eliten und ihrer ausländischen Herren, ihre ganze Arroganz basierte auf der Behauptung, dass sie die Träger des Friedens zwischen den Nationalitäten seien, und sobald sie weg wären der Krieg wieder ausbrechen würde. Und ja, ihr seid in den Krieg getreten, aber nicht gegen euresgleichen, sondern gegen eure gemeinsamen Unterdrücker – und davor hatten sie immer am meisten Angst. (…) Doch auch in der Stunde dieses Sieges haben wir allen Grund zur Vorsicht. Die lokale Kantonalregierung von Tuzla ist zurückgetreten, der Premierminister ist gestürzt, aber die Oligarchen sitzen noch an ihren Plätzen. Einige Funktionäre wurden entfernt, aber sie haben noch immer Zugriff auf ihre Bankkonten! Der heutige Sieg kann nur durch weitere Siege abgesichert werden. Um diese vorzubereiten, braucht es aus unserer Sicht folgende Massnahmen:
Wie wir immer betont haben: Wenn sich die Klasse zu bewegen beginnt, dann wird dem Nationalismus auf dem Balkan die Grundlage entzogen werden.
Diese Entwicklungen in Bosnien verdienen unsere vollste Solidarität.
Erklärung der ArbeiterInnen und BürgerInnen von Tuzla
Heute entsteht in Tuzla eine eue Zukunft! Die (örtliche) Regierung hat ihren Rücktritt eingereicht. Das bedeutet, dass die erste Forderung der DemonstrantInnen erfüllt worden ist und die notwendigen Bedingungen geschaffen wurden, um die bestehenden Probleme zu lösen. Aufgestauter Zorn und Wut sind die Gründe für aggressives Verhalten. Die Haltung der Behörden hat die Bedingungen geschaffen, um Zorn und Wut zur Eskalation zu bringen.
In dieser Situation möchten wir den Zorn und die Wut auf den Aufbau eines produktiven und nützlichen Regierungssystems richten. Wir rufen alle BürgerInnen auf, an der Verwirklichung folgender Ziele mitzuwirken:
Zu unser aller Wohl legen die ArbeiterInnen und BürgerInnen des Kantons Tuzla diese Deklaration vor.
7. Februar 2014
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