Wer die Gesellschaft grundlegend verändern will, braucht klare Perspektiven und muss sich auf bevorstehende Ereignisse, Tendenzen und plötzliche Wendungen und Überraschungen vorbereiten. So wie ein Wanderer in unwegsamem Gelände Kompass und Landkarte braucht, Wettersignale verstehen und sich mit Ausrüstung und Proviant auf alle Eventualitäten einrichten sollte, müssen sich Revolutionäre theoretisch und praktisch auf die vor ihnen liegenden Aufgaben vorbereiten. Wir dürfen uns nicht mit oberflächlichen Momentaufnahmen zufriedengeben, sondern müssen Erscheinungen als Prozesse betrachten.
Der Marxismus als politisches Werkzeug erfordert genau eine solche Analyse der ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen. Sind diese Entwicklungen doch der bestimmende Faktor, der den oft sehr schnellen und unzusammenhängend erscheinenden Ereignissen auf der Welt zugrunde liegen. Dieses Dokument soll nun einen Überblick geben, über die wirtschaftliche Entwicklung und den Zustand der ArbeiterInnenbewegung in der Schweiz für das Jahr 2016. Dabei gehen wir besonders auf die Ursachen und Konsequenzen der wirtschaftlichen Turbulenzen um den Frankenschock und die (fehlende) Reaktion der Gewerkschaften ein. Aber auch die Entwicklungen in der politischen Landschaft sind ein Thema: Die Veränderungen an der Wahlfront, die Unternehmenssteuerreform und der Zustand von SP und JUSO werden behandelt.
Dieses Dokument soll einem tieferen Verständnis der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Prozesse in der Schweiz dienen und die Grundlage für die Entwicklung einer politischen Strategie für die Schweizer ArbeiterInnenbewegung legen.
Auf europäischer Ebene sehen wir grosse politische Erschütterungen. Die Wirtschaftskrise ist längst zur neuen Normalität geworden. Um ihre Profite zu sichern, wälzt die herrschende Klasse die Krise wo möglich auf den Schultern der Massen ab – in der Schweiz, in Europa und auf der ganzen Welt. Die schwächsten Glieder der europäischen Staaten, die Länder Südeuropas, zeigen, auf welche neue Realität sich ganz Europa zubewegt: Auf den offenen Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Denn die aktuelle allgemeine Krise des Kapitalismus findet ihre Gründe in diesem System selbst.
Für uns MarxistInnen ist es wichtig, die allgemeinen Tendenzen und Zusammenhänge der Veränderungen im kapitalistischen System zu verstehen. In diesem Dokument präsentieren wir unsere Analyse der aktuellen Situation. Nur darauf aufbauend ist eine Erklärung der besonderen nationalen Lage möglich. Wir werden im folgenden Dokument aufzeigen, dass auch der Schweizer Kapitalismus von der globalen Krise betroffen ist. Durch die enorme Exportausrichtung der Industrie ist die Schweizer Volkswirtschaft von der Stagnation des weltweiten Wirtschaftswachstums direkt betroffen. Gerade durch die Anbindung des Frankens an den Euro, die wir ebenfalls analysieren, hatte das Schweizer Kapital mehr Zeit für die Umsetzung ihres Krisenprogramms. Dieses ist aber grundsätzlich genau dasselbe wie in Europa: Ein genereller Angriff auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Massen. Im europäischen Vergleich ist zwar die soziale wie auch politische Lage der Schweiz noch relativ stabil. Doch ewig kann auch die Schweizer Bourgeoisie diese Stabilität nicht mehr aufrechterhalten. Die bislang angewandte Salami-Taktik gerät in Widerspruch zur immer schneller und heftiger auf die Schweiz überschwappenden Krise, weshalb sich der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit auch in der Schweiz immer deutlicher manifestieren wird.
Die Schweiz ist wirtschaftlich und politisch eng mit Europa und der Welt verknüpft. Jede Analyse der hiesigen Situation muss diesen Kontext berücksichtigen. Entsprechend muss auch die Betrachtung der Schweizer Volkswirtschaft mit einigen Kommentaren zur Situation der Weltwirtschaft beginnen. Dort herrscht ein düsterer Ausblick: „Die OECD hat ihre weltweiten Konjunkturprognosen zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten nach unten angepasst. (…) Russland und Brasilien befinden sich in einer Rezession und China dürfte die schwächste Expansion seit mehr als zwei Jahrzehnten verzeichnen, so dass sich die Volkswirtschaften, die in den vergangenen Jahren das weltweite Wachstum angekurbelt haben, nun abschwächen.“ (NZZ 9.11.2015). Das Wachstum in den USA schwächte sich von 3,9% (zweites Quartal) auf 1,5% im dritten Quartal ab. Auf dem europäischen Festland ist „das Bruttoinlandprodukt (BIP) des Euro-Raums (…) im dritten Quartal um 0,3% gestiegen, (…). Das Wirtschaftswachstum fiel somit schwächer aus als im ersten (+0,5%) und zweiten Quartal (+0,4%) und liegt unter den Erwartungen.“ (NZZ 13.11.2015)
Dieses Panorama gibt ein klares Bild von den aktuellen Entwicklungen. Um die Veränderungen historisch und in ihrem globalen Kontext verstehen zu können, interessieren uns nicht in erster Linie die kleinen Verschiebungen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, sondern die unterschwelligen Gründe dieser neuen Krisenwelle. Dabei sind wir nicht die Einzigen. Der bürgerliche Ökonom Thiess Petersen erklärt in Bezug auf die wirtschaftlich hochentwickelten Länder:
Eine säkulare Stagnation hat zur Folge, dass das Kapitalangebot grösser ist als die Kapitalnachfrage. Dieser Angebotsüberschuss auf dem Kapitalmarkt bewirkt einen Rückgang des Preises für Kapital, also eine Verringerung des Zinssatzes. Eine dauerhafte Stagnation zeichnet sich daher durch einen Nominalzinssatz nahe Null aus. Wenn es in einer Volkswirtschaft einen generellen Nachfragemangel gibt, bedeutet dies auf dem Gütermarkt einen Angebotsüberschuss. Daher sinken die Preise.“
NZZ 1.10.2015, Unwirtliche Zeiten für Industrieländer
Dieses Zitat verdeutlicht beispielhaft, dass sich die Bourgeoisie nun strategisch auf eine tiefe und lange ökonomische Krise vorbereitet. Doch Petersen sieht hier nur Oberflächenphänomene: Die weltweite Überproduktionskrise bleibt ihm verborgen. Das Überangebot an Kapital ist genauso eine Folge der fehlenden lukrativen Investitionsmöglichkeiten auf Grund ebendieser Überproduktion. Marx erklärt dies folgendermassen:
In dem Wesen der kapitalistischen Produktion liegt also Produktion ohne Rücksicht auf die Schranke des Markts. (…) Der Markt erweitert sich langsamer als die Produktion [und es] tritt ein Augenblick ein, wo der Markt zu eng für die Produktion erscheint. Dies ist am Schluss des Zyklus. D. h. aber bloß: Der Markt ist glutted [überfüllt]. Die Überproduktion ist manifest.”
Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Kapitel 17, Artikel 12
Was die aktuelle Krise von vorhergehenden rein zyklischen Krisen unterscheidet, ist ihr struktureller Charakter. Es handelt sich nicht um ein einfaches konjunkturelles Tief. Demnach kann diese Krise nicht mit den klassischen Mitteln überwunden werden. Die bestehenden Märkte sind bereits weitgehend ausgeschöpft, potentielle neue Märkte bestehen hingegen kaum. Ein erneuter Weltkrieg kann durch die aktuellen Kräfteverhältnisse ausgeschlossen werden. Auch keynesianische Ankurbelungsmassnahmen können die Krise höchstens noch etwas herausschieben.
Dieser Krisentendenz des Kapitalismus liegt die Notwendigkeit zur Akkumulation zugrunde, die mit der Konkurrenz unter den Kapitalisten einhergeht. Überproduktion ist also eine direkte Konsequenz der Widersprüche des Kapitalismus. Auch muss betont werden, dass sich dieses Problem keineswegs nur auf die hochentwickelten Länder begrenzt. Es hat sich klar gezeigt, dass die „Hoffnungsträger der Weltwirtschaft“, die BRICS-Staaten, wie China und Brasilien, keineswegs von der Krise verschont werden und ihr hohes Wachstum nur durch massive Subventionen und Kreditblasen aufrechterhalten werden konnte. Durch dieses Verhalten wurden zwar Fabrikschliessungen und Arbeitslosigkeit vorübergehend verhindert, jedoch auch die industrielle Überproduktion angekurbelt, da eine zu geringe Nachfrage für ihre Waren existiert. Die Bürgerlichen haben also kein Mittel, um aus der Krise herauszukommen, die 2008 begann.
Ankurbelnde Massnahmen vermögen die Krise ebenso wenig zu überwinden wie Austeritätsmassnahmen. Trotz der Unfähigkeit der Kapitalisten, die Krise zu überwinden, drückt sich diese jedoch nicht als zeitgleicher Absturz aller nationalen Volkswirtschaften aus. Vielmehr verläuft sie ungleich und die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise drücken sich bald in diesem, bald in jenem Sektor, bald in diesem, bald in jenem Land aus. Gleichzeitig ist sie kombiniert, sodass sich die Krise trotz der Ungleichheit als zeitlich, räumlich und sektoral verzögerten Ausdruck der anarchischen Produktionsweise des Kapitalismus zeigt. Die allgemeine Tendenz hinter momentanen Ausdrücken zu erkennen ist die Aufgabe der MarxistInnen und diese bleibt die weiterhin dominierende Überproduktion.
Die Situation der Weltwirtschaft ist für die Schweiz von spezieller Wichtigkeit. Seit jeher ist der Export einer der Grundpfeiler des Schweizer Kapitalismus, der sich auf Grundlage des beschränkten Binnenmarktes herausgebildet hat. Dies zwang das Schweizer Kapital, einen hohen Spezialisierungsgrad zu erreichen, um die nationalen Grenzen der Kapitalakkumulation zu überwinden [1]. Kombiniert mit einer hohen primitiven Kapitalakkumulation in der Schweiz (Söldnerwesen, Transportachse, ausländisches Kapital durch eingewanderte Hugenotten) und den Sonderprofiten aus der Stellung in der europäischen Arbeitsteilung während der Weltkriege (Stichwort Neutralität und Kriegsgewinne) entwickelte sich auch der hiesige Finanzplatz [2]. Der von ihm ausgehende Kapitalexport und die gescheffelten Sonderprofite durch Kapitalflucht trugen zu intensiven Kapitalinvestitionen in die Schweizer Industrie bei und förderten die hohe Kapitalintensität und Spezialisierung in der Exportindustrie. Alleine in den letzten 15 Jahren wurden jährlich durchschnittlich 15 Milliarden CHF mehr exportiert als importiert, also gewaltige Kapitalmengen akkumuliert.
Der Schweizer Kapitalismus ist stärker als kaum eine andere Volkswirtschaft in den Weltmarkt integriert. Die Schweiz exportierte 2012 pro Kopf 1.5-mal so viel wie Deutschland, 6-mal so viel wie die USA und sogar 25-mal so viel wie China. Beim Anteil der Exporte am BIP ist die Schweizer Volkswirtschaft ebenfalls an der Spitze. Dieser betrug zwischen 1975 und 2000 jeweils um die 35% des BIP, erhöhte sich danach aber rasant auf 50% und mehr. Deshalb drückt sich die Überproduktion der Schweiz grösstenteils über den Aussenhandel und nicht über die Binnenwirtschaft aus. Dafür sorgen folgende Eigenheiten: Zunächst sind die realen – also kaufkraftbereinigten – Bruttolöhne in der Schweiz rund 50% höher als in der EU und somit ist die Kaufkraft auch wesentlich höher. Zudem fand auch in der Schweiz eine Ausdehnung des Kredits statt, die weiterläuft und vor allem Hypotheken betrifft. Kredite an Private erhöhten sich in der Schweiz von 2005-2008, also kurz vor der Krise, um satte 25%. Seit 2008 erhöhten sie sich abermals um 30%. Diese Ausdehnung wird auch weitergehen, solange der Druck auf den Franken anhält. Die SNB hält somit die Zinsen und damit die Kosten für eine Verschuldung tief und die Anlageinvestitionen stagnieren auf Grund mangelnder Profitaussichten für Kapitalisten. Auch wenn ein bedeutender Teil der Hypotheken spekulativ ist, so stützen diese dennoch momentan den Binnenmarkt. Was heute noch für Stabilität sorgt – in der Immobilienbranche [3] arbeiten fast 15% der Lohnabhängigen –, kann schon in naher Zukunft Ursache für mehr Instabilität sein. Beispielsweise wenn die Immobilienblase platzt und die Baufirmen zu Massenentlassungen übergehen.
Mit der enormen Exportorientierung der Schweizer Unternehmen verhält es sich ähnlich. In der Vergangenheit war sie eines der wichtigsten Erfolgsrezepte der Schweizer Volkswirtschaft. In Zeiten von weltweiter Krisenhaftigkeit wird diese Abhängigkeit jedoch zur ständigen Risikoquelle. Der Wettbewerbsvorteil auf dem angeschlagenen Weltmarkt muss um jeden Preis verteidigt werden. Die Schweiz ist eben überhaupt keine Insel. Im Gegenteil ist das Schweizer Kapital in aussergewöhnlichem Ausmass mit der globalen Ökonomie verknüpft. Genau deshalb übertragen sich Sparpolitik und Angriffe auf die Arbeitsbedingungen auch auf die Schweiz, obwohl die Staatsverschuldung im internationalen Vergleich relativ unbedeutend bleibt. In diesem Umfeld ist es klar, dass die kommenden Jahre auch hierzulande von bürgerlicher „Krisenpolitik“ geprägt sein werden. Somit stellt die Schweiz ein besonders signifikantes Beispiel der im vorangehenden Kapitel beschriebenen verzögerten Ausdrücke der kapitalistischen Krisen dar. Innerhalb des Systems sind Sozialabbau und Angriffe auf die Rechte und Arbeitsbedingungen der Lohnabhängigen unausweichlich. Sie werden künftig noch intensiviert und auf weitere Bereiche angewendet werden.
[1] Die Konkurrenz unter den Kapitalisten zwingt diese zur immer effizienteren und intensiveren Produktion. Dies kann unter anderem durch erneutes Investieren des erzielten Profites in Maschinen geschehen. Dadurch wird das vorhandene (konstante) Kapital ständig erweitert. Die erhöhte Produktivität, um einander zu unterbieten, bedeutet aber auch, dass sie immer grössere Mengen an Waren herstellen. Da die Waren im Inland an einem gewissen Punkt nicht mehr alle verkauft werden können, müssen sie exportiert werden. Die nationalen Grenzen der Kapitalakkumulation sind erreicht.
[2] Primitive Akkumulation: Die historische Vorbedingung für die Entstehung des Kapitalismus ist die Aufspaltung der Gesellschaft in eine Klasse, welche Produktionsmittel besitzt, und eine Klasse von besitzlosen Menschen, die zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen sind. Dazu war einerseits die Enteignung einer Schicht von Menschen nötig, etwa von landlosen Bauern, die in die Städte abwanderten und dort als Tagelöhner eine Frühform des modernen Proletariats bildeten; andererseits mussten die späteren Kapitalisten irgendwie in den Besitz von Produktionsmitteln gelangen, was wiederum eine Klasse voraussetzte, die bereits im Besitz von einer gewissen Menge an Geldkapital war. Diese Klasse bestand häufig aus Händlern, welche sich durch Wucher und Betrug die nötige Menge an Kapital akkumulieren konnten. In der Schweiz spielte hier die Aneignung von Geldkapital aus dem Handel über die Alpenwege und dem Söldnerwesen eine zentrale Rolle.
[3] Inklusive Bausektor
Der Krisenausbruch traf die verschiedenen Branchen extrem ungleich. Die Warenexporte fielen anfänglich (im Jahr 2009) um 12% und damit das BIP pro Kopf um über 3%. In der Industrie fielen die Aufträge um bis zu 25%, in der Maschinenindustrie sanken die Umsätze um bis zu 30%. Die Pharmaindustrie war von dieser ersten Krisenphase hingegen nicht betroffen. Dies zeigt deutlich, wie verschiedene Industrien auf Grund ihrer spezifischen Eigenheiten in Kombination mit den Strukturmerkmalen des Kapitalismus je nach Phase und konkreter Situation unterschiedlich von der Überproduktion betroffen sind. Seit Krisenausbruch investiert kaum ein europäischer Kapitalist in Fabriken, weil die Nachfrage nach Gütern wie beispielsweise Autos stark zurückging. Somit bestand auch keine Nachfrage nach Investitionsgütern wie Maschinen, weswegen die MEM-Industrie stark getroffen wurde. Die Pharmaindustrie hingegen ist in einer anderen Situation. Lebensnotwendige Güter wie Medikamente, die noch dazu von Monopolen vermarktet und durch Patente geschützt werden, sind weniger anfällig auf eine Überproduktionskrise. Trotzdem werden auch die Arbeitsbedingungen in der chemisch-pharmazeutische Industrie angegriffen. Insbesondere in den Jahren nach der Rezession 2009 wurde „auf Vorrat“ rationalisiert, so z.B. bei Roche, welche 2010 trotz Rekordgewinn Massenentlassungen beschloss. Die schon seit den 1980ern laufende strukturelle Veränderung der Schweizer Exportindustrie, mit einer Zunahme der Dominanz der chemisch-pharmazeutischen Industrie, verstärkt sich weiter. Nachdem sowohl Roche als auch Novartis ihre Gewinnziele 2015 verpasst haben, wird der Druck auf die ArbeiterInnen in der Branche weiter zunehmen.
Als 2011 auf Grund seines Fluchtwährungscharakters der Wert der Devise „Franken“ ruckartig anstieg, entschied die SNB die de facto Anbindung des Wechselkurses an den Euro. Dies sollte die weitere Aufwertung des Frankens temporär verhindern. Diese stark in den Markt eingreifende Massnahme kaufte der Exportindustrie mehr Zeit, um sich der neuen Situation anzupassen. Die verschiedenen Exportbranchen blieben in dieser Verschnaufpause denn auch nicht untätig. Die Uhrenindustrie senkte zum Beispiel den Einstiegslohn „klammheimlich“ um 400 Franken (während der Gültigkeit des gleichen GAVs). Auch die anderen Branchen bereiteten sich strategisch auf das Ende der immer als kurzfristig beschriebenen Massnahme vor. Die Aufhebung der Kursuntergrenze Ende Januar 2015 führte schliesslich zu einer drastischen Erstarkung des Frankens. Die Exportwirtschaft geriet unter Druck, da sich ihre Preise auf dem Weltmarkt schlagartig um 25% verteuert hatten (für mehr Infos, siehe Resolution zum Frankenschock im Anhang der Perspektiven 2015).
Infolge der Aufwertung brachen die Exporte zunehmend ein, wodurch die Schweizer Wirtschaft stark getroffen wurde. Swissmem, der Verband der Maschinen-, Elektro und Metallindustriellen, meldet das vierte Quartal in Folge rückläufige Bestelleingänge.
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Auch die Umsätze der MEM-Industrie gehen seit einem Jahr jedes Quartal um 7% zurück. Die UnternehmerInnen zogen die Konsequenzen. Die Unia-Zeitung Work schrieb im September 2015, dass 400 Unternehmen Kurzarbeit und mindestens 270 Unternehmen Arbeitszeiterhöhungen oder Massenentlassungen angekündigt hätten [4]. Auch lagerten viele Unternehmen, darunter auch vermehrt KMUs, ruckartig Arbeitsplätze ins Ausland aus. Laut dem Bundesamt für Statistik (BFS) wurden zwischen dem 4. Quartal 2014 und dem 2. Quartal 2015 in der Industrie 15’000 Arbeitsplätze vernichtet [5].
Die Exporte der Schweizer Volkswirtschaft nahmen im 1. Halbjahr 2015 um 1.3% ab [6]. „Alle Branchen ausser der chemisch-pharmazeutischen Industrie, dem wichtigsten Exportzweig, sowie dem Bijouterie-Sektor verzeichneten Rückgänge bei den Verkäufen.“ (NZZ 19.11.2015). Für den Rückgang gibt es zweierlei Gründe, die jedoch zusammenhängen. Einerseits sind diverse Schweizer Unternehmen direkt von der globalen Überproduktion und der darausfolgenden sinkenden Nachfrage betroffen, anderseits verringert der starke Franken tendenziell die Gewinne, die durch Export erzielt werden. Es gibt also eine Absatzkrise und dadurch verstärkt sich die Profitkrise. Trotzdem gibt es auch Gegentendenzen, die diese Entwicklungen abschwächen: Die tiefen Kosten für importierte Rohmaterialien, das sehr hohe Niveau bei den Gewinnmargen und die bei Grossunternehmen oft nur geringe Anzahl Angestellter in der Schweiz, gemessen am Gesamtunternehmen. Einen weiteren Faktor stellt die starke Spezialisierung und die hohe Qualität vieler in der Schweiz hergestellten Produkte dar. Insbesondere Unternehmen, die sich hauptsächlich auf den Schweizer Markt orientieren, nutzen die Krisenstimmung, um ihre Profite weiter zu erhöhen.
Eine Perspektive zu erstellen heisst nicht, die Zukunft vorauszusagen, sondern die für die materiellen Interessen der ArbeiterInnenklasse relevanten Entwicklungen aufzuzeigen und die notwendigen politischen Schlüsse zu ziehen. Wenn man sich auf die Zahlen von Unternehmerverbänden und bürgerlichen Zeitungen stützt, muss immer beachtet werden, dass das Katastrophenszenario auch eine politische und propagandistische Funktion hat. Aktuell deuten jedoch viele Faktoren darauf hin, dass sich die Weltwirtschaft tatsächlich auf eine erneute Phase der Rezession zubewegt: Fallende Wachstumsraten in den meisten OECD-Ländern, die Stagnation des Welthandels im letzten Jahr, tiefe Rezession in Russland und Brasilien und fallende Rohstoffpreise. Dieser internationalen Abwärtsspirale kann sich der Schweizer Kapitalismus längerfristig nicht entziehen. Deshalb ist zu erwarten, dass die Angriffe auf die Lohnabhängigen auch in naher Zukunft weitergehen werden. Die Aufrechterhaltung der Profitrate ist stets die erste Priorität. Nach einer Periode der Lohnsenkungen und der nicht-entlöhnten Arbeitszeiterhöhung treten wir nun in eine neue Phase ein. Die Massentlassung bei Alstom im Aargau diente in dieser Hinsicht als Test. Wenn sie es sich erlauben können, werden sie diese Vorgehensweise verallgemeinern.
[4] workzeitung.ch, Der heimliche Abbau, 17.09.2015
[5] Bundesamt für Statistik, Erwerbstätigenstatistik
[6] Eidgenössische Zollverwaltung EZV, Aussenhandel im August 2015: Ein negativer Trend setzt sich fort, 22.09.2015
Im Gegensatz zu den Arbeitgebern legten es die Gewerkschaften darauf an, sich blindlings auf den anhaltenden Bestand des fixen Wechselkurses zu verlassen. Anstatt die klar künstlich gehaltene wirtschaftliche Situation aktiv zu nutzen, die ArbeiterInnen vermehrt zu organisieren, gegen die Prekarisierung zu kämpfen, sie so auf die Aufhebung des Mindestkurses vorzubereiten und dadurch insbesondere die Kampfbereitschaft zu fördern, schauten die Gewerkschaften dem drohenden Zusammenbruch zu. Die ArbeitgeberInnen hingegen nutzten den Frankenschock aus, um durch umfassende Arbeitszeiterhöhungen und Lohnsenkungen die Ausbeutungsrate zu steigern. Beim Aussenhandel kann dadurch jedoch die relative Verteuerung der Schweizer Waren nicht kompensiert werden.
Diesen grossflächigen Angriffen stand die Gewerkschaftsbewegung antwort- und tatenlos gegenüber. In den letzten Jahrzehnten hat sie die breite gewerkschaftliche Verwurzelung in der Industrie verloren, da sie auf Phänomene wie die Verbreitung von Temporärarbeitsverträgen und dem Anstieg der GrenzgängerInnen keine Antworten gefunden hat. Im Tessin (Exten etc.) und in der Romandie (Mecalp) gab es im Januar 2015 einige wenige spontane Streiks gegen geplante Angriffe im Zuge der Aufhebung des Euro-Mindestkurses, welche durchs Band mindestens Teilerfolge gegen die Angriffe erringen und sogar bereits ausgesprochene Entlassungen zurückschlagen konnten. Diese Kämpfe wurden in der Deutschschweizer Presse bewusst totgeschwiegen und auch die Gewerkschaften weigerten sich, diese Erfahrungen zu verbreiten – geschweige denn sie zu verallgemeinern.
Innerhalb des SGB ist diese defensive Haltung verschieden ausgeprägt. Daniel Lampart, der Chefökonom des SGBs, beschränkt sich auf Appelle an die SNB, diese solle doch bitte die Kursuntergrenze wieder einführen. Ein „gravierendes Wechselkursproblem [könne] nur geldpolitisch gelöst werden“. Die Frage, wie die Angestellten der Industrie auf die Veränderung reagieren sollen, stellt er sich gar nicht. In der Unia gibt Corrado Pardini den Ton an. Durch seine exponierte Position bildet er die Achse, an welcher die entgegengesetzten Interessen wirken. Als Gewerkschaftssekretär ist er sowohl dem Druck aus der Basis als auch dem Druck der herrschenden Klasse stärker ausgesetzt. Er spricht eine linksreformistische Sprache und anerkennt so durchaus, dass es Interessenunterschiede zwischen Arbeit und Kapital gibt. Im Versuch, die Interessen der ArbeiterInnen ohne Bruch mit dem herrschenden System zu verteidigen, endet er aber zwangsläufig wieder im Lager der Verteidiger des Industriestandorts Schweiz und damit der kapitalistischen Ordnung. Als Beispiele gelten der GAV der Stadler Rail und sein seit fünf Jahren herumgeisternder „Pakt für eine produktive Schweiz“, der letztendlich eine öffentliche Subvention an Unternehmer darstellt, damit diese doch bitte hier bleiben. Diesen beiden Orientierungen ist gemein, dass sie sich der Standortlogik verschreiben und somit den Profitinteressen der Unternehmer unterwerfen. Der Eine verwendet dafür eine moderate, der Andere eine radikalere Rhetorik. Sie vertrauen jedoch gleichermassen nicht auf die Stärke der ArbeiterInnenklasse, sondern begrenzen sich auf Appelle an die Institutionen des bürgerlichen Staates. Sie schüren Illusionen in die Vereinbarkeit der Interessen zwischen UnternehmerInnen und ArbeiterInnen, hemmen das Klassenbewusstsein der Arbeitenden und drücken sie in die Inaktivität.
Dies führt dazu, dass in der ArbeiterInnenschaft die Vogelstrauss-Reaktion immer noch anhält. Im Moment wird der Kopf in den Sand gesteckt und gehofft, dass der Entlassungssturm am eigenen Job vorbeizieht. Doch nichts deutet darauf hin, dass der Sturm bald vorüberzieht.
Swissmem geht davon aus, dass sich der durch die massive Überbewertung des Schweizer Frankens ausgelöste, beschleunigte Strukturwandel fortsetzen wird. In den kommenden Monaten dürfte es deshalb zu einem weiteren Stellenabbau in der MEM-Industrie kommen.“
Swissmem, Medienmitteilung, Die Lage bleibt angespannt, 20.11.2015
Auch wenn die Analyse hier nahtlos in Angstmache übergeht, können wir dennoch davon ausgehen, dass sich die Angriffe weiter verschärfen werden. Doch gerade dann können wir darauf vertrauen, dass die Zitrone irgendwann ausgepresst ist und es gröber Saures gibt. Auch die Schweizer ArbeiterInnenschaft wird nicht unendlich lange tatenlos zusehen, wie an ihrer Existenzgrundlage genagt wird. Es ist unumgänglich, dass dies auch hier irgendwann einen kämpferischen Ausdruck finden wird.
Anders als in der MEM-Industrie sah es in der Mobilisierung zur Neuverhandlung des Landesmantelvertrags (LMV) auf dem Bau aus. Dieser wichtigste GAV der Schweiz wurde in der letzten Periode von den Arbeitgebern ausgehöhlt. Einerseits, weil klammheimlich gewisse Berufsgruppen aus dem Geltungsbereich genommen wurden (wie die Baustellenchauffeure) und andererseits durch den massiven Ausbau von temporären Arbeitsverhältnissen. In der Mobilisierung widerspiegelte sich dies aber nicht. Die Hauptargumente waren der Schlechtwetterschutz und die Verteidigung der Frührente. Dabei gilt es zu bemerken, dass ein Grossteil der BauarbeiterInnen, welche 2008 erheblich für die Rente mit 60 gekämpft haben, nun von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat. Andererseits sind es genau die jetzigen BauarbeiterInnen, die trotz ständigem Einzahlen die grössten Verluste erlebt hätten. Deshalb testete die Verhandlungsrunde die Erneuerung der Gewerkschaftsverankerung auf den Baustellen. Die Aktionstage vom November waren Erfolge. Sie wären eine stabile Ausgangslage für richtige Streiks während des vertragslosen Zustand im Frühjahr gewesen. Doch dazu wird es vorerst nicht kommen. Der neue LMV sichert die Frühpensionierung (zu drei Vierteln zu Last der Arbeitgeber), enthält aber sonst keine merklichen Verbesserungen. Ausserordentlicherweise ist er ein Jahr weniger lange gültig und kann im 2017 nochmals gekündigt werden. Falls die kontinuierlichen Verhandlungen nächstes Jahr kein Resultat ergeben, muss also früher als sonst wieder mobilisiert werden – was für den gewerkschaftlichen Aufbau auf den Baustellen nur förderlich sein kann. Die Resultate zeigen aber auf, dass die Deutschschweiz die viel stärkere Mobilisierungskraft in Genf und im Tessin in den letzten vier Jahren nicht aufgeholt hat. So wird in Genf bereits über ein tiefergreifendes Zusatzprotokoll verhandelt.
Eine kämpferische Gewerkschaftsbewegung müsste drei Forderungen erfüllen: Erstens müsste sie grundsätzlich mit der Sozialpartnerschaft und der Standortlogik brechen und eine unabhängige Position einnehmen. Das heisst, dass sie sich nicht mehr um die Rentabilität der Unternehmen schert, sondern um die bedingungslose Verteidigung der Löhne der ArbeiterInnen. Der Fall des Basler Pharma-Zulieferers Rondo AG zeigt klar auf, zu was die aktuelle „Opferbereitschaft“ der Angestellten führt. Im Februar hat Rondo AG die Wochenarbeitszeit ohne Kompensation um 1,5 Stunden erhöht, nur um dann im Oktober 45 Entlassungen bekannt zu gegeben und einen Teil der Produktion nach Tschechien auszulagern (was ganz sicher schon vor Februar geplant war). Solche Fälle müssen in der Gewerkschaft diskutiert werden, denn jede Konzession ohne Garantie bedeutet schlussendlich eine Woche Golfferien für den Chef. Zweitens müssen die geführten und gewonnenen Streiks bekanntgemacht und ausgewertet werden. Durch die erfahrene Zielstrebigkeit werden Kampfmassnahmen wieder als legitimes und wirkungsvolles Mittel gesehen werden. Drittens muss die versäumte Gewerkschaftsarbeit gegenüber Temporärangestellten und GrenzgängerInnen aufgeholt werden, um die Spaltung der Arbeitskämpfe zu verhindern.
Es führt kein Weg am Aufbau (und der Erneuerung) von Vertrauensleuten und Betriebsgruppen vorbei. Die Sozialpartnerschaft und der Reformismus der Führung der traditionellen ArbeiterInnenbewegung befinden sich genauso in der Krise wie der Kapitalismus selbst. Die kommenden Kämpfe der ArbeiterInnenklasse gegen das Krisenprogramm der Bürgerlichen werden sämtliche Organisationen der ArbeiterInnenbewegung testen und sie entweder grundlegend verändern oder aber in die Bedeutungslosigkeit verbannen.
Aufgrund intakter Profitbedingungen konnte die Schweizer Bourgeoisie in der Vergangenheit noch eine gewisse politische und soziale Stabilität aufrechterhalten. Das Kräfteverhältnis musste lange nicht strapaziert werden. Noch im Jahr 2013 wurden im MEM-GAV sogar einige Zugeständnisse an die Lohnabhängigen der Industrie gemacht. Die Unia hatte sich schon damals als fast völlig mobilisierungsunfähig erwiesen und seither geschah kein erfolgreicher Aufbau. So konnten die UnternehmerInnen 2015 unter weniger zukunftsträchtigen Profitbedingungen selbstbewusst zu harten Frontalangriffen übergehen. Diese Angriffe werden nicht nur in der Privatwirtschaft schärfer, sondern auch auf politischer Ebene. Unmittelbar nach der Aufhebung des Mindestkurses kündigten die Bürgerlichen und die Regierung an, dass nun die Unternehmen erst recht steuerlich „entlastet“ werden müssten. Wichtigstes Mittel dazu ist die Unternehmenssteuerreform III (USR III). Unter dem Druck anderer imperialistischer Staaten und der OECD musste die Schweizer Bourgeoisie Konzessionen in der Besteuerung ausländischer Unternehmen machen und deren Privilegien abschaffen. Gewieft wie die hiesige herrschende Klasse jedoch ist, wird dieser internationale Druck nun aber zur steuerpolitischen Offensive verwendet, um den allgemein Satz für die Steuern auf Gewinne zu senken. Das Finanzdepartment (EFD) schätzt, dass neben anderen Massnahmen die Gewinnsteuer in den Kantonen von ca. 22% auf 16% gesenkt werden wird. Dadurch brechen bei Bund und Kantonen zusammen mindestens 1,4 Mrd. Franken Steuereinnahmen weg. Die unfassbaren Untertreibungen der Ausfälle durch Unternehmenssteuerreform II haben gezeigt, dass die Ausfälle wohl viel höher sein werden. Sébastian Guex, Professor an der Uni Lausanne, errechnet etwa 5 Milliarden.
Da diese Reform bereits Einfluss auf die kantonalen Budgetdebatten hat und dadurch eng mit dem Kampf gegen Sparmassnahmen verbunden ist, gehen wir hier genauer auf den Widerstand gegen die USR III und die Sparpakete ein. In diesem grossangelegten Angriff spielen zwei Grundkonzepte der schweizerischen bürgerlichen Demokratie eine zentrale Rolle: die Konkordanz und der Föderalismus. Das Gesetz, welches noch nicht durchs Bundesparlament ist, sieht in erster Linie vor, den Gewinnsteuersatz von Holding-Gesellschaften und Schweizer Unternehmen zu vereinen. Für (grösstenteils ausländische) Holdings wird er von heute 9% erhöht, für alle anderen Unternehmen von 24% gesenkt auf einen Einheitssatz, der irgendwo zwischen 13 und 20% liegen wird. Dabei entscheidet die Stärke der Senkung des Steuersatzes für einheimische Firmen über die Grösse des Steuerausfalls. Die Kantone können aber noch weitere Steuerausnahmen hinzufügen (Patentboxen, „Inputförderungsmassnahmen“ etc.). Durch den für die Kantone geschaffenen Spielraum können Föderalismus und „Steuerwettbewerb“ in wechselseitiger Kombination zur Durchsetzung von Steuererleichterungen für die Bourgeoisie voll ausgenutzt werden
Um den anderen Kantonen zuvorzukommen und die „eigenen“ Holdings und Unternehmen nicht zu verlieren, hat die Waadtländer Regierung bereits eine umfassende kantonale Steuerreform durchs Kantonsparlament geboxt. Diese sieht eine Senkung des Einheitssteuersatz auf 13.8% vor – viel tiefer als jener, welcher vom Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD) vorgeschlagen wird. Durch den „gesunden Steuerwettbewerb“ wird diese Zahl automatisch zum neuen Richtwert für alle anderen Kantone, da die Unternehmen sonst alle ins Waadtland abwandern könnten, um vom tieferen Steuersatz zu profitieren. Geschnürt wurde das Paket von den Regierungsräten Pascal Broulis (FDP) und Pierre-Yves Maillard (SP!). Unter dem Druck der Bourgeoisie wurde der sozialdemokratische Regierungsrat dazu gedrängt, nicht nur innerhalb des Rats, sondern auch in der Partei, deren bürgerliche Interessen zu verteidigen. Das führte beispielsweise dazu, dass die SP-Waadt die USR III mit grosser Mehrheit annahm (133 Stimmen gegen 33) – mit der Argumentation, man habe einen „Kompromiss“ mit der Rechten gefunden.
Der Kantons Genf bereitet sich mit seinem Budget 2016 bereits mittelfristig auf diesen tieferen Steuersatz vor. Mit massiven Kürzungen im öffentlichen Dienst werden die zukünftigen Steuerausfälle vorweggenommen. Die bürgerliche Demokratie vertritt fast ausnahmslos die Interessen der herrschenden Klasse. Deshalb arbeiten die FinanzdirektorInnen bereits auf den neuen Steuersatz hin, während das Gesetz, das diesen fixieren soll, noch nicht einmal dem Parlament vorgelegt wurde. Die Bürgerlichen vertrauen der Demokratie natürlich nicht blind. Aber mit der Finanzpolitik und deren Regeln werden Sachzwänge geschaffen, die keine anderen Entscheide möglich machen. Zwar unterscheiden sich die Begründungen – von Grossbanken, die für acht Jahre keine Steuern bezahlen wollen zur SNB, die im Jahr 2015 einen Verlust von 23 Milliarden verzeichnete, nachdem sie im Jahr davor mit einem Gewinn von 38.3 Milliarden abschloss –, doch so verschieden sie sein mögen, alle versuchen die Sparpakete zur rechtfertigen, die omnipräsent geworden sind: Im Aargau sind 93 Mio., in Genf 97 Mio., in Zug 42 Mio. Kürzungen für 2016 geplant. Dazu kommen noch die Bundes- und Gemeindesparübungen. Das öffentliche Personal spürt diese wiederholten Kürzungsrunden am eigenen Leibe, beispielsweise durch Lohnerhöhungs- und Einstellungsstopps. Bereits diese Massnahmen sorgten bei den öffentlichen Angestellten für Unmut. Auf Leistungsabbau reagieren sie allerdings noch sensibler als auf persönliche, materielle Entbehrungen. Während sie erstere in begrenztem Masse noch zu akzeptieren bereit sind, so sind sie bei Massnahmen, welche die Qualität ihrer Arbeit verschlechtern (z.B. Vergrösserung der Schulklassen), zu weitaus mehr Widerstand bereit. Deshalb lassen sich vermehrt grössere Mobilisierungen gegen die Auswirkungen dieser Politik beobachten. Bis heute waren die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst – zumindest in der Deutschschweiz – leider unfähig, die Angestellten zu mobilisieren oder deren Aktivität zu verwerten, abgesehen von vereinzelten Kundgebungen. Vielmals agieren sie wie ein Klotz am Bein, der den Kampfgeist der ArbeiterInnen langsam ersäuft. Dies führt zu vermehrten Abwanderungen fortschrittlicher Elemente in der Pflege sowie im öffentlichen Dienst zur Unia, welche als noch relativ kämpferische Gewerkschaft in der Schweiz anerkannt wird. Das wiederum löst neue bürokratische Grabenkämpfe zwischen den „konkurrenzierenden“ Gewerkschaften aus, welche die Agitationsfähigkeit der ArbeiterInnen weiter einschränkt.
Verteidigungskämpfe im öffentlichen und para-staatlichen Dienst [7] unterscheiden sich von der Privatwirtschaft. Erstens sind Mobilisierungen für die Angestellten weniger riskant (Entlassungsschutz), zweitens kämpft man gegen Kräfteverhältnisse in den Parlamenten und nicht gegen Firmenbosse. Eine Besonderheit des Staatshaushaltes ist, dass viele Zahlen öffentlich zugänglich sind. So kann das Lesen von Budgetvorschlägen und Staatsrechnungen zur Schule werden, wie man solche Zahlenberge entziffert und die bürgerlichen Lügen entblösst. Gleichzeitig sind die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Personal ein Magnet, der als Orientierung für die Bedingungen in der Privatwirtschaft dient. So ist die entschädigungslose Erhöhung der Wochenarbeitszeit um zwei Stunden für das Genfer Personal vor allem als Propagandamassnahme zu verstehen.
Demonstrationen und Kundgebungen gegen Kürzungen haben im 2015 klar zugenommen und sind über das ganze Land verteilt. In diesen Bewegungen kann sehr einfach erklärt werden, dass der Widerstand gegen Sparmassnahmen nur Früchte tragen kann, wenn er aus der „korporatistischen“ Logik herausgelöst und zusammen mit den Nutzniessern des Service Public eine konsequente politische Alternative aufgebaut wird. Dieser Widerstand gegen Leistungsabbau und die Verschlechterung der Arbeitsbedingen muss am Arbeitsplatz, in den unterstützenden Vereinen und in Projekten auf der Strasse und im Parlament geführt werden. Solche erstarkenden Bewegungen, wie zum Beispiel der dreitägige Streik des ganzen öffentlichen Dienstes in Genf im November 2015, haben nicht nur einen dynamisierenden Effekt auf das betroffene Personal, sondern werden auch einen übergreifenden Einfluss auf die Stimmung in der Privatwirtschaft haben. Denn die privaten Angestellten sind über tausend Verbindungen mit dem öffentlichen Dienst verbunden.
Im Widerstand gegen die USR III und die Sparmassnahmen erkennt man, dass viele der spezifischen Wesenszüge der bürgerlichen Demokratie der Schweiz den effektiven Kampf eher erschweren. Eine Folge des vielgelobten Föderalismus ist, dass viele Kämpfe auf Kantonsebene verlegt werden, die in einer Grosszahl von Kantonen und Gemeinden genau gleich sind. So wird der Klassenkampf in über 26 Kleinkämpfe aufgespaltet. Das Referendum gegen das kantonale Steuergesetz zur USR III im Kanton Waadt hat zwar Symbolcharakter, muss aber unter Umständen 25 Mal wiederholt werden. Die Bürgerlichen nutzen den Föderalismus bestens zu ihren Gunsten aus. Hier wäre es eine sehr wichtige Aufgabe der Gewerkschaften und der SP, die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Situationen und Kämpfe aufzuzeigen und den Widerstand schweizweit zu verbinden.
Auch ein direktdemokratisches Vorzeigeinstrument wie das Referendum wird im Gebrauch gegen die Sparpakete auf die Probe gestellt. In vielen Kantonen wurden Referenden gegen die Sparpakete ergriffen. Im Aargau wurde im März 2015 das Sparpaket „Leistungsanalyse“ (17 Millionen „Sparpotential“) mit 56% und in jeder einzelnen Gemeinde abgelehnt. Doch nur acht Monate später ist das vergessen und das neue Sparpaket heisst „Entlastungsmassnahmen 2016“ und sieht im nächsten Jahr Einsparungen von 93 Millionen vor. Der „Sachzwang“ der Profitabilität steht über jedem demokratischen Prinzip und entlarvt den Staat als das, was er ist: ein kollektiver Interessensvertreter der Bourgeoisie. Mit Gesetzesänderungen wie der Schuldenbremse und dem Einstellungsstopp wurde der legalistische und sogar parlamentarische Widerstand gegen Budgets auf ein Minimum reduziert. Referenden sind auch an sich keine Langzeitlösung, da sie bereits ein halbes Jahr später schon ignoriert werden. Darüber hinaus bewegt man sich bei Referenden immer auf der Ebene von Abwehrkämpfen im Rahmen des bürgerlichen Staates und seiner Legalität. Sie müssen also als agitatorische Instrumente gesehen werden, welche die übelsten Angriffe kurzfristig abwehren können und um welche in der Arbeiterbewegung mobilisiert werden kann. Sie können dazu gebraucht werden, den Zynismus der Bürgerlichen und die Funktion ihres bürgerlichen Staates zu entlarven. Um Referenden sinnvoll nutzen zu können, müssen sie mit weitergehenden Mobilisierungen und dem Aufbau von politischem Druck verbunden werden.
Neben der Ausnutzung des Föderalismus ist auch die Integration von linken PolitikerInnen in die Regierung – im besten Fall als Polizeivorsteher (Stadt Zürich) oder im Finanzdepartement, wo die Sparbudgets vorbereitet werden (Winterthur) – eine beliebte Taktik der Bourgeoisie. Dort beteiligen sie sich genauso an der Ausarbeitung der Budgetvorschläge wie an der Durchführung der Sparmassnahmen. Solche SparpolitikerInnen werden in den Augen der Bevölkerung zu Recht nicht als Alternative wahrgenommen. Um diesem Zähmungsprozess entgegenzuwirken, wurden in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (speziell in den 1920er Jahren) einige Parteiregeln ausgearbeitet, die noch heute dienlich wären: Erstens hatten SP PolitikerInnen gebundene Mandate und wurden von der Partei und ihren Versammlungen kontrolliert (und gleichzeitig in ihrer Politik unterstützt!). Zweitens hielten sich linke ExekutivpolitikerInnen, wenn sie in der Minderheit waren, nicht an die Konkordanz, denn das Mittragen der Regierungsverantwortung schadet der ganzen Partei. Diese Regeln setzen aber voraus, dass sich der linke Flügel der SP organisiert und konsequent gegen jegliche Kürzungen im öffentlichen Dienst stellt und die „ausgeglichenen Staatshaushalte“ als das brandmarkt, was sie schlussendlich heute darstellen: Geschenke an die Reichen, Diebstahl an den ArbeiterInnen.
[7] Parastaatliche Dienste sind private Unternehmen, welche staatliche Funktionen übernehmen und damit direkt abhängig sind von politischen Entscheiden. Oft handelt es sich um privatisierte ehemalige Staatsunternehmen.
Prozesse wie die Euro-Krise, Massenentlassungen, Sparmassnahmen und die allgemeine Instabilität der Weltlage übersetzen sich in den Köpfen der Schweizer Massen in der Form von zunehmenden Ängsten und gefühlter Unsicherheit, was Prozesse der Radikalisierung und Polarisierung anstösst. Gerade von einem grossen Teil der Jugend wird diese unsichere Situation als neue Normalität angeschaut. Auf der anderen Seite besteht auch für die herrschende Klasse das Erfolgsmodell Schweiz nicht mehr in seiner wohlstandsbringenden Überlegenheit, denn das ist angesichts der gegenwärtigen Angriffe einfach nicht mehr vertretbar. Heute bedeutet das „Erfolgsmodell“, weniger stark von der Krise betroffen zu sein.
Die widersprüchliche Krisenentwicklung des Schweizer Kapitalismus führt zu einem gleichermassen widersprüchlichen Bewusstsein der Schweizer ArbeiterInnenklasse. Dort kristallisieren sich gleichzeitig Wut und Angst heraus. Die Angst dominiert aber momentan weitgehend und so drückt sich dies vor Allem in Passivität aus. Diese widersprüchlichen Bewusstseinszustände enthalten eine grosse potentielle Explosivität. In ihnen zeigen sich die stets sich verschärfenden Widersprüche des Systems, die sowohl auf ökonomischer wie auf ideologischer Ebene an die Oberfläche kommen. Die Tendenz zur Radikalisierung und Polarisierung ist bereits da, drückt sich in Abwesenheit einer klaren linken Alternative jedoch aktuell zu einem gewissen Grade im Erstarken und in der Neuformation des Bürgerblockes aus, in welchem die reaktionär-bürgerlichen Kräfte an Deutungsmacht gewinnen. Versagt die Linke weiterhin darin, dieser explosiven Mischung einen Ausdruck zu geben, so finden rechtspopulistische Ideen auch in Zukunft einen Nährboden.
Die gefestigte Vertretung des Bürgertums im Bundeshaus machen die durch die Krise benötigten Angriffe nun noch einfacher. Für Projekte wie die USR III, aber auch Asylgesetzgebung und Sozialversicherungen, verheisst dies aus linker Sicht nichts Gutes. Wie weit die Angriffe gehen können, bis der Bogen überspannt ist, wird sich zeigen. Bisher war es aber nur schwer möglich, offene Angriffe auf den Service Public (SRG, Swisscom, Post, SBB, öffentliche Spitäler etc.) zu fahren, welche diese in ihrer Substanz bedrohen. Der Service Public ist immer noch wichtig für das Schweizer Selbstverständnis.
Für uns MarxistInnen ist es zentral, dass das Bewusstsein der Massen nicht als an einem Punkt eingefroren wahrgenommen wird, sondern dass wir die Entwicklungen und Widersprüche im Bewusstsein erkennen. So bedeutet das Erstarken des radikaleren Flügels des Bürgertums keineswegs, dass sich die gesamte Gesellschaft nach rechts bewegt.
Erstens hat die relative Beteiligung an Nationalratswahlen seit 1919, also seit der ersten Proporzwahl, um über 30% abgenommen und lag nach 1975 nicht mehr über 50%. Von den Jungen (unter 35 Jahren) macht nur etwa ein Drittel vom aktiven Wahlrecht Gebrauch. Das Fernbleiben setzt sich zum einen aus einem generellen Mangel an politischem Interesse, zum anderen aber auch aus einem allgemeinen Misstrauen in die politische Entscheidungsfindung zusammen. Regionale Unterschiede und starke Einzelresultate pointierter KandidatInnen, stellen Ausnahmen dar. Dazu wird den knapp 25% „AusländerInnen“ und der Jugend generell das Stimmrecht vorenthalten. Wahlresultate sind also nur begrenzt Gradmesser von gesellschaftlichen Prozessen.
Zweitens ist die Aggressivität der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten und Ideen Ausdruck der Instabilität der herrschenden Verhältnisse. Sie ist eine Reaktion auf die oben aufgezeigten grundlegenden Widersprüche der wirtschaftlichen und sozialen Situation. Der Rechtspopulismus war und ist eine Methode der herrschenden Klasse, um die wahren Widersprüche und Probleme zu verschleiern.
Die SVP, als Nachfolgepartei der BGB (Bauern- Gewerbe- und Bürgerpartei), stellte lange die Partei der Bauern und des Kleingewerbes in den protestantischen Kantonen dar, die aber immer mehr oder weniger klar in den Bürgerblock – den konstituierten Antisozialismus – integriert war. Nach der Neugründung 1971 und Jahren der Richtungsfindung sowie sich ändernden polit-ökonomischen Rahmenbedingungen (Stichworte: 70er-Krise und Krise des Stalinismus), übernahm Mitte der 80er Jahre die Zürcher Kantonalsektion unter Christoph Blocher die Führung. Der Blocher-Strömung gelang es, die Partei kontinuierlich aufzubauen und zunehmend die Führung des Bürgerblocks zu übernehmen, welchen sie aktuell dominiert. Der Historiker Jakob Tanner beschreibt ihr Erfolgsrezept in der Verbindung von „Fremdenfeindlichkeit und Finanzstärke“, wodurch die SVP auch für das Grosskapital interessant wurde. Zunehmend wurden die Bauern und die Gewerbler in der Partei entmachtet und gleichzeitig Sektionen in der ganzen Schweiz aufgebaut. Seit den Nullerjahren ist die SVP klar die wichtigste politische Vertreterin des Grosskapitals. Dies bestätigen unzählige Verbindungen zu UnternehmerInnenverbänden sowie zu Banken und Grosskonzernen. Heute ist die SVP wohl die einzige, welche über die Vermittlung von reaktionären Werten und Identität ernsthaft Kämpfe über die umfassende Deutungshoheit (gesellschaftliche Hegemonie) führt.
Ihre inhaltlichen Schwerpunkte liegen seit dem Erstarken in den 90ern auf aggressiver Fremdenfeindlichkeit und Kritik des Sozialstaates. Die Angst vor dem sozialen Abstieg findet eine Scheinlösung in der Hetze gegen das Fremde. Ausländische ArbeiterInnen, die Löhne drücken und Jobs klauen, die Schweizer Kultur überfremden und die Islamisierung des Abendlandes schlechthin, sind historisch immer wiederkehrende Theorien. Die Angst vieler Lohnabhängiger vor den Folgen der Globalisierung – wie sozialem Abstieg, Lohndumping, etc. – schaffen Anknüpfungspunkte für den Rechtspopulismus in der ArbeiterInnenklasse. Die SVP gibt den Lohnabhängigen eine vermeintliche Antwort auf ihre Sorgen und Ängste und thematisiert durch ihre „Oppositionspolitik“ die weitgreifende Krise der bürgerlichen Institutionen. Sie ist zwar weit davon entfernt, tatsächlich die Vertretung von deren Interessen zu übernehmen. Die Gebärdung als Opposition zur herrschenden „classe politique“ gibt ihr aber eine gewisse Legitimität und macht sie für verschiedene Teile der Gesellschaft (vor allem kleinbürgerliche) sympathisch.
Das dritte Element ist die zunehmende Polarisierung, die in der Schweiz zu beobachten ist. Diese findet zum einen unter der Jugend statt, wobei neue Schichten politisiert werden, welche sich nach links, aber auch nach rechts orientieren. Weiter gibt es eine Radikalisierung unter Schichten der Bevölkerung, die bereits politisch interessiert waren. Die Gründe für diese Polarisierung lassen sich in internationalen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen finden. Sie gründen aber auch auf internen Ereignissen, seien dies die Auswirkungen der Frankenstärke, Sparmassnahmen, die Flüchtlingsfrage oder eben auch die Dominanz der SVP.
In der Linken sahen wir im vergangenen Jahr diverse Bewegungen, welche Ausdruck einer Radikalisierung nicht nur der Jugend, sondern wie erwähnt auch Schichten bereits politisierter Menschen, waren. Beispiele davon sind die in diversen Kantonen stattfindenden Kämpfe gegen die Sparmassnahmen, aber auch die grosse Solidaritätswelle mit den Flüchtlingen. Diese Bewegungen sind jedoch noch nicht generalisiert. Viele, vor allem urbane Jugendliche, lehnen die Migrationspolitik und insbesondere die Migrationsrhetorik der SVP ab. Die Schweiz erscheint oberflächlich gespalten in Fragen der Migration. Dieses fast einzige öffentlich diskutierte Politikum wird zum offenen Ausdruck einer zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft. Viele wenig radikalisierte, sonst kaum politisch aktive Menschen nahmen an grossen Solidaritätsdemos teil und spendeten grosszügig Kleider u.ä. Auf der anderen Seite herrscht in der Presse ein grundsätzlich migrations-skeptischer oder offen fremdenfeindlicher Ton vor.
Die teils unkoordinierte oder politisch falsche Kommunikation reformistischer Führungsfiguren, vor allem der SP, geht völlig an den Tendenzen der Radikalisierung nach links vorbei. Sie wirkt hemmend und konservativ. Einen Klassenstandpunkt einzunehmen verfehlen die ReformistInnen komplett. Dazu kommen der geringe Einfluss der Gewerkschaften sowie die langjährige Tradition der Sozialpartnerschaft (sowohl der Gewerkschaften wie auch der SP). Massnahmen, die in anderen Ländern zu sozialen Auseinandersetzungen geführt haben, wurden bisher in der Schweiz weitestgehend kampflos hingenommen. So erklärt sich, dass die gegenwärtig zutage tretenden Widersprüche des kapitalistischen Systems bisher weder zu landesweiten Massenbewegungen oder sozialen Unruhen noch zum Aufkommen einer starken systemkritischen Bewegung geführt haben – und dies auch in naher Zukunft nicht zwangsläufig tun müssen. Es steht aber fest, dass die Bürgerlichen gezwungen sind, ihr Programm der Angriffe auf die Lohnabhängigen weiter umzusetzen, was früher oder später zu einer Antwort führen wird. Wir dürfen dabei aber keinesfalls von Automatismen ausgehen sondern müssen betonen, dass das menschliche Bewusstsein sich nicht linear entwickelt. Kulturelle Gepflogenheiten sind träge und können zu jahrelangem hinter den Anforderungen der Situation Zurückhinken führen, sich unter gewissen Bedingungen aber auch schlagartig wieder ändern.
Die Rolle der MarxistInnen ist es, die politischen Bedingungen in der ArbeiterInnenbewegung vorzubereiten und das Aufholen des Bewusstseins mit den objektiven Bedingungen zu verkürzen. Es ist ausgeschlossen, dass der Rechtspopulismus jemals eine Lösung für die sich verschärfenden Widersprüche bieten kann. Er kann sie nur vorübergehend kaschieren. Es liegt an uns, sie zu entblössen. Die JUSO hat mit ihrer 1:12-Kampagne das Potential klassenkämpferischer Inhalte erfolgreich demonstriert. An dieser Linie gilt es anzuknüpfen und sie konsequent weiterzutreiben. Solidarität und Widerstand kann und darf nicht alleine in Gegenreaktionen bestehen, sondern muss offensiv vorangetrieben und organisiert werden.
Doch auch die herrschende Klasse bereitet sich auf eine Radikalisierung der Massen vor. Die sogenannte Terrorismusbekämpfung wird von Europa bis in die USA genutzt, um die allgemeine Überwachung und Militarisierung der Gesellschaft zu forcieren. Auch in der Schweiz sind solche Tendenzen kontinuierlich festzustellen. Der Ausbau der Überwachungsgesetze, aktuell mit dem Nachrichtendienstgesetz, die seit Jahren steigenden Ausgaben für den Polizeiapparat und der schleichende Umbau der Milizarmee in Richtung professionalisierte Berufsarmee; all dies sind Anzeichen, dass sich auch die Schweizer Bürgerlichen auf verstärkte soziale Auseinandersetzungen vorbereiten. Die Ausrichtung der Armee auf den Ordnungserhalt im Innern (Stabile Duo, Conex) zeigt, dass sie sich auf innere Unruhen vorbereiten muss.
In der letzten Perspektive haben wir die SP als zentrale Stütze des bürgerlichen Staates beschrieben. Wir haben betont, dass die SP damit keine grundsätzliche Ausnahme ist und eine vergleichbare Rolle spielt wie die übrigen Sozialdemokratien Europas. Wir haben aber auch gesagt, dass die Besonderheiten der bürgerlichen Demokratie in der Schweiz einen sehr widersprüchlichen Einfluss auf die Auswirkungen der Radikalisierungsprozesse innerhalb der Partei haben. Eigenheiten wie die Regierungsbeteiligung und die direktdemokratischen Instrumente haben als Überdruckventil für gesellschaftliche Spannungen auch Auswirkungen auf die Entwicklung der innerparteilichen Prozesse. Das Regierungssystem der Schweiz, ob auf nationaler oder auf kantonaler Ebene, erlaubt es den Parteien, gleichzeitig Regierungs- und Oppositionspartei zu sein. Die Sozialdemokratie ist in der Schweiz historisch sehr eng mit dem bürgerlichen Staat verbunden, musste aber nie alleine die ganze Regierungsverantwortung übernehmen und konnte sich so vor einer kompletten Diskreditierung vor den Massen schützen und sich der Bourgeoisie als staatstragende, vernünftige Partei präsentieren. Genau dazu ist die Konkordanz nämlich da. Das Historische Lexikon der Schweiz schreibt:
Die Schweizer Konkordanz in der uns heute vertrauten Gestalt begann sich im Verlauf der 1930er Jahre herauszubilden, und zwar im Gefolge der Überwindung des ideologisch stark polarisierten Konfliktes zwischen Arbeiterbewegung und bürgerlichen Kräften.“
Historisches Lexikon der Schweiz, Konkordanzdemokratie
Mit der Integration der SP in den bürgerlichen Staat mässigte sich deren Führung, wodurch auch die Partei als Ganzes gezähmt wurde. Doch bis heute ist dieser Prozess weder linear noch gilt er für die gesamte Partei.
Der innerparteiliche Druck der Basis und der WählerInnen kann auch per Referendum abgeschwächt werden. So kommt es oft vor, dass die SP oder die Juso das Referendum ergreifen, um Vorlagen ihrer eigenen Regierungsmitglieder zu bekämpfen. Die Tendenz, diese und sogar die ParlamentarierInnen (Ständerat) in erster Linie als Staatsmänner/-frauen zu sehen und nicht mehr als ParteipolitikerInnen, gehört in der Schweiz zum guten Ton. All dies koppelt das Bild der Partei in der Öffentlichkeit bis zu einem gewissen Grade von der reellen Klassenkollaboration in den Regierungen ab und erlaubt der Parteiführung, flexibler auf den Druck der Basis zu reagieren. Auf diese Weise konnte die SP in der Schweiz ein vergleichbar linkes Image beibehalten, obwohl ihre Politik in den Regierungen sich kaum von den bürgerlich degenerierten Schwesterparteien in anderen Ländern unterscheidet. So kann auch eine grosse Diversität innerhalb der Partei geduldet werden, da sie nicht ständig eine eiserne Parteidisziplin aufrechterhalten muss, um ihre Position in den Exekutiven zu bewahren.
Ein zweiter beachtenswerter Aspekt in der Diskussion über die Perspektive eines verstärkten Drucks der sich radikalisierenden ArbeiterInnen auf die Führung der SP ist die im internationalen Vergleich überaus schwache Verbindung zwischen Partei und Gewerkschaften. Diese Verbindung beschränkt sich auf personelle Überschneidungen und basiert keinesfalls auf einer bewussten Einbindung der Gewerkschaften in die Strukturen der Partei. Das heisst, dass Radikalisierungsprozesse, welche in den Gewerkschaften möglicherweise schneller stattfinden, sich nicht automatisch auf die SP übertragen, sondern sich nur über die einzelnen GewerkschafterInnen auf die Partei auswirken. Deswegen ist das von uns bereits in der Vergangenheit aufgestellte Szenario, dass die Gewerkschaften zunehmend eine von der SP unabhängige politische Rolle einnehmen könnten, nach wie vor aktuell.
Diese schwache Verbindung zur ArbeiterInnenbewegung drückt sich auf verschiedensten Ebenen aus. Zum einen sind die Parteistrukturen vom linksliberalen Bildungsbürgertum dominiert, welches den Klassenkampf auf rein abstrakte, moralische Fragen wie Gerechtigkeit und Demokratie reduziert haben. Am meisten sticht aber die Unfähigkeit ins Auge, in den realen Kämpfen zu intervenieren, welche in der Schweiz und international stattfinden. So verpasste es die Parteiführung, auf die Ereignisse in Griechenland oder die Flüchtlingsthematik zu reagieren. Auch in den Kämpfen gegen die Sparmassnahmen schafft sie es nicht, sich konsequent als Oppositionspartei zu präsentieren und bleibt mit ihren vereinzelten Interventionen in den Kantonen isoliert, statt auf nationaler Ebene die Führung im Kampf gegen die Sparmassnahmen zu übernehmen. Dies steht in krassem Gegensatz zu den Ansprüchen, die sie in ihrem Programm festgeschrieben hat, sowie zu den Forderungen, mit welchen sie den Wahlkampf führte.
Zum Wahlkampf 2015 der SP müssen wir eine durchzogene Bilanz ziehen. Es bestand eine grosse Diskrepanz zwischen einerseits den einigermassen gut gesetzten Themenfeldern (Löhne, Wohnen, Rente) und dem Versuch, die Basis der Partei zu aktivieren und andererseits der realen Politik der Partei in den Exekutiven auf allen Ebenen, dem Beschwören einer progressiven Mehrheit im Parlament und ihrer Achtlosigkeit gegenüber vielen wichtigen Ereignissen auf der Welt. Dieser Wahlkampf verhalf der Partei nicht zu mehr Glaubwürdigkeit als ernstzunehmende linke Kraft. So war auch der isolierte Versuch, die Parteimitglieder in den Wahlkampf einzubinden, nur bedingt von Erfolg gekrönt. Zwar schaffte es die Parteiführung, breite Teile der aktiven Parteimitglieder in ihre Telefonaktionen einzubeziehen, dadurch wurde allerdings keinerlei Eigeninitiative freigesetzt. Die Aktivierung der Mitglieder blieb auf diese Aktionen beschränkt und starb nach dem Wahlkampf gleich wieder ab. Anhaltende Selbstaktivität und organisatorische Offensiven sind jedoch für eine nachhaltige Stärkung der Linken unumgänglich. Diese Beschränkung auf die „Aktivierung“ der Basis auf Knopfdruck widerspiegelt sich im entsprechend unspektakulären Wahlresultat und in den stagnierenden WählerInnenanteilen.
Der fortgeführte Trend hin zur Stärkung der SVP als radikalstem Ausdruck der Bourgeoisie betätigt die These, dass die SP es nicht schafft, sich als glaubwürdige Alternative hinzustellen. In diesem Zusammenhang erscheint die Politik der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, also der traditionellen Interessensvertreterinnen der ArbeiterInnenklasse, als Trauerspiel. Anstatt den Schleier der tatsächlichen Klassenverhältnisse zu lüften, versuchen sie immer wieder aufs Neue, Brücken zwischen den Klasseninteressen zu schlagen, was verheerende Auswirkungen auf das allgemeine Bewusstsein der Massen hat. In den diesjährigen Nationalratswahlen trat die SP mit dem Hauptslogan „Rechtrutsch verhindern!“ auf und versuchte so, mehrere Listenverbindungen mit bürgerlichen Parteien wie der GLP (bürgerliche Abspaltung der Grünen), der CVP oder der BDP zu rechtfertigen. Um mögliche Allianzen zu schmieden, wurden politische Konzessionen gemacht und die bereits erwähnte Wahlplattform wurde während des Wahlkampfs klammheimlich in den Hintergrund gedrängt. Levrat warb offen für die Wiederwahl von BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, die er als „konstruktive Pragmatikerin“ hinstellte. Eine Orientierung, bei welcher die sogenannte „Mitte“ als potentielle Partnerin für linke Interessen verstanden wird, verwischt völlig die Trennlinien der Interessen. Alle linken Initiativen der letzten Jahre, von der 1:12 über den Mindestlohn bis zur Einheitskrankenkasse, wurden vom Bürgerblock geschlossen bekämpft, an dem sich diese sogenannten Mitteparteien genauso beteiligten wie die FDP und die SVP. Anstatt also den Rechtspopulismus mit einer klaren Alternative zu bekämpfen, versucht die SP ihre Praxis mit einem heraufbeschworenen gemässigten Bündnis der Pragmatiker zu legitimieren. Dass sie damit die Interessen der Lohnabhängigen kaschiert, statt sie klar aufzuzeigen, ist immer wieder offensichtlich geworden. Damit verpasst es die SP auch, eine bitter notwendige Oppositionsrolle zur Schweizer Bourgeoisie einzunehmen. Denn genau gegen diese Elite richtet sich häufig auch die Stimmung der Menschen, die von der Anti-Establishment-Rhetorik der SVP angesprochen werden. Die SP hat dieser Rhetorik deshalb nichts entgegenzuhalten, weil sie stark in den bürgerlichen Staat integriert ist. Solange also ein Bündnis für eine „fortschrittliche Mehrheit“ gefordert wird, statt eine sozialistische Opposition zu sämtlichen bürgerlichen Parteien zu bilden, überlässt die SP weiterhin der SVP das Feld der (Schein-)Opposition.
Auch wenn sich die Wahlen nicht auf die Stärke der SP ausgewirkt haben, sind schon erste Folgen in Bezug auf interne Richtungskämpfe zu beobachten. Die ansehnlichen Resultate von sozialliberalen Ständeratskandidaten haben zu einem Erstarken des Selbstbewusstseins der rechten Elemente in der Partei geführt. Es gibt nun den Versuch, eine rechte Plattform wiederzubeleben. Selbsterklärtes Ziel dieser Plattform ist die Öffnung der Partei hin zur Mitte und der Kampf gegen die Dominanz des „veralteten linken Dogmatismus“. Diese Entwicklung ist insofern interessant, als sie wieder vermehrt zu Richtungsdebatten innerhalb der Partei führen wird. Hier müssen wir klar sagen, dass der sozialliberale Flügel in der SP eindeutig in der Minderheit ist und vor allem Ständeräte und Exekutivpolitiker umfasst. Es ist aber nach wie vor unwahrscheinlich, dass sich der sozialliberale Flügel an nationalen Parteiversammlungen durchsetzen kann. Dieser ist zwar auch innerhalb der Parlamentsfraktion sehr mächtig, wo viele wichtige Entscheide direkt gefällt werden, jedoch fehlt ihm zur Durchsetzung seiner Positionen in der ganzen Partei die Basis.
Wir können ebenfalls erwarten, dass die Frage der Regierungsbeteiligung wieder vermehrt diskutiert werden wird. Die Geschäftsleitung (GL) der Juso hatte an der Jahresversammlung 2015 versucht, eine Position gegen die Bundesratsbeteiligung durchzubringen. Dies ist auf Grund der schlechten politischen Vorbereitung der Diskussion und einer mehr als fragwürdigen Begründung des Positionswechsels leider bereits in der Juso gescheitert. Damit war die Frage vorläufig vom Tisch. Der Ausgang der Wahlen und die rechtsbürgerliche Mehrheit im Bundesrat wird sie aber wieder aufs Parkett bringen. Bis jetzt gibt es noch kaum eine umfassende Kritik an der Regierungsbeteiligung und an der fehlenden Kontrolle über die MandatsträgerInnen der Partei. Die Kritik beschränkt sich auf Einzelfälle und Einzelpersonen und entfacht sich meist an konkreten politischen Fragen, welche aus den Widersprüchen der Regierungsbeteiligung erwachsen. Ob und wie sich die politischen Richtungskämpfe in der SP entwickeln, ist zu einem grossen Teil von der Juso abhängig, die klar die stärkste Kraft des linken Flügels der SP darstellt.
Ihre Aufgabe ist es, einen konsequenten Kampf gegen den rechten Flügel zu führen und die Politik der SP-Führung zu kritisieren, welche die SP stolz als breite Volkspartei zu präsentieren versucht, in der selbst die bürgerlichsten Elemente ihren Platz haben. Dieser Versuch, die internen Spannungen in der Partei zu überspielen, kann langfristig nicht Bestand haben und verhindert den Aufbau einer Partei mit klarem Programm im Interesse der Lohnabhängigen. Die Juso muss der Ausgangspunkt für die Herausbildung eines linken Flügels mit einem wirklich sozialistischen und unabhängigen Programm sein. Dieser Flügel muss fähig sein, offen die Politik, die von sozialdemokratischen PolitikerInnen in den Exekutiven gemacht wird, zu verurteilen und muss die Frage der Regierungsbeteiligung auf den Tisch bringen.
Die Juso ist immer noch die wichtigste Jungpartei der Schweiz. Sie verzeichnet ein konstantes Wachstum von jährlich 200-400 Mitgliedern und hat aktuell 3’200 Mitglieder. Im Vergleich: die Jungen Grünen haben 1’820, die J-FDP 3’200, J-SVP 6’000 Mitglieder (le Temps). Die Zahlen sind aber schwer zu vergleichen, da die Juso viel unabhängigere Strukturen hat und nicht einfach jedes unter 30-jährige Mitglied der Mutterpartei automatisch der Jungpartei zugezählt wird, wie das beispielsweise bei der SVP der Fall ist. Die Juso hat mit Abstand die meisten Aktivmitglieder.
Mit verschiedenen Initiativen, wie der Solidaritätskampagne zu Griechenland, dem NDG-Referendum und der Kritik an Mario Fehr, hat die Juso wieder bewiesen, dass sie das Potential hat, die wichtigen politischen Fragen der Zeit aufzuwerfen. Das beispielhafte Verhalten in der Frage um das neue NDG zeigt auf, was wir bereits zur SP bemerkt haben. Die Juso als unabhängige, aber dennoch an die SP angegliederte Jungpartei hat die Pflicht, im Aufbau eines linken Flügels in der Mutterpartei eine Schlüsselrolle einzunehmen. Ungeachtet des Lavierens der Parlamentsfraktion der SP, speziell deren Mitglieder der Sicherheitskommission, hat die Juso kontinuierlich und demokratisch die Nein-Position gehalten und die Führung im Referendumskomitee übernommen. Die SP-Basis hat die Partei gegen Ende der Sammelphase schliesslich auch noch zur Vernunft gebracht, worauf die Unterstützung zugesagt wurde.
Auch in der Auseinandersetzung mit dem Sicherheitsdirektor Mario Fehr rund um die Spionagesoftware kamen Themen zur Debatte wie die Frage der Regierungsbeteiligung, unser Bezug zur Rechtsstaatlichkeit oder das Recht auf parteiinterne Kritik. Genau diese Fragen stellten sich auch, als Alain Berset seine Rentenkonterreform an der Juso-Jahresversammlung 2015 vorstellte. Leider werden diese aufgeworfenen Fragen aber noch nicht explizit gestellt. Auch in Bezug auf die Kritik zieht man den Weg über die bürgerliche Justiz der politischen Auseinandersetzung vor. Gerade im aktuellen Umfeld hätte die Frage der Überwachung auch Mobilisierungspotential gehabt. In beiden Fragen, zu Berset und zu Fehr, geht die Juso-Position in die richtige Richtung. Diese Fronten müssen jedoch zu einer umfassenden Kritik an der Regierungsbeteiligung und der politischen Orientierung der VerteidigerInnen dieser Klassenkollaboration vereint werden und nicht als einzelne voneinander unabhängige Kämpfe geführt werden.
Dabei geht es nicht nur um die politischen Positionen, sondern auch um das Konzept des Parteiaufbaus. Bei der lobenswerten Kampagne für Syriza im Sommer blieb es bei einer einzigen Kundgebung und einigen Medienmitteilungen. Eine solche Kampagne, konsequent geführt, hätte sehr viel Mobilisierungspotential gehabt. Das Gleiche gilt für die NDG-Referendumskampagne. Um die Agitation für den Parteiaufbau zu nützen, ist es nicht genug, ausschliesslich Unterschriften zu sammeln. Die Kampagne hätte dazu dienen können, mit einer Veranstaltungsreihe über die arbeiterInnenfeindliche Geschichte der Überwachung in der Schweiz aufzuklären und so konkrete politische Punkte zu propagieren.
Die unterschiedliche Vorstellung des Parteiaufbaus kam bei der Lernendenkampagne sehr klar zum Ausdruck. Von offizieller Seite war die Unterschriftensammlung zur Petition das Kernstück der Kampagne, was sich in der ausschliesslichen Ausrichtung auf die Sammelquote zeigte. Eine Petition sollte aber nur ein Mittel zum Zweck sein. Die Ausarbeitung einer politischen Position, vor allem aber die Agitation direkt vor Ort durch die AktivistInnen sind genauso wichtig. Denn nur im direkten Umgang mit Lernenden ist es möglich, unsere Bewegung auf dem Terrain zu verankern. Für eine linke Jungpartei ist die Thematik der Lernenden eine der zentralen Fragen. Deshalb ist es zu bedauern, dass die Geschäftsleitung der Kampagne 21-mal weniger Stellenprozente zusicherte als der Spekulationsstopp-Abstimmungskampagne und dass sie von einem Grossteil der Sektionen still ausgesessen wurde. Die Sektionen jedoch, welche sich daran beteiligt haben, machten erfolgreiche Arbeit und konnten wichtige Erfahrungen sammeln. Hier die zwei wichtigsten Erkenntnisse: Erstens muss herausgestrichen werden, dass an den Berufsschulen oft politisches Neu- und Niemandsland betreten wurde, wo einige Vorurteile abgebaut werden mussten. Mit einer regelmässigen Präsenz war dies erfolgreich möglich. Zweitens gilt es anzumerken, dass unser Agitationsmaterial sehr aufmerksam gelesen, weiterverteilt und unter den Lernenden diskutiert wurde. Dies zeigt, dass radikale Ideen unter jungen Lohnabhängigen durchaus Anklang finden. Das ist kein Zufall, sondern drückt die Arbeits- und Lebensbedingungen und damit die soziale Stellung der jungen ArbeiterInnen aus.
Obwohl die Geschäftsleitung besser auf aktuelle Themen reagiert als in der Vergangenheit, hat sie dies nicht immer geschafft. Noch während der Solidaritätswelle mit den MigrantInnen fand es die Juso-GL wichtiger, eine Resolution für den EU-Beitritt auszuarbeiten als ein nationales Statement zur Refugees-Welcome-Bewegung zu veröffentlichen. Dieser Entscheid ist sinnbildlich dafür, dass wichtige politische Events oft an der Juso vorbeiziehen.
Ein solches Thema waren auch die Ereignisse in der Türkei und den kurdischen Gebieten, welche in der letzten Periode grossen Einfluss auf die bewussteren Schichten (insbesondere der Jugend) und auch auf die jüngere Generation der hiesigen kurdischen Diaspora hatte. Diese Events waren begleitet von zum Teil grossen Solidaritätsdemos in verschiedenen Schweizer Städten. An diesen Demos zeigte sich, dass bei den KurdInnen und den türkischen Linken eine neue Generation zum politischen Leben erwacht ist. Bei dieser ist auch der Bezug zur Schweizer Politik und die Einsicht der Notwendigkeit, auch hier politisch aktiv zu werden, merklich präsenter als bei der älteren Generation.
Dadurch, dass sich die Situation in der Türkei kontinuierlich radikalisiert, wird die Solidaritätsbewegung auch in der Schweiz weitergehen. Da die Schweiz eine wichtige Plattform für kurdische und türkische Exilorganisationen ist, hat die Führung hier jedoch eine eher hemmende Wirkung auf den Aktivismus der Jüngeren. Deshalb ist es wichtig, diese Jugendlichen für den Kampf gegen das System hier in der Schweiz zu gewinnen, um sie vor der exilbedingten Resignation zu bewahren. Da auch sie Lernende, SchülerInnen oder junge Lohnabhängige sind, gibt es unzählige Schnittstellen, wo die Juso sich mit ihnen solidarisieren kann, wo wir aber auch zusammen unseren gemeinsamen Lebensstandard verteidigen können und wo ihr hoher Politisierungsgrad einen positiven Einfluss auf unsere hiesigen Kämpfe haben kann.
Durch diese und andere Ereignisse spürt man bereits eine gewisse Radikalisierung der Jugend. Auf Grund der politischen Abwesenheit der Juso in Debatten wie der KurdInnenfrage (und das trotz an den Delegiertenversammlungen verabschiedeten Resolutionen zum Thema), zieht ein Teil der sich neu radikalisierten Jugendlichen an der Partei vorbei – gerade die jungen MigrantInnen. Dies führte dazu, dass im 2015 gewisse linksradikale Bewegungen einigen Anklang bei den radikalisierten Jugendlichen gefunden haben. In Basel blieb es aber die Juso, welche in kurzer Zeit zu einer Solidaritätsdemo mit den MigrantInnen mobilisierte. An dieser nahmen über 1000 Personen teil, wobei linksradikale Bewegungen knapp die Hälfte des Demonstrationszuges stellten. Das Phänomen der Radikalisierung links von der Juso ist heute noch sehr schwach und auf gewisse Städte begrenzt.
Die MittelschülerInnenbewegungen des letzten Jahres sind ein wichtiges Beispiel, welches das Potential der Juso und deren intakte organische Verbindung zu den sozialen Bewegungen in der Deutschschweiz aufzeigt. Im Zuge der Sparmassnahmen haben sich an verschiedenen Kantonsschulen ad-hoc Komitees gebildet, um gegen den Bildungsabbau zu kämpfen. In den Kantonen Luzern (schon seit drei Jahren), Basel-Landschaft, Schaffhausen, Zürich und Genf entstanden solche Komitees mit mehr oder weniger festen Strukturen. Diese haben oft in kurzer Zeit grosse Kundgebungen und zum Teil auch Streiks organisiert. In all diesen Bewegungen übernahmen individuelle Juso-GenossInnen grosse Verantwortung. Doch sie taten dies oft unabhängig und ohne Unterstützung durch die Partei. Ihr individuelles Engagement muss von der Juso politisch unterstützt und verallgemeinert werden.
Solche Mobilisierungen sind ein Paradebeispiel, wo die Juso aufzeigen kann, wie man diese Kämpfe weiterbringt und welche Ideen dazu die besten sind. Dazu gehören grösstmögliche Demokratie (gewählte Komitees) und durch Abstimmungen legitimierte Forderungen und Aktionen. Da solche Bewegungen in der ganzen Schweiz entstanden sind und weiter entstehen werden, ist es wichtig, dass die Juso als gesamtschweizerische Organisation hier Verantwortung übernimmt, sich für die Verbindung zwischen diesen regionalen Kämpfen einsetzt und für eine grössere Aufmerksamkeit, aber auch politische Kohäsion sorgt.
Was für die SchülerInnenbewegungen richtig war, stimmt auch für die ganze Juso: Wir müssen raus aus der Defensive und der Bewegung eine konkrete Perspektive anbieten. Der grosse Erfolg des dreitägigen Streiks im öffentlichen Dienst in Genf zeigt schon heute auf, dass die Leute bereit sind, sich zu wehren, wenn sich ihnen nur eine Möglichkeit bietet. Die Juso kann und muss zur Wortführerin dieser Bewegungen werden. Dabei soll der Zynismus der Bürgerlichen und speziell der politischen Mitte entlarvt werden. Politische Allianzen müssen an klare programmatische Bedingungen geknüpft werden. Listenverbindungen, genauso wie Regierungsbeteiligungen dürfen nur noch mit Parteien eingegangen werden, welche konsequent gegen jegliche Sparmassnahmen und andere Angriffe auf die Lohnabhängigen stimmen. Wenn die Auswahl an „Partnern“ dann schrumpft, spricht das nicht gegen diese Bedingungen, sondern stellt die meisten Parteien als das bloss, was sie wirklich sind: VertreterInnen von feindlichen Interessen.
Die Juso darf und muss auch aktiv in der Gewerkschaftsbewegung intervenieren und eine eigene Position vertreten. Genauso wie dies 2014 beim Sparstreik gemacht wurde. Gerade in der Verallgemeinerung und Bekanntmachung der Streiks, welche nur in gewissen Regionen bekannt sind, kann die Juso direkt einen wichtigen Beitrag leisten. Das Gleiche gilt für den Austausch zwischen den Kämpfen gegen Sparpakete und Sozialabbau in den verschiedenen Kantonen.
Die kommende Periode wird gezeichnet sein durch die Intensivierung der weltweiten Krise und die damit verbundene explosive politische Grosswetterlage. Die inneren Widersprüche des Systems werden auch die Schweizer KapitalistInnen zwingen, die Angriffe auf den Sozialstaat und die Arbeitsbedingungen weiter zu verschärfen. Die Antwort auf diese Angriffe in Form von verstärkter politischer Aktivität wird nicht ausbleiben. Entstehende Proteste und Bewegungen werden die Wahrung des sozialen Friedens zunehmend erschweren. Die Bewegungen im öffentlichen Dienst können dabei einen wichtigen Einfluss auf die Stimmung im Privatsektor haben.
Auch die Zuspitzung der Klassenwidersprüche auf internationaler Ebene wird das Bewusstsein der Schweizer Lohnabhängigen prägen. Einem grossen Teil der Jugend und der Lohnabhängigen in der Schweiz ist schon heute bewusst, dass Krieg, Terror, Flüchtlingsströme, Seuchen und Umweltzerstörung nicht isoliert auftretende Phänomene sind, sondern die barbarischen Konsequenzen des kapitalistischen Systems. Daher werden die Heuchelei und die reaktionäre Rolle der herrschenden Klassen, allen voran der imperialistischen Mächte, je länger je deutlicher als solche erkannt werden. Wir sehen bereits, wie sich Widerstand formiert. Massenbewegungen und Revolutionen erschüttern ein Land nach dem anderen.
Langfristig werden diese Entwicklungen eine zunehmende Radikalisierung der Schweizer ArbeiterInnenbewegung in konkreten Kämpfen, aber auch rund um internationale Ereignisse, bewirken. Diese Radikalisierungsprozesse sind schon heute sichtbar, auch wenn sie zum Teil, wie im Beispiel der Erstarkung der SVP, verzerrte Formen annehmen. Die Linke muss die Tendenzen der Radikalisierung auffangen, indem sie eine klare Alternative bietet. Die Aufgabe der Organisationen der ArbeiterInnenbewegung ist daher der konsequente Kampf gegen sämtliche bürgerlichen Angriffe und die Formulierung eines klaren sozialistischen Programms zur Überwindung des Kapitalismus. Das ist die einzige realistische Strategie zur Lösung der Probleme der Schweizer Lohnabhängigen und der Menschheit im Allgemeinen.
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