Der versuchte Mordanschlag auf Donald Trump durch einen 20-jährigen bei einer Wahlkampfveranstaltung in Pennsylvania hat die Krise der bürgerlichen Demokratie in den USA einmal mehr verschärft.
Das war bei weitem nicht der erste Anschlagsversuch auf einen US-Präsidenten – in diesem Fall den ehemaligen Präsidenten, der gute Chancen hat, im November ins Weisse Haus zurückzukehren, – aber erstmals erfolgte ein derartiger Akt individuellen Terrors während einer Live-Übertragung und das im Zeitalter von Social Media. Das letzte Mal, dass auf einen Präsidenten ein Mordversuch verübt wurde, war das Schussattentat 1981 auf Ronald Reagan. In den vergangenen vier Jahrzehnten haben alle politischen Institutionen eine unvorstellbare Legitimationskrise durchgemacht.
Schon in den Wochen vor diesem Ereignis war es keine Übertreibung zu sagen, dass sich die US-Politik bereits längst im „Krisengebiet“ befand. Joe Bidens desaströse Performance bei seinen öffentlichen Auftritten hat die Demokratische Partei in Panik versetzt. Immer häufiger werden die Aufforderungen an Biden, sich aus dem Rennen um das Weisse Haus zurückzuziehen, weil sonst ein Sieg von Trump drohe. Liberale Politstrategen haben Bidens Auftreten als ein „DEFCON 1”-Szenario bezeichnet. Dieser Begriff wird normalerweise für den Fall höchster Alarmbereitschaft bei einem drohenden Angriff verwendet, bei dem alle Truppen mobilisiert werden.
Jetzt bekommt man aber den Eindruck, dass dieses ganze Gerede von „DEFCON 1” ein paar Wochen zu früh gekommen ist. Das Internet ist voll mit den Bildern von einem am Ohr blutenden Trump bei dieser Wahlkampfveranstaltung und der Nachricht von zumindest einem Toten und zwei Verletzten im Publikum.
Nach der Tötung des aus etwa 100 Metern vom Dach einer Fabrik feuernden Schützen beeilten sich Agenten des Secret Service, Trump wegzubringen, nicht jedoch, bevor dieser die Gelegenheit für ein historisches Foto nutzte. Den politischen Nutzen für die Kampagne spürend reckte Trump, das Gesicht von Blut überströmt, seine Faust in die Höhe und skandierte mehrmals zur Menge: „kämpft!“.
Zu diesem Zeitpunkt sind wenige Informationen zum Schützen Thomas Matthew Crooks und dessen Motiven bekannt. Das staatliche Wählerverzeichnis weist ihn als einen registrierten Republikaner aus. Er lebte ungefähr eine Stunde entfernt vom Ort der Wahlkundgebung in Bethel Park, Pennsylvania. Crooks hatte 2022 die High-School abgeschlossen und arbeitete in der Küche eines Pflegeheims. Mit 17 Jahren spendete er 15 Dollar an die Wahlkampfgruppe ActBlue, die liberale Demokaten unterstützt – diese Spende ging am 20 Jänner 2021, am Tag von Bidens Amtseinführung, ein.
Seine früheren Mitschüler beschreiben ihn als einen Einzelgänger, der Jagdkleidung in der Schule trug. Am Tag des Attentats hatte er ein T-Shirt von Demolition Ranch an, einem beliebten YouTube-Kanal, der sich Schusswaffen und Sprengstoffen widmet. Die Polizei fand Materialen zur Herstellung von Sprengstoff in seiner Wohnung und in seinem unweit der Kundgebung geparkten Auto. Während die Ermittlungen noch laufen geht das FBI von einem Einzeltäter aus. Die Streuung seiner Schüsse in die versammelte Menge legen nicht gerade eine professionelle Schützenausbildung nahe, er hatte keine Verbindungen zum Militär.
Was auch immer die Motive des Schützen waren, Kommunisten lehnen individuellen Terror unmissverständlich ab. Wir lehnen ihn nicht aus moralischen Erwägungen ab oder weil wir Gewalt prinzipiell falsch finden, sondern weil er aus der Perspektive des Klassenkampfs konterproduktiv und für die Entwicklung von proletarischem Klassenbewusstsein nicht zuträglich ist.
Trumps Basis war jetzt schon davon überzeugt, dass man ihrem Kandidaten 2020 den Wahlsieg gestohlen hat, und dass sich die herrschenden Institutionen, einschliesslich der Massenmedien und der Justiz, gegen Trump verschworen haben. Durch diesen Mordanschlag hat sich diese Wagenburgmentalität noch mehr gefestigt und Millionen Trump-Wähler in einen adrenalingetriebenen Status aus Panik und Zorn getrieben.
Unmittelbar nach dem Anschlag begann der Trump-Apparat die „radikale Linke“ für dieses Attentat verantwortlich zu machen. Das ist die Sprache reinster Demagogie – was nur dazu führen wird, dass die extreme Rechte verstärkt auf Mittel der Gewalt zurückgreifen wird. Die Worte eines Trump-Anhängers, der Zeuge des Anschlags wurde, geben ein Bild von der gegenwärtigen Stimmungslage von grossen Teilen von Trumps Basis: „Sie haben zuerst geschossen! Das bedeutet fucking Krieg!“
Man braucht nicht allzu viel Vorstellungsvermögen, was die Reaktion der Trump-Anhängerschaft gewesen wäre, wenn die Kugel des Scharfschützen ihr Ziel richtig getroffen hätte. Das hätte wahrscheinlich eine Gewaltexplosion ausgelöst, die sich gegen alles gerichtet hätte, was laut eigener Wahrnehmung als „die andere Seite“ gilt.
Kommunisten sind natürlich gegen Donald Trump. Doch es ist klar, dass ein Mordanschlag auf ihn nur durch und durch reaktionäre Entwicklungen mit sich bringen kann – es würde nicht dazu beitragen, die vorhandene Spaltung der Gesellschaft entlang von Klassenlinien zu klären. Und diese Klassenspaltung zieht sich, nebenbei bemerkt, auch durch das Lager des „Trumpismus“.
Die Mehrheit von Trumps Basis sind Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich vorübergehend täuschen liessen und an seine Demagogie glauben. Unsere Aufgabe muss es sein, die Klassenlinien in der Gesellschaft sichtbar zu machen und die Interessen der gesamten Arbeiterklasse in den Mittelpunkt zu rücken. Wir müssen den Arbeitern zeigen, dass ihr gemeinsamer Gegner die kapitalistische Klasse ist und nicht andere Teile der Arbeiterklasse.Auf dieser Grundlage muss Trumps Anhängerschaft entlang von Klassenlinien gespalten werden.
Im November werden die Arbeiter wieder einmal vor die Wahl zwischen Demokraten und Republikanern gestellt. Aber Millionen sind zurecht von Trump, Biden und dem Rest der Politiker im Dienste der herrschenden Klasse und ihren Institutionen abgestossen. Dieser Klassenhass drückt einen gesunden Instinkt aus, dass das ganze System in den Händen einer anderen Klasse ist, deren Interessen im Widerspruch zu unseren stehen. Die Lösung des politischen Stillstands liegt in Massenaktionen der Arbeiterklasse, die bewusst und kollektiv als Klasse entsprechend ihrer eigenen Interessen zu agieren beginnt. Dazu braucht es ein sehr fortgeschrittenes Klassenbewusstsein – und unsere Aufgabe als Kommunisten ist es, dazu beizutragen.
Es liegt in der Natur der Sache, dass der individuelle Terror diesem Prozess entgegensteht. Der individuelle Terror degradiert die Massen zu Zuschauern, anstatt ihnen ein Gefühl für die eigene Stärke und Vertrauen in ihre eigene kollektive Macht zur Beeinflussung der Geschichte zu geben, wie dies zum Beispiel im Zuge von Massenstreiks und Massendemonstrationen der Fall ist. Individueller Terror schafft eine Atmosphäre der Angst, schürt Panik, aber er erhöht nicht die Bereitschaft, sich an Massenkämpfen zu beteiligen. Vorfälle wie Mordanschläge befeuern eher Randphänomene wie rechtsextreme Milizen oder wirre Bürgerwehren aus der Mittelschicht, als dass Arbeiter dazu motiviert werden, sich zusammenzuschliessen und gegen die herrschende Klasse zu kämpfen.
Ein weiterer reaktionärer Effekt des individuellen Terrorismus ist, dass er die Vorstellung nährt, einzelne Politiker seien das Hauptproblem, und dass es ausreichen würde, wenn man Trump, Biden, Harris usw. austauscht. Diese Idee ist von Grund auf falsch und lenkt die Aufmerksamkeit in eine falsche Richtung. Einzelne Repräsentanten des Systems und nicht das kapitalistische System in seiner Gesamtheit, einschliesslich der Parteien und Institutionen der gesamten herrschenden Klasse, sind demzufolge Ursachen für Unterdrückung und die Unzufriedenheit der Massen.
Nur wenn die Arbeiterklasse sich als Klasse mit gemeinsamen Interessen zu verstehen beginnt, die im Gegensatz zu dem ganzen Aufgebot an bürgerlichen Politikern steht, einschliesslich Trump und Biden, kann sie im Klassenkampf voranschreiten. Die Errichtung einer Arbeiterregierung ist die einzige Lösung für die Probleme, mit denen Millionen Menschen konfrontiert sind.
Das reaktionäre Phänomen des Trumpismus zersetzen wir am besten, indem wir die proletarischen Teile von Trumps Basis davon überzeugen, dass ihr gesunder Klasseninstinkt von einem selbstsüchtigen Mitglied der herrschenden Klasse auf zynische Weise manipuliert wird. Während der ersten Präsidentschaft von Trump konnten die reichsten 1% nicht jammern und der politische Sumpf wurde nicht trocken gelegt. Wenn er in das Oval Office zurückkehrt, wird das Leben für die Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter, die von Armut betroffen sind, um nichts besser werden. Der Feind der US-Arbeiter ist die US-amerikanische Kapitalistenklasse, und nicht Migranten oder die Arbeiter anderer Länder.
Ein Mordanschlag hilft den Arbeitern nicht, eine dieser dringlichen Schlussfolgerungen zu ziehen. Ganz im Gegenteil wird das Bewusstsein dadurch zurückgeworfen. Der fehlgeschlagene Mordversuch wird Trump nur noch mehr Unterstützer in die Arme treiben und seine Umfragewerte nach oben treiben. Wir werden jetzt sehen, wie sich Verschwörungstheorien breit machen und Trump als „Anti-Establishment“-Kandidat präsentiert wird, den die „Mächtigen im Hintergrund“ oder der „tiefe Staat“ mit allen Mitteln verhindern wollen.
Es stimmt, dass die Mehrheit der herrschenden Klasse Trump ablehnt, doch der Grund dafür ist, dass er ein Individualist ist, der seinen eigenen Weg geht und nicht die Interessen des Gesamtsystems im Blick hat. Sie sehen, dass Trump die politische Instabilität ihres sterbenden Systems noch weiter befeuert und er hat dazu beigetragen, die bürgerlichen Institutionen, die die herrschende Klasse braucht, weiter zu diskreditieren.
Marx bezeichnete die moderne Staatsgewalt als einen „Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“ Biden ist vielleicht inkohärent und inkompetent, aber Trump ist unberechenbar, erratisch und eigennützig – das sind nicht eben jene Qualitäten, die sich die herrschende Klasse an der Staatsspitze wünscht. Abgesehen von Elon Musk, der wenige Minuten nach der Schiesserei auf X seine Unterstützung für Trump bekräftigte, sprach sich kein einziger anderer CEO eines Fortune-100-Unternehmens für dessen Kampagne aus, was in starkem Kontrast zu allen vorhergehenden republikanischen Präsidentschaftskandidaten steht. In einer Nussschale: Der „Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“ ist ein einziges Durcheinander und die kommenden Jahre stehen nicht im Zeichen erneuerter Stabilität.
Trumps Basis beschuldigt nun die Medien und die sogenannte „Linke“ mit ihrer panikmachenden Rhetorik den Boden für den Anschlag bereitet zu haben. Biden und die ihn unterstützenden Massenmedien haben Trump einen Faschisten genannt und suggeriert, dass seine Wahl zu einer Diktatur führen würde – als ob die Einrichtung eines militär-polizeilichen Regimes bloss eine Frage persönlicher Motive eines Präsidenten wäre. Der liberale Chor des „geringeren Übels“ machte Trump als die personifizierte Bedrohung der Demokratie aus und verwarf dessen Basis als einen reaktionären Block „bedauernswerter“ Personen.
Im Gegensatz dazu haben die Marxisten darauf hingewiesen, dass ein bedeutender Teil von Trumps Wähler Arbeiter mit einer gesunden Portion Klassenhass sind, der nur aufgrund der Abwesenheit einer klassenkämpferischen linken Alternative von den Rechten manipuliert und fehlgeleitet werden konnte. Indem sie dies ignorieren und Trump-Wähler durch die Bank als Faschisten brandmarken haben die Liberalen und „Linken“ diese Arbeiter noch weiter ins Trump-Lager getrieben und somit deren Gewinnung für einen unabhängigen Klassenstandpunkt erschwert. Viele, die sonst vielleicht offen für einen Dialog über Themen wie Gewerkschaftskampf gegen die Bosse für höhere Löhne gewesen wären, sind nun der Überzeugung, dass sie am Rande eines bewaffneten Kampfes gegen „die Linke“ stünden.
Natürlich sind nicht nur die Liberalen der herrschenden Klassen anzuprangern. Trump selbst hat bei mehreren Gelegenheiten offen zu politischer Gewalt aufgerufen, unter anderem dazu, Gegendemonstranten bei seinen Kundgebungen „die Seele aus dem Leib zu prügeln“, und versprach, die Anwaltsrechnungen derjenigen zu bezahlen, die seinem Vorschlag folgten. Auch auf die Massenproteste im Jahr 2020 reagierte er gewaltsam, indem er twitterte: „Wenn die Plünderungen beginnen, wird geschossen“. Abgesehen davon, dass er die rechten Bürgerwehren inspirierte, die gegen die Black-Lives-Matter-Proteste zu den Waffen griffen, setzte Trump Bundespolizeieinheiten ohne Dienstmarken ein, um Repressionen und Entführungen durchzuführen, und freute sich über die Tötung eines „Antifa-Verdächtigen“ in Portland 2020.
Nun hat sich das gesamte Washingtoner Establishment in einem gemeinsamen Chor zusammengeschlossen, um die politische Gewalt zu verurteilen. In seiner öffentlichen Erklärung nach den Schüssen sagte Biden: „In Amerika ist kein Platz für diese Art von Gewalt. Es ist krank … Die Vorstellung, dass es in Amerika politische Gewalt wie diese gibt, ist einfach unerhört. Es ist einfach nicht angemessen. Jeder – jeder muss das verurteilen.“
Vielen Menschen dreht sich angesichts dieser Heuchelei der Magen um. Im Krieg in der Ukraine wird der Gewalt Vorschub geleistet, wo vor kurzem ein brutaler Angriff auf russische Zivilisten an einem Strand auf der Krim mit US-Waffen verübt wurde. Inzwischen sind Zehntausende ukrainische Arbeiter in den Schützengräben des Stellvertreterkriegs des US-Imperialismus gegen Russland getötet worden. Biden umarmt Netanjahu und gibt ihm Waffen und Munition, um unschuldige Palästinenser zu töten, was inzwischen bis zu 186.000 Tote gefordert hat.
Oder sollten wir uns die Gewalt ansehen, die sich gegen die hungernden, verzweifelten Familien richtet, die an der Grenze zusammengepfercht sind? Oder die Gewalt von Killer-Polizisten, die Schwarze terrorisieren und ermorden und Demonstranten auf amerikanischen Strassen brutal angreifen? Ist es verwunderlich, wenn all diese Gewalt nicht innerhalb der von der herrschenden Klasse gesetzten Grenzen bleibt? Die heuchlerische herrschende Klasse ist nicht gegen Gewalt; sie will nur vermeiden, dass sie gegen sich selbst eingesetzt wird.
Das amerikanische kapitalistische System wurde bluttriefend geboren. Das reichste und mächtigste imperialistische Land der Welt ruht auf dem gewalttätigen Fundament jahrhundertelanger Sklaverei, der Vernichtungskriege gegen die einheimische Bevölkerung und einer langen Reihe brutaler Angriffe auf die Arbeiterklasse, wann immer diese versuchte, für ihre Interessen zu kämpfen. Der US-Imperialismus hat Millionen von Menschen in Asien und Lateinamerika unterjocht, sich ihrer Ressourcen bemächtigt, sie in die Verzweiflung gestürzt und sie gezwungen, für einen Hungerlohn zu arbeiten. Und nachdem diese Bedingungen immer mehr Menschen dazu zwangen, ihre Heimat und das Leben, das sie kannten, hinter sich zu lassen, um im Ausland ein besseres Leben zu finden, griff die herrschende Klasse sie bösartig an und machte sie zu Sündenböcken. Trump führt nun mit seiner Kampagne der Panikmache und Spaltung die Anti-Einwanderer-Kampagne an – das Thema, über das er sprach, als die Kugeln zu fliegen begannen.
Die herrschenden Ideen und die Kultur der Vereinigten Staaten sind ein Produkt der herrschenden Klasse. Sie ist die herrschende Kraft, die die moralischen Massstäbe setzt, indem sie durch die Art und Weise, wie sie hier und im Ausland über die Gesellschaft herrscht, zeigt, was akzeptables Verhalten ist. Die kapitalistische Klasse verherrlicht einen zügellosen Individualismus und die Mentalität eines „Gewinnens um jeden Preis“. Sie haben eine Gesellschaft geschaffen, in der Gewalt ein Herrschaftsmechanismus ist. Sie legen die Regeln für ihr eigenes Spiel fest.
Schon mindestens zwölf Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten waren bisher Ziel eines Attentats. Von den 30 Präsidenten, die seit Abraham Lincoln im Amt waren, wurden vier ermordet – das sind mehr als zehn Prozent. Dies ist keine Anomalie. Es spiegelt ein politisches System und eine Kultur wider, die auf Gewalt aufgebaut sind. Das ist die Gesellschaft, die das Kapital hervorgebracht hat.
Ein von Reuters im vergangenen Jahr veröffentlichter investigativer Bericht mit dem Titel „Political violence in polarized US at its worst since 1970s“ zählt Hunderte von Fällen politischer Gewalt, viele davon mit tödlichem Ausgang. Dieser Trend hat im Gleichschritt mit der Polarisierung zugenommen, die die US-Politik insbesondere seit 2016 kennzeichnet. Er ist auch der Grund für das wachsende Gefühl, dass die USA auf einen weiteren Bürgerkrieg zusteuern – eine Ansicht, die inzwischen von fast der Hälfte der Bevölkerung geteilt wird. In unserer Ära des kapitalistischen Niedergangs zerfällt die politische Stabilität der vergangenen Jahrzehnte von Jahr zu Jahr mehr.
Die herrschende Klasse beschert uns eine Gesellschaft, die von Gewalt durchzogen ist, die weit über politische Attentate hinausgeht. Im Jahr 2023 wurden in den USA jeden Tag etwa 118 Menschen durch Schiessereien getötet. Massenschiessereien haben vor allem in den letzten zehn Jahren stark zugenommen. Im Jahr 2022 gab es 647 Massentötungen und im Jahr 2023 656 solcher Schiessereien. Das ist mehr als eine pro Tag. Bislang war 2024 ein relativ „ruhiges“ Jahr: Vom 1. Januar bis zum 2. Juli gab es in den USA 261 Massenschiessereien an 184 Tagen. Dies sollte kein normales Leben sein – und doch ist es unsere Normalität im US-Kapitalismus.
Kommunist zu sein, erleichtert es, die in der Gesellschaft vorherrschende Ideologie zu durchschauen. Marx erklärte, dass „die herrschenden Ideen einer Zeit stets nur die Ideen der herrschenden Klasse“ sind. Die Lehrbücher der Politikwissenschaft sind voll von banalen Referenzen auf „unsere Freiheiten“, „unsere Demokratie“ und „das verfassungsmässige System der Gewaltenteilung“. Publizisten und Journalisten der grossen Medienhäuser verkaufen uns diese Phrasen als neutrale, unumstrittene, allgemeingültige Wahrheiten. Wir sehen die Politik von einem anderen Blickwinkel. Mit Lenins Worten: „Es ist nur natürlich, wenn ein Liberaler von ‚Demokratie‘ schlechthin spricht. Ein Marxist wird nie vergessen zu fragen: ‚Für welche Klasse?‘“.
Kommunisten sehen die Welt von einer revolutionären Klassenperspektive aus. Hinter den Schlagzeilen der bürgerlichen Medien, zwischen den Zeilen ihrer Rhetorik und in ihren „Analysen“ erkennen wir die allgegenwärtigen Zeichen der Klassengesellschaft. Wir erkennen die grundlegende Trennlinie, die sich durch unsere Gesellschaft zieht. Ein geschulter Marxist wird die eindeutige Klassenperspektive und die subtilen Klasseninteressen aufmerksam aufspüren, die sich als „objektiver“ Kommentar und „gesunder Menschenverstand“ tarnen.
Wenn wir panische Schlagzeilen sehen, dass „unsere Demokratie in Gefahr ist“, hören wir die Stimme einer Gruppe von Menschen, die, nachdem sie über Generationen hinweg bequem regiert haben, sich nun am Steuer eines sinkenden Schiffes wiederfinden – völlig machtlos, ihren Untergang aufzuhalten. Die Glaubwürdigkeit ihrer einst stabilen Institutionen ist unter ihnen zusammengebrochen. Ihr einst fester Griff auf ihre Parteien, ihre Gerichte und die öffentliche Meinung ist ihnen durch die Finger gerutscht. Während ihre Klassenvorgänger zuversichtlich in die Zukunft ihres Systems blickten, ist die heutige herrschende Klasse von Angst und Pessimismus ergriffen.
Vor unseren Augen verlieren Millionen Menschen Illusionen in die bürgerliche Demokratie und die regierenden Parteien – ihre Kandidaten werden immer mehr zu Hassobjekten. Die Dynamik des Trumpismus kann nur darauf zurückgeführt werden, dass durch das Fehlen einer kämpferischen Arbeiterpartei, die den Zorn gegen das System und die herrschenden Institutionen lenken könnte, ein politisches Vakuum entstanden ist. Trump weiss dieses Vakuum mit seiner Demagogie zu füllen.
Die Wahrheit ist, dass die sogenannte „Linke“ sich als unfähig erwiesen hat, diese Situation zu verstehen. Der erbärmliche Auftritt der von den Democratic Socialists of America unterstützten „Squad“, die sich erneut hinter Biden stellt, sagt alles. Erst vor zwei Tagen nannte Bernie Sanders ihn „den besten Präsidenten in der modernen Geschichte unseres Landes“ und „den stärksten Kandidaten, um Mr. Trump zu besiegen“. Ilhan Omar versicherte dem Establishment der Demokratischen Partei, dass sie „hinter ihm steht“, weil „er der beste Präsident ihres Lebens“ gewesen sei. Diese Unterwürfigkeit gegenüber dem Kapitalismus und seinen Institutionen dient nur dazu, die Wut auf der Linken zurück in sichere demokratische Kanäle zu leiten.
Doch Umfragen zeigen, dass es ein massives Potential für eine politische Alternative mit einem unabhängigen Klassenstandpunkt gibt. 63% der amerikanischen Bevölkerung würden die Bildung einer neuen Massenpartei unterstützen, 55% der Wahlberechtigten glauben, dass es eine grundlegende Veränderung des politischen und wirtschaftlichen Systems braucht — und 14% wollen das System stürzen. Wir leben in einer Zeit, wo revolutionäre Ideen eine neue Kraft entwickeln können—wenn es uns gelingt, sie in der politischen Landschaft durchzusetzen.
Der Niedergang des US-Kapitalismus beschleunigt sich, und das Ausmass der sozialen Unruhen wird in den kommenden Monaten und Jahren weiter zunehmen. Die gestrigen Ereignisse waren ein weiterer, bedeutender Schritt in die Richtung, die wir bereits eingeschlagen haben: Instabilität, politische Krisen und zunehmende politische Gewalt. Dies spiegelt letztlich die historische Sackgasse des kapitalistischen Systems wider. Weder die Demokraten noch die Republikaner haben eine Lösung oder ein Mittel, um diesen Prozess zu durchbrechen. Das ist die Perspektive, die wir klar im Auge behalten müssen. Wie Leo Trotzki es in seinem klassischen Artikel „Über den Terror“ von 1911 ausdrückte:
„Wenn wir uns terroristischen Akten widersetzen, so nur deshalb, weil individuelle Rache uns nicht zufriedenstellt. Die Rechnung, die wir mit dem kapitalistischen System zu begleichen haben, ist zu umfangreich, um sie einigen Beamten, genannt Minister, zu überreichen. Lernen zu sehen, dass all die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, alle Beleidigungen, denen der menschliche Körper und Geist ausgesetzt sind, entstellte Auswüchse und Äusserungen der bestehenden sozialen Ordnung sind, um unsere ganze Kraft auf einen gemeinsamen Kampf gegen dieses System zu richten, – das ist die Richtung, in der der brennende Wunsch nach Rache seine höchste moralische Befriedigung finden kann.“
Auf dem Weg zu den möglicherweise turbulentesten Präsidentschaftswahlen seit Generationen müssen wir die Perspektive vom Krieg zwischen den Klassen klar und mutig vorbringen. Mehr denn je ist eine kommunistische Massenpartei dringend erforderlich. Sie muss die Kräfte sammeln, die aufzeigen, wie man sowohl Biden als auch Trump bekämpfen kann, wie man die Mehrheit der Arbeiterklasse um ihr eigenes revolutionäres Programm vereinen und die grosse Unzufriedenheit in der Gesellschaft auf ihre wahre Ursache lenken kann: das kapitalistische System an sich.
Schweiz — von Martin Kohler, Bern — 23. 12. 2024
Perspektive — von der Redaktion — 20. 12. 2024
Nah-Ost — von Hamid Alizadeh, marxist.com — 08. 12. 2024
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024