Dies ist der zweite Teil einer Artikelserie von Alan Woods, welche eine verständliche Erklärung der marxistischen Methode zur Analyse von Geschichte liefert. Hier geht es zu Teil 1.
Das englische Original ist auf marxist.com zu finden.
Dieser lange Kampf begann vor sieben Millionen Jahren, als unsere entfernten hominiden (menschenähnlichen) Vorfahren zum ersten Mal aufrecht standen und in der Lage waren, ihre Hände für die Handarbeit frei zu machen. Seitdem sind verschiedene aufeinanderfolgende Phasen auf Grundlage der Entwicklung der Produktivkraft Arbeit, d. h. durch unsere Macht über die Natur, aufgetreten.
Die menschliche Gesellschaft hat eine Reihe von Stufen durchlaufen, die deutlich unterscheidbar sind. Jede Stufe basiert auf einer bestimmten Produktionsweise, welche sich wiederum in einem bestimmten System von Klassenbeziehungen ausdrückt. Diese äußern sich ferner in bestimmten gesellschaftlichen Auffassungen, der Psychologie, der Moral, den Gesetzen und der Religion.
Die Beziehung zwischen der ökonomischen Basis der Gesellschaft und dem Überbau (Ideologie, Moral, Gesetze, Kunst, Religion, Philosophie etc.) ist nicht einfach und mechanisch, sondern hochkomplex und sogar widersprüchlich. Die unsichtbaren Fäden, welche die Produktivkräfte und die Klassenbeziehungen verbinden, spiegeln sich in den Köpfen der Menschen verwirrt und verzerrt wider. Und Vorstellungen, die ihren Ursprung in der urzeitlichen Vergangenheit haben, können in der kollektiven Psyche eine lange Zeit fortleben und noch lange, nachdem ihre reale Basis, der sie entsprungen sind, verschwunden ist, hartnäckig weiterbestehen. Religion ist ein gutes Beispiel dafür. Es handelt sich um eine dialektische Wechselbeziehung, wie bereits Engels sehr deutlich herausgearbeitet hat:
„Was nun die noch höher in der Luft schwebenden ideologischen Gebiete angeht, Religion, Philosophie etc., so haben diese einen vorgeschichtlichen, von der geschichtlichen Periode vorgefundenen und übernommenen Bestand von – was wir heute Blödsinn nennen würden. Diesen verschiednen falschen Vorstellungen von der Natur, von der Beschaffenheit des Menschen selbst, von Geistern, Zauberkräften etc. liegt meist nur negativ Ökonomisches zum Grunde; die niedrige ökonomische Entwicklung der vorgeschichtlichen Periode hat zur Ergänzung, aber auch stellenweise zur Bedingung und selbst Ursache, die falschen Vorstellungen von der Natur. Und wenn auch das ökonomische Bedürfnis die Haupttriebfeder der fortschreitenden Naturerkenntnis war und immer mehr geworden ist, so wäre es doch pedantisch, wollte man für all diesen urzuständlichen Blödsinn ökonomische Ursachen suchen.
Die Geschichte der Wissenschaften ist die Geschichte der allmählichen Beseitigung dieses Blödsinns, resp. seiner Ersetzung durch neuen, aber immer weniger absurden Blödsinn. Die Leute, die dies besorgen, gehören wieder besondern Sphären der Teilung der Arbeit an und kommen sich vor, als bearbeiteten sie ein unabhängiges Gebiet. Und insofern sie eine selbständige Gruppe innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung bilden, insofern haben ihre Produktionen, inkl. ihrer Irrtümer, einen rückwirkenden Einfluß auf die ganze gesellschaftliche Entwicklung, selbst auf die ökonomische.“ (Engels an Conrad Schmidt, 27.Okt. 1890, MEW Bd 37, S. 492)
Und weiter:
„Aber als bestimmtes Gebiet der Arbeitsteilung hat die Philosophie jeder Epoche ein bestimmtes Gedankenmaterial zur Voraussetzung, das ihr von ihren Vorgängern überliefert worden und wovon sie ausgeht. Und daher kommt es, daß ökonomisch zurückgebliebne Länder in der Philosophie doch die erste Violine spielen können.“ ( ebd. S. 493)
Ideologie, Traditionen, Moral, Religion etc. spielen bei der Gestaltung der menschlichen Vorstellungen eine bedeutende Rolle. Der Marxismus leugnet diese offensichtliche Tatsache nicht. Im Gegensatz zur Vorstellung der Idealisten ist das menschliche Bewusstsein sehr konservativ. Die meisten Menschen mögen keine Veränderungen, vor allem keine plötzlichen und gewaltsamen Veränderungen. Sie werden sich an die Dinge klammern, die sie kennen und gewohnt sind: die Ideen, Religionen, Institutionen, die Moral sowie die Führung und Parteien der Vergangenheit. Routine, Gewohnheiten und Bräuche liegen alle wie Blei auf den Schultern der Menschheit. Aus all diesen Gründen hinkt das Bewusstsein hinter den Ereignissen her.
Zu bestimmten Zeitpunkten jedoch zwingen große Ereignisse Menschen, ihre Überzeugungen und Anschauungen in Frage zu stellen. Sie werden aus der alten Gleichgültigkeit und der apathischen Teilnahmslosigkeit gerissen und gezwungen, die Realität anzuerkennen. In solchen Zeiten kann sich das Bewusstsein sehr schnell ändern. Man spricht dann von einer Revolution. Und die gesellschaftliche Entwicklung, die über lange Zeiträume ziemlich konstant und ungebrochen vonstattengeht, wird durch Revolutionen unterbrochen, welche die notwendige Triebkraft für den menschlichen Fortschritt sind.
Wenn wir uns den gesamten Prozess der menschlichen Geschichte und der Urgeschichte ansehen, sticht zunächst die außergewöhnliche Langsamkeit ins Auge, mit der sich unsere Spezies entwickelte. Die schrittweise Evolution von menschenähnlichen Lebewesen aus der Tierwelt hin zur tatsächlichen Menschwerdung dauerte Millionen von Jahren. Der erste entscheidende Schritt war die Trennung der ersten Hominiden von ihren affenähnlichen Vorfahren.
Der evolutionäre Prozess ist natürlich blind, d. h. er verfolgt kein objektives oder spezifisches Ziel. Unsere hominiden Vorfahren fanden zunächst durch den aufrechten Gang, dann durch den Gebrauch ihrer Hände zur Benutzung von Werkzeugen, und schließlich durch deren Produktion eine Nische unter bestimmten Umweltbedingungen, die sie vorantrieb.
Vor zehn Millionen Jahren waren Affen die dominierende Spezies auf dem Planeten. Es gab eine große Vielfalt von ihnen – Baumbewohner, Bodenbewohner und sehr viele Zwischenformen. Sie gediehen unter den vorherrschenden klimatischen Bedingungen, die eine perfekte tropische Umgebung schufen. Doch all das änderte sich. Vor ungefähr sieben oder acht Millionen Jahren starben die meisten dieser Arten aus. Der Grund dafür ist unbekannt.
Lange Zeit war die Erforschung der menschlichen Ursprünge von idealistischen Vorurteilen geprägt, die hartnäckig daran festhielten, dass der Hauptunterschied zwischen Menschen und Affen im Gehirn besteht und unsere frühesten Vorfahren daher Affen mit einem großen Gehirn gewesen sein müssen. Die Theorie vom „großen Gehirn“ dominierte die frühe Anthropologie vollkommen. Viele Jahrzehnte wurde erfolglos nach dem „fehlenden Glied“ („missing link“) gesucht, das nach Überzeugung der Anthropologen ein fossiles Skelett mit einem großen Gehirn sein müsste.
Sie waren so davon überzeugt, dass die Wissenschaftswelt vollkommen auf eine der außergewöhnlichsten Fälschungen in der Geschichte der Wissenschaften hereinfiel. Am 18. Dezember 1912 wurden Teile eines fossilen Schädels und eines Kieferknochens als das „fehlende Glied“ bekannt gemacht – der Piltdown Mensch. Dies wurde als große Entdeckung gefeiert. Aber 1953 enthüllte eine Gruppe englischer Wissenschaftler, dass es sich beim Piltdown Menschen um eine absichtliche Fälschung handelte. Die gefundenen Schädelteile waren nur 500 Jahre, statt der behaupteten einen Million, alt und der Kiefer war in Wirklichkeit der eines Orang-Utans.
Warum ließ sich die Wissenschaftswelt so einfach an der Nase herumführen? Weil ihr etwas geboten wurde, das sie zu finden gehofft hatte: Einen frühen hominiden Schädel mit einem großen Gehirn. Tatsächlich war der aufrechte Gang (Bipedalismus) und nicht die Größe des Gehirns, der die Hände für die Arbeit frei machte, der entscheidende Wendepunkt in der menschlichen Evolution.
Das war schon von Engels in seinem brillanten Werk ‚Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen‘ über den Ursprung des Menschen vorausgesehen worden. Der berühmte amerikanische Paläontologe Stephen Jay Gould bedauerte es, dass die Wissenschaftler Engels‘ Schrift nicht mehr Beachtung geschenkt hatten, denn so hätten sie sich hundert Jahre Irrtum ersparen können. Die Entdeckung von Lucy, dem fossilen Skelett eines weiblichen Wesens, das zur neu entdeckten Spezies mit dem Namen Australopithecus afarensis gehörte, zeigte, dass Engels Recht hatte. Die Körperstruktur der frühen Hominiden ist wie die unsrige (das Becken, die Beinknochen etc.) und damit ein Beweis für den Bipedalismus. Aber das Gehirn ist nicht viel größer als das eines Schimpansen.
Unsere fernen Vorfahren waren klein und bewegten sich im Vergleich zu anderen Tieren langsam. Sie hatten keine starken Krallen und Zähne. Noch dazu ist das menschliche Baby, das nur einmal jährlich geboren wird, nach der Geburt vollkommen hilflos. Delfine können direkt nach der Geburt schwimmen, Kälber und Fohlen können kurz nach der Geburt laufen und Löwenbabys können 20 Tage nach der Geburt rennen.
Im Vergleich dazu braucht ein menschlicher Säugling Monate, um überhaupt ohne Unterstützung sitzen zu können. Für das Aneignen fortgeschrittener Fähigkeiten wie Rennen und Springen braucht das Neugeborene sogar Jahre. Als Spezies waren wir deshalb gegenüber den zahlreichen Mitbewerbern in der Savanne Ostafrikas deutlich benachteiligt. Die menschliche Arbeit war zusammen mit der kooperativen sozialen Organisation und der Sprache, die miteinander verbunden sind, das entscheidende Element in der menschlichen Evolution. Die Herstellung von Steinwerkzeugen gab unseren frühen Vorfahren einen entscheidenden evolutionären Vorteil, welcher die Entwicklung des Gehirns auslöste.
Der erste Zeitabschnitt, den Marx und Engels Wildheit nannten, war durch eine extrem niedrige Entwicklung der Produktionsmittel, der Herstellung von Steinwerkzeugen und der Existenz als Jäger und Sammler, gekennzeichnet. Aus diesem Grund stagnierte die Entwicklungslinie für einen langen Zeitraum nahezu. Die Produktionsweise der Jäger und Sammler stellte ursprünglich den gemeingültigen Zustand der Menschheit dar. Die lebendigen Relikte aus dieser Zeit, Gesellschaften, die bis vor kurzem in verschiedenen Teilen der Welt beobachtet werden konnten, liefern uns wichtige Hinweise und Einsichten in eine längst vergessene Lebensweise.
Es ist zum Beispiel nicht wahr, dass Menschen von Natur aus egoistisch sind. Wenn das der Fall wäre, wäre unsere Gattung vor über zwei Millionen Jahren ausgestorben. Es gab ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, das diese Gruppen angesichts aller Widrigkeiten zusammenhielt. Sie kümmerten sich um ihre Neugeborenen und deren Mütter und respektierten die älteren Mitglieder der Sippe, welche das gemeinsame Wissen und den gemeinsamen Glauben im Gedächtnis bewahrten. Unsere frühen Vorfahren wussten nicht, was Privateigentum ist, wie Anthony Burnett darlegte:
„Der Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Arten wird klar, wenn wir das Revierverhalten von Tieren mit dem Eigentumsaneignung von Menschen vergleichen. Reviere werden durch formelle Signale, die für die gesamte Art gebräuchlich sind, verteidigt. Jedes erwachsene Mitglied der Spezies hält ein Revier. Menschen zeigen kein derartiges einheitliches Verhalten: Selbst innerhalb einer einzelnen Gemeinschaft können einer Person große Gebiete gehören, während andere nichts besitzen. Es gibt sogar heute noch den Besitz an Menschen. Aber in einigen Ländern ist das Privateigentum auf den persönlichen Besitz beschränkt. In einigen Stammesgruppen gehören sogar geringfügige Besitztümer der Gemeinschaft. Der Mensch hat tatsächlich nicht mehr „Instinkt, Eigentum zu besitzen“ als einen „Instinkt zum Stehlen“. Es ist zwar einfach, Kinder zu Besitzstreben zu erziehen, und doch variieren die Form des Besitzstrebens und das Ausmaß, indem dieses von der Gesellschaft anerkannt wird stark zwischen Ländern und geschichtlichen Perioden.“ (Anthony Burnett, The Human Spezies, S. 142, eigene Übersetzung)
Vielleicht ist der Begriff „Wildheit” aufgrund der negativen Bedeutung, den er heutzutage erlangt hat, unglücklich gewählt. Der englische Philosoph Thomas Hobbes, der im 17. Jahrhundert lebte, beschreibt das Leben unserer frühen Vorfahren als eines von „ständiger Angst und der Gefahr eines gewaltsamen Todes“ geprägt, „das Leben der Menschen ist einsam, arm, bösartig, bestialisch und kurz“. Zweifelsohne war ihr Leben hart, aber diese Worte werden der Lebensweise unserer Vorfahren kaum gerecht. Der kenianische Anthropologe und Archäologe Richard Leakey schreibt:
„Hobbes‘ Ansichten, dass Menschen, die keine Landwirtschaft betrieben, keine ‚Gesellschaft‘ besitzen und ‚einsam‘ sind, könnte nicht falscher sein. Ein Jäger und Sammler zu sein, heißt, ein Leben zu erfahren, das höchst sozial ist. Dass sie ‚keine Kunst‘ und ‚keine Buchstaben‘ haben, ist wahr, dass nahrungssuchende Menschen sehr wenig in Form von materieller Kultur besitzen, das aber ist einfach eine Konsequenz aus ihrem mobilen Lebenswandel. Wenn Menschen vom Stamm der !Kung von einem Lager zum nächsten ziehen, nehmen sie, wie alle Jäger und Sammler, ihre gesamten weltlichen Güter mit: Diese haben im Allgemeinen ein Gewicht von 12 kg, was ungefähr der Hälfte der Freigepäckmenge bei den meisten Fluggesellschaften entspricht. Es gibt einen unausweichlichen Konflikt zwischen der Mobilität und der materiellen Kultur und deshalb tragen die !Kung ihre Kultur in ihren Köpfen und nicht auf ihren Rücken. Ihre Lieder, Tänze und Geschichten bilden eine Kultur, die genauso reich ist, wie die anderer Menschen. Richard Lee [Anthropologe und Autor von ‚The !Kung San: Men, Women and Work in a Foraging Society, 1979] schätzt, dass die Frauen sich nicht ausgebeutet fühlen: Sie besitzen eine wirtschaftliche Bedeutung und politische Macht, etwas, das vielen Frauen in der ‚zivilisierten Welt‘ versagt bleibt.“ (Richard Leakey, The Making of Mankind, S. 101-103, eigene Übersetzung)
In diesen Gesellschaften waren Klassen im modernen Sinne unbekannt. Es gab keinen Staat oder eine organisierte Religion, und es gab ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber der Gemeinschaft und dem Teilen. Ichbezogenheit und Selbstsucht wurden als höchst anti-sozial und moralisch verurteilenswert betrachtet. Die Wichtigkeit der Gleichheit verlangt, dass bestimmte Rituale befolgt werden, wenn ein erfolgreicher Jäger ins Lager zurückkehrt. Das Ziel dieser Rituale ist es, das Erfolg herunterzuspielen, um Arroganz und Hochmut vorzubeugen: “Das korrekte Verhalten für einen erfolgreichen Jäger sind Bescheidenheit und Untertreibung”, erklärt Richard Lee. Und weiter:
„Die !Kung haben keine Häuptlinge und Führer. Probleme in ihrer Gesellschaft werden meistens gelöst, lange bevor sie zu etwas heranreifen, das die soziale Harmonie bedrohen könnte. (…) Die Gespräche der Menschen sind Allgemeingut und Streitigkeiten werden durch gemeinsame Scherze leicht entschärft. Niemand erteilt Befehle oder nimmt sie entgegen. Richard Lee fragte /Twi!gum, ob die !Kung Führer hätten. ‚Natürlich haben wir Führer‘, entgegnete er, ganz zum Erstaunen von Richard Lee. Wir sind in der Tat alle Führer; jeder von uns ist ein Führer über sich selbst!‘ /Twi!gum betrachtete die Frage und seine originelle Antwort als großen Witz.“ (ebd. S. 107)
Das grundlegende Prinzip, das alle Lebensbereiche leitet, ist das Teilen. Wenn bei den !Kung ein Tier getötet wird, beginnt ein aufwendiges Verfahren zum Aufteilen des rohen Fleisches entlang Verwandtschafts-, Partnerschafts- und Verpflichtungslinien. Richard Lee betont diesen Punkt besonders:
„Das Teilen durchdringt das Verhalten und die Werte der nahrungssuchenden !Kung in einem hohen Maße, innerhalb und zwischen den Familien und es wird bis zu den Grenzen des sozialen Universums ausgedehnt. Genau wie das Prinzip von Profit und Vernunft im Mittelpunkt der kapitalistischen Ethik steht, so steht das Teilen im Mittelpunkt der sozialen Lebensführung in nahrungssuchenden Gesellschaften.“ (ebd.)
Überheblichkeit war verpönt und Bescheidenheit wurde gefördert, wie der folgende Auszug zeigt:
„Ein !Kung Mann beschreibt es folgendermaßen: ‚Nehmen wir an, ein Mann war auf der Jagd. Er darf nicht heimkommen und angeberisch verkünden: ‚Ich habe im Busch ein großes Tier getötet!‘ Er muss sich zuerst einmal ans Feuer setzen, bis jemand kommt und fragt: ‚Was hast du heute gesehen?‘ Er antwortet ruhig: ‚Ah, Ich bin kein guter Jäger. Ich habe nichts gesehen… Vielleicht ein kleines Tier‘. Dann lächele in mich hinein, denn ich weiß, dass er etwas Großes erlegt hat. Je größer das erlegte Tier ist, desto mehr wird es heruntergespielt. (…) Das Scherzen und Untertreiben wird strikt befolgt, nicht nur bei den Menschen vom Stamm der !Kung, sondern von vielen nahrungssuchenden Menschen und das Ergebnis ist, dass, obwohl einige Menschen zweifellos bessere Jäger sind als andere, niemand wegen seines Talents ein ungewöhnliches Prestige oder einen ungewöhnlichen Status genießt.“ (Leakey, S. 106-107)
Diese Ethik ist nicht auf die !Kung begrenzt; sie ist eine Eigenschaft der Jäger und Sammler im Allgemeinen. Ein solches Verhalten ist jedoch nicht angeboren. Wie die meisten Verhaltensmuster der Menschen muss es von der Kindheit an gelernt werden. Jeder menschliche Säugling wird mit der Fähigkeit zum Teilen und der Fähigkeit egoistisch zu sein geboren, sagt Richard Lee. „Das, was anerzogen und entwickelt wird, ist das, was jede einzelne Gesellschaft als am wertvollsten betrachtet“. In diesem Sinne sind die ethischen Werte dieser frühen Gesellschaften denen des Kapitalismus, der den Menschen lehrt, gierig, egoistisch und antisozial zu sein, haushoch überlegen.
Es ist natürlich unmöglich, mit Gewissheit zu sagen, dass dies ein exaktes Bild der frühen menschlichen Gesellschaft ist. Aber ähnliche Bedingungen bringen tendenziell ähnliche Resultate, und die gleichen Tendenzen können in vielen verschiedenen Kulturen, die sich auf dem gleichen Niveau der ökonomischen Entwicklung befinden, beobachtet werden. Robert Lee beschreibt das wie folgt:
„‚Wir dürfen uns nicht vorstellen, dass dies die exakte Lebensweise unserer Vorfahren ist. Aber ich glaube, was wir bei den !Kung und anderen nahrungssuchenden Menschen sehen, sind Verhaltensmuster, die für die frühe menschliche Entwicklung ausschlaggebend waren.‘ Von den verschiedenen Hominiden-Arten, die vor zwei oder drei Millionen Jahren lebten, erweiterte eine – die Linie, die schließlich zu uns führt – ihre ökonomische Basis, indem sie Nahrung teilte und mehr Fleisch aß. Die Entwicklung einer Jäger- und Sammlerökonomie spielte bei unserer Menschwerdung eine bedeutende Rolle.“ (Zitiert nach Leakey, S. 108-109)
Wenn man die Werte der Jäger- und Sammlergesellschaften mit den unsrigen vergleicht, so sind unsere nicht immer besser. Vergleichen wir z. B. die gegenwärtige Familie, die eine hohe Anzahl an Missbrauchsfällen von Frauen und Kindern, Waisen und Prostituierten aufweist, mit der gemeinsamen Kindererziehung durch alle, die von der Menschheit während des größten Teils ihrer Geschichte praktiziert wurde, d. h. vor dem Aufkommen dieser sonderbaren gesellschaftlichen Vereinbarung, die Menschen gerne Zivilisation nennen:
„‚Ihr weißen Menschen‘, sagte ein amerikanischer Indianer zu einem Missionar, ‚liebt nur eure eigenen Kinder. Wir lieben die Kinder des Stammes. Sie gehören allen Menschen und wir sorgen für sie. Sie sind Knochen von unseren Knochen, Fleisch von unserem Fleisch. Wir sind ihnen alle Vater und Mutter. Weiße Menschen sind Wilde; sie lieben ihre Kinder nicht. Wenn sie zu Waisen werden, müssen Menschen bezahlt werden, damit für sie gesorgt wird. Wir kennen solche barbarischen Ideen nicht‘.“ (M. F. Ashley Montagu, ed., Marriage: Past and Present: A Debate Between Robert Briffault and Bronislaw Malinowski, Boston: Porter Sargent Publisher, 1956, S. 48, eigene Übersetzung)
Wir dürfen jedoch keinen idealisierten Blick auf die Vergangenheit haben. Das Leben war für unsere frühen Vorfahren ein ständiger, harter Überlebenskampf gegen die Kräfte der Natur. Der Fortschritt ging extrem langsam vonstatten. Die frühen Menschen begannen vor mindestens 2,6 Millionen Jahren mit der Herstellung von Steinwerkzeugen. Das älteste Werkzeug aus der Oldowan-Kultur wurde ca. eine Million Jahre verwendet, bis sich vor ungefähr 1,76 Millionen Jahren die inzwischen weiter verfeinerten, scharfkantigen Faustkeile, Messer und Schaber endgültig durchsetzten. Diese Werkzeuge charakterisieren die acheuléische Kultur. Diese und andere Grundwerkzeuge aus Stein wurden für eine ausgesprochen lang anhaltende Epoche angefertigt, die vor rund 400.000 bis 200.000 Jahren endete.
Die gesamte Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte des Kampfes, sich über das tierische Dasein zu erheben. Dieser lange Kampf begann vor sieben Millionen Jahren, als unsere entfernten menschlichen Vorfahren erstmals den aufrechten Gang erlernten, wodurch ihre Hände für manuelle Arbeit freiwurden. Seitdem entstanden aufeinanderfolgende Phasen der sozialen Entwicklung auf der Grundlage von Veränderungen in den Produktivkräften der Arbeit – das heißt auf der Grundlage unserer wachsenden Beherrschung der Natur.
Für die menschliche Geschichte verlief dieser Prozess schmerzlich langsam, wie ‚The Economist‘ am Vorabend des neuen Jahrtausends feststellte:
„Fast in der gesamten menschlichen Geschichte war der ökonomische Fortschritt so langsam, dass er innerhalb einer Lebenszeit kaum wahrnehmbar war. Von Jahrhundert zu Jahrhundert lief die jährliche Wirtschaftswachstumsrate gegen Null. Wenn sich Wachstum einstellte, war dieses so langsam, dass die Zeitgenossen ihn nicht wahrnehmen konnten – und sogar rückblickend erscheint dieser nicht als Anstieg des Lebensstandards (so wie Wachstum heute gesehen wird), sondern als leichtes Bevölkerungswachstum. In tausenden von Jahren belief sich der Fortschritt, abgesehen von einer winzigen Elite, auf folgendes: Es wurde für mehr Menschen möglich, auf dem niedrigsten Lebensstandard zu leben.“ (The Economist, 31.12.1999, eigene Übersetzung)
Der menschliche Fortschritt beschleunigt sich in Folge der ersten und wichtigsten der großen Revolutionen, des Übergangs von der primitiven Produktionsweise der Jäger und Sammler zum Ackerbau. Dies schuf die Grundlage für die Sesshaftigkeit und die Entstehung der ersten Siedlungen. Das war die Epoche, die MarxistInnen als Barbarei bezeichnen, das Stadium zwischen dem Urkommunismus und der frühen Klassengesellschaft, als Klassen sich zu bilden beginnen und mit ihnen der Staat.
Die langanhaltende Epoche des Urkommunismus, die erste Phase der Entwicklung der Menschheit, in der Klassen, Privateigentum und der Staat nicht existierten, ebnete den Weg für die Klassengesellschaft, sobald die Menschen in der Lage waren, einen Überschuss zu produzieren, der über dem täglichen Überlebensbedarf lag. Ab diesem Zeitpunkt wurde die Teilung der Gesellschaft in Klassen wirtschaftlich möglich. Die Barbarei entsteht aus dem Zerfall der alten Kommune. Hier wird die Gesellschaft zum ersten Mal entlang von Eigentumsverhältnissen geteilt und Klassen sowie der Staat befinden sich in einem Entstehungsprozess, obwohl diese Dinge nur allmählich entstehen, und sich, ausgehend von einem embryonischen Stadium, schließlich als Klassengesellschaft konsolidieren. Diese Epoche beginnt vor ca. 10.000 oder 12.000 Jahren.
Vom historischen Gesichtspunkt aus gesehen war die Entstehung einer Klassengesellschaft ein revolutionäres Phänomen. Sie befreite eine privilegierte Gruppe der Gesellschaft – die herrschende Klasse – von der direkten Arbeitslast und gab ihr die notwendige Zeit, um Kunst, Wissenschaft und Kultur zu entwickeln. Die Klassengesellschaft war, trotz der rücksichtslosen Ausbeutung und Ungleichheit, der Weg, den die Menschheit gehen musste, um die nötigen materiellen Voraussetzungen für eine zukünftige klassenlose Gesellschaft aufzubauen.
Hier sehen wir den Embryo, aus dem Städte (wie z.B. Jericho, das ungefähr 7000 v. Chr. gebaut wurde), die Schrift, die Industrie und alles andere, das die Basis für die so genannte Zivilisation schuf, erwuchsen. Die Epoche der Barbarei stellt einen sehr großen Abschnitt der menschlichen Geschichte dar, und sie ist in verschiedene mehr oder weniger klare Zeitabschnitte aufgeteilt. Im Allgemeinen wird sie durch den Übergang von der Produktionsweise der Jäger und Sammler zum Wanderhirtentum (Pastoralismus) und Ackerbau gekennzeichnet, d. h sie geht von der paläontologischen Barbarei über die neolithische Barbarei bis zur Oberstufe der Barbarei, der Bronzezeit, die an der Schwelle der Zivilisation steht.
Dieser entscheidende Wendepunkt, den Gordon Childe die Neolithische Revolution nannte, bedeutete einen großen Sprung vorwärts bei der Entwicklung der menschlichen Produktionsleistung und damit der Kultur. Childe schreibt dazu: „Wir verdanken der vorschriftlichen Barbarei vieles. Jede bedeutende angebaute Nährpflanze wurde in einer der vielen namenlosen barbarischen Gesellschaften entdeckt“ (G. Childe, What Happened in History, p. 64, eigene Übersetzung).
Der Ackerbau begann vor ca. 10.000 Jahren im Nahen Osten und stellte eine Revolution in der menschlichen Gesellschaft und Kultur dar. Die neuen Produktionsbedingungen gaben Menschen mehr Zeit – Zeit für komplexes analytisches Denken. Dies widerspiegelt sich in der neuen Kunst, die aus geometrischen Mustern bestand – die ersten Beispiele von abstrakter Kunst in der Geschichte. Die neuen Bedingungen schufen neue Lebensanschauungen, soziale Beziehungen sowie die Verbindung zwischen Mensch und Natur samt dem Universum, deren Geheimnisse auf eine Art und Weise erforscht wurden, von der man zuvor nicht zu träumen gewagt hätte. Das Verständnis von Naturvorgängen wird durch die Anforderungen des Ackerbaus notwendig und wird in dem Maße vertieft, in dem Menschen lernen, die feindlichen Naturkräfte in der Praxis durch kollektive Arbeit im großen Stil zu besiegen und bändigen.
Die kulturelle und religiöse Revolution reflektiert die große soziale Revolution – die größte in der gesamten menschlichen Geschichte bis zum heutigen Tage, welche die ursprüngliche Kommune auflöste und das Privateigentum an Produktionsmitteln schuf. Denn immerhin sind es die Produktionsmittel, die unser Leben ermöglichen.
Für den Ackerbau bedeutete die Einführung von Eisenwerkzeugen einen großen Fortschritt. Sie gestattet ein Bevölkerungswachstum und größere, stärkere Gemeinschaften. Vor allem erzeugt sie einen Überschuss, den sich die führenden Familien in der Gemeinschaft aneignen können. Besonders die Einführung von Eisen bedeutete eine qualitative Veränderung im Produktionsprozess, denn Eisen ist wesentlich effektiver als Kupfer und Bronze, sowohl zur Herstellung von Werkzeugen als auch von Waffen. Eisen stand auch in einem weit größeren Maß zur Verfügung als die alten Metalle. Hier werden zum ersten Mal Waffen und Kriegsführung demokratisiert. Die wichtigste Waffe der damaligen Zeit war das Eisenschwert, das erstmalig um 5000 v.Chr. in England auftaucht. Jeder Mann kann ein Eisenschwert besitzen. Aus diesem Grund verliert die Kriegsführung ihren vorwiegend aristokratischen Charakter und wird zu einer Angelegenheit für die Massen.
Die Verwendung von eisernen Äxten und Sicheln transformiert den Ackerbau. Ein Hektar Land kann nun doppelt so viele Menschen wie zuvor ernähren. Es gibt jedoch immer noch kein Geld, und so blieb die Tauschwirtschaft bestehen. Der erwirtschaftete Überschuss wird nicht reinvestiert, da diese Möglichkeit nicht gegeben ist. Einen Teil des Überschusses eignen sich der Häuptling und seine Familie an. Ein anderer Teil wird bei Feiern, die eine wichtige Rolle in dieser Gesellschaft einnehmen, verbraucht.
Bei einem einzelnen Fest konnten 200-300 Menschen satt werden. Bei den Überresten eines solchen Festes wurden die Knochen von zwölf Kühen und einer großen Anzahl Schafe, Schweine und Hunde entdeckt. Diese Versammlungen waren nicht nur Gelegenheiten, bei denen man Essen und Trinken bis zum Exzess zu sich nahm, sie spielten auch eine wichtige soziale und religiöse Rolle. Bei solchen Zeremonien dankten die Menschen Gott für den Nahrungsüberschuss. Sie ermöglichten es auch, dass verschiedene Sippen miteinander in Kontakt traten und gemeinschaftliche Angelegenheiten geklärt wurden. Solche großzügigen Feste boten den Häuptlingen ebenfalls die Möglichkeit, ihren Wohlstand und ihre Macht zu zeigen, um so das Ansehen des betreffenden Stammes oder der Sippe zu steigern.
Aus solchen Sammelplätzen erwuchs allmählich die Grundlage für feste Siedlungen, Märkte und kleinere Städte. Die Bedeutung des Privateigentums und Wohlstands nahm mit der steigenden Arbeitsproduktivität und dem zunehmenden Überschuss, der ein Angriffsziel für Überfälle bot, zu. Da die Eisenzeit eine Periode von andauernden Kriegen, Fehden und Plünderungen war, wurden die Siedlungen oft mit großen Erdwällen verstärkt, wie z. B. Maiden Castle in Dorset und Danebury in Hampshire.
Infolge der Kriege gab es eine große Zahl an Kriegsgefangenen, von denen viele als Sklaven verkauft wurden und im letzten Abschnitt der Periode als Ware mit den Römern gehandelt wurden. Der Geograph Strabo schrieb darüber: „Diese Leute geben dir einen Sklaven für eine Amphore Wein.“ Ein derartiger Tauschhandel begann an der Peripherie dieser Gesellschaften. Durch den Tausch mit einer höher entwickelten Kultur wie der römischen wurde allmählich das Geld eingeführt, wobei die ersten Münzen auf römischen Modellen basierten.
Die Herrschaft des Privateigentums bedeutete zum ersten Mal die Konzentration von Wohlstand und Macht in den Händen einer Minderheit. Sie führte zu einer dramatischen Veränderung in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen und ihrem Nachwuchs. Die Frage der Erbschaft beginnt eine große Bedeutung zu erlangen. Als Folge daraus sehen wir die Entstehung spektakulärer Gräber. In Großbritannien treten solche Gräber ca. 3000 v.Chr. erstmals auf. Sie stellen ein Machtsymbol der herrschenden Klasse oder Kaste dar. Außerdem wurden so Eigentumsrechte über ein bestimmtes Gebiet geltend gemacht. Das Gleiche kann man in anderen frühen Kulturen beobachten, beispielsweise bei den Prärieindianern in Nordamerika, über die es ausführliche Darstellungen aus dem 18. Jahrhundert gibt.
Hier haben wir es erstmalig mit der Entfremdung zu tun. Das menschliche Wesen wird im zwei- oder dreifachen Sinne von sich selbst entfremdet. Zunächst bedeutet das Privateigentum die Entfremdung vom eigenen Produkt, das von einer anderen Person angeeignet wird. Zweitens eignet sich der Staat in Person eines Königs oder Pharaos die Kontrolle über sein Leben an. Schließlich wird diese Entfremdung vom irdischen Leben in das Nachleben übertragen, das innere Wesen („die Seele“) aller Menschen wird von den Gottheiten der nächsten Welt, deren guter Wille ständig durch Gebete und Opfer erhalten werden muss, angeeignet. Und genau wie die Dienste für den Monarchen die Grundlage für den Wohlstand der Oberschicht von Bürokraten und Adeligen bilden, so bilden die Opfer für die Götter die Grundlage für den Wohlstand und die Macht der Kaste der Priester, die zwischen den Menschen und den Göttern und Göttinnen steht. Hier haben wir es mit der Entstehung der organisierten Religion zu tun.
Mit der Zunahme der Produktion und Produktivitätssteigerungen, die durch die neuen Arbeitsweisen möglich wurden, gab es Veränderungen in den Glaubensvorstellungen und Bräuchen. Auch hier bestimmt das soziale Sein das Bewusstsein. Anstelle der Verehrung von Vorfahren und Steingräbern für Individuen und ihre Familien sehen wir nun einen viel anspruchsvolleren Ausdruck des Glaubens. Der Bau von Steinkreisen enormen Ausmaßes bescheinigt eine eindrucksvolle Zunahme der Bevölkerung und der Produktion, die durch die organisierte, kollektive Arbeit im großen Stil möglich gemacht wurde. Die Wurzeln der Zivilisation sind deshalb in der Barbarei zu finden, und noch mehr in der Sklavenhaltergesellschaft. Die Entwicklung der Barbarei endet in der Sklavenhaltergesellschaft oder in dem, was Marx die „asiatischen Produktionsweise“ nannte.
Alan Woods, London, 8. Juli 2015
Einführung in den historischen Materialismus – Teil 1
Einführung in den historischen Materialismus – Teil 2
Einführung in den historischen Materialismus – Teil 3
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024