Am 9. August kam der Konflikt beim Genfer Chemieunternehmen Merck Serono zu einem vorläufigen Ende. Die Vollversammlung der Beschäftigten akzeptierte einen verbesserten Sozialplan, aber damit auch die endgültige Werkschliessung. So gehen rund 1250 Arbeitsplatze in Genf verloren. Nur ein Fall von vielen in der Schweiz? Nein, denn dieser Abstimmung ging ein viermonatiger Arbeitskampf voraus, welcher einige Besonderheiten aufweist.
Die erste Eigenheit war, dass die Belegschaft bestens ausgebildet war und vor allem aus Chemikern, anderen Forschern und Administrationspersonal bestand. Viele hatten einen verhältnismässig hohen Lohn und keinerlei gewerkschaftliche Erfahrung. Niemand dachte, dass diese Kategorie von ArbeiterInnen für einen langatmigen Arbeitskampf bereit sein würde. Trotzdem führte die Belegschaft unterstützt von der Gewerkschaft Unia einen harten Arbeitskampf. An den wöchentlichen Vollversammlungen nahmen regelmässig über 500 Angestellte teil. In vier Monaten wurden fünf Tage gestreikt, einige kürzere Arbeitsniederlegungen abgehalten, sowie ein Hungerstreik und einige weitere kleinere Aktionen durchgeführt. Unter anderem reiste eine 200-köpfige Delegation nach Darmstadt (D) um auf dem riesigen Firmenhauptsitz der Merck-Mutterfirma zu demonstrieren. Am Schluss setzte die vom Genfer Regierungsrat eingesetzte „Kammer für kollektive Arbeitsbeziehungen“ (CRCT) den Protesten ein Ende. Diese regelt Konflikte zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen und erklärt GAVs für allgemeingültig. Das CRCT konnte das erste Mal die Geschäftsleitung an den Verhandlungstisch mit kantonalen Vertretern zwingen.
Das Endergebnis der Verhandlungen um den Sozialplan erhält einige Verbesserungen, vor allem für ältere Angestellte. Im Verhältnis zu der vorhergegangenen Mobilisation sind diese aber klar enttäuschend. Die unglaublich arrogante Geschäftsleitung liess sich nicht zu einschneidenden Konzessionen zwingen. Wieso?
Eine Unvorteilhafte Verhandlungsposition
Die Belegschaft von Merck Serono befand sich von Anfang an in einer schlechten Verhandlungsposition. Auch wenn die folgenden Gründe den Arbeitskampf hemmten, bleiben fünf Streiktage in der schweizerischen Chemiebranche eine Ausnahme. Im Vergleich: bei Novartis in Nyon wurde gerade einmal ein Streiktag durchgeführt. Auch wenn die Mobilisierungen und die kurzen Arbeitsniederlegungen zunächst ein überraschender Erfolg und vielversprechend waren, nahm die Teilnahme an den Streiks mit der Zeit merklich ab. Bei einem kleinen Teil der Angestellten festigte sich die Überzeugung, bei der Mehrheit der Mitarbeiter konnte die Motivation aber nicht gehalten werden. Die Belegschaft war einer konstanten Einschüchterung ausgesetzt. Diese reichte von Entlassungsdrohungen bis zur Fichierung durch Fotographen. Die Repression verstärkte das Ohnmachtsgefühl der Belegschaft gegenüber der Unternehmensführung. Diese konnte zwei Schwachpunkte bei einem Teil der Belegschaft für sich ausnützen. Einerseits verstärkte sie die (fälschliche) Angst, dass ältere Angestellte ihre über Jahre erarbeiteten Privilegien mit einer protestbedingten Kündigung vollends verlieren würden. Andererseits hofften jüngere Angestellte durch ihren hohen Ausbildungsgrad auf einen relativ einfachen Jobwechsel. Beides hemmte schlussendlich die weitere Ausdehnung des Konflikts.
Kosten eines Streiks
Ein weiterer Schwachpunkt war, dass Genf kein Produktionsstandpunkt mehr war. Wichtige Server wurden bereits vor dem Konflikt ins Ausland verlegt. Deshalb verursachte der Streik in der Administration keine Verluste für das Unternehmen. In der Forschungsabteilung wollte die Belegschaft aus moralischen Gründen nicht die Projekte aktiv verzögern. Die Forschung an den Nebenwirkungen von bereits zugelassenen Medikamenten verhindert weitere Todesfälle. Deshalb stand das Wohl der Patienten bei ihnen an höchster Stelle. Die Geschäftsleitung nützte die negativen Folgen ihrer Geschäftsstrategie (ein Medikament auf den Markt bringen, an dessen Nebenwirkungen immer noch geforscht wird) so aus, dass die Verantwortung auf die Forschungsbelegschaft abgeschoben wird, welche sich dann nicht erlaubt effektiv zu streiken. So entstand durch den Streik wenig materieller Druck (sprich Verlust), welcher die Firma zum einlenken gezwungen hätte.
Der Standort Waadt
Eine grössere Solidarität und vor allem eine engere Zusammenarbeit mit der Belegschaft des Produktionsstandpunkt Coinsins im Waadtland hätte den Ausgang beeinflussen können. Ein Streik in der Produktion hätte für Merck Serono substantielle Mehrkosten verursacht. Da auch in Coinsins eine erhebliche Anzahl Stellen gestrichen wurden, wäre ein koordinierter Streik durchaus vorstellbar gewesen. Doch die handzahme Gewerkschaftsleitung aus Nyon brachte nicht mehr als ein protestierendes Gruppenfoto zustande. Im Produktionsbetrieb bei Novartis übte eine streikbereite Belegschaft Druck aus auf die Gewerkschaft, wodurch diese zum Streik aufrief. Dieser Druck fehlte offensichtlich beim Merk Serono Werk in Coinins.
Lokale Solidarität
Obwohl die Presse regelmässig und auch relativ positiv über die Angelegenheit berichtete, liess die Solidarität der lokalen Politik zu wünschen übrig. Ein Solidaritätskomitee bildete sich erst nach vier Monaten, da war der Konflikt schon so gut wie beendet. Die Linke, welche besonders gefordert gewesen wäre, übernahm keinerlei Verantwortung im Konflikt. Ausser Besuchen an Demonstrationen und leerer Worte war von den lokalen PolitikerInnen nichts zu hören, ausser noch dem verfehlten Argument, solche qualifizierte Angestellte bräuchten gar keine Unterstützung. Dieses Ausbleiben einer Politischen Kraft, welche konsequent die Interessen der Lohnabhängigen vertritt ist nicht nur charakteristisch für die politische Landschaft der Schweiz, sondern bildet auch einen klaren Nachteil in den immer häufigeren Arbeitskämpfen. Eine Gewerkschaft ist alleine zu schwach einen multinationalen Konzern zu bezwingen. Eine nationale Partei mit klarem Programm, welche die Forderungen der Belegschaft aufnimmt, hätte einerseits Vorbildwirkung für alle Lohnabhängigen und wäre andererseits ein schlagkräftiges Werkzeug gegen den Klassenkampf von Oben.
Internationale Solidarität
Die Deutsche Gewerkschaft „Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie“ (IG BCE), welche die Deutschen Beschäftigten von Merck vertritt, spielte eine unerfreuliche Rolle. Sie wollte nicht einmal die Demonstrationsbewilligung für die Genfer Protestdelegation einholen und solidarisierte sich nicht mit den Streikenden aus der Schweiz. Ganz anders der Sicherheitsmann, der den Demonstrationszug über das Betriebsgelände und durch die Produktionshallen führte. Obwohl auch in Deutschland 10% der (viel grösseren) Belegschaft entlassen wird, arbeitete die deutsche Gewerkschaft von Anfang an auf einen „Kompromiss“ mit der Geschäftsleitung hin. Die IG BCE verfiel der arbeitnehmerfeindlichen Standortlogik und liessen sich von der Konzernleitung gegen die Schweizer Belegschaft ausspielen. Ein solcher „Kompromiss“ bedeutet nämlich nur ein verzögertes Abwarten der nächsten Entlassungsrunde.
Die Massenentlassung und Werkschliessung bei Merck Serono in Genf ist ein weiteres Beispiel für die krassen Lücken im Schweizer Arbeitnehmerschutz. Die traditionsreiche Schweizer Firma Serono wurde 2006 von einem Internationalen Riesen gekauft, um den Goldesel „Rebif“ (eine Multiple Sklerose Therapie, Jahresumsatz 1.6 Mia) auszuschlachten. Forschung und Administration wurden zu grossen Teilen aufgelöst, die Produktion wurde ins billigere Ausland verfrachtet. Dabei hatte die Belegschaft auf sich alleine gestellt keine Macht sich dagegen zu Wehren. Trotz solider Arbeit von Gewerkschaft und Belegschaft blieb eine politische Kraft aus, welche den Protest auf eine höhere Ebene hätte heben können.
Hoffnungen
Der Arbeitskampf bei Merck Serono bleibt trotzdem ein Lichtblick für die Schweizer Industrie. Im Gegensatz zur Schliessung von Swissprinters in St. Gallen, scheuten sich weder Unia noch die Belegschaft der Konzernleitung die Stirn zu bieten. Im Gegensatz zu Novartis ging die Belegschaft trotz kleinerer Aussicht auf Erfolg aufs Ganze und streikte mehrere Tage. Beispielhaft ist auch die Demokratie, mit welcher Gewerkschaft und Belegschaft den Kampf führten. Die Vorschläge der Arbeitsgruppen wurden fast ausschliesslich von den Mitarbeitern ausgearbeitet und immer der gesamten Belegschaft vorgestellt. Über alle wichtigen Entscheidungen wurde an den Vollversammlungen abgestimmt.
Auch wenn das Endresultat des Konflikts nicht gänzlich überzeugt, ist sich der Teil der Belegschaft welcher am Protest teilgenommen hat einig, dass sie dank ihrem Kampf ihren Stolz behalten konnten. Das Beispiel von Merck Serono bestätigt den marxistischen Grundsatz, dass durch eine kämpferische Gewerkschaft mit einer echten internen Demokratie die gesamte kreative Kraft der ArbeiterInnen zum Vorschein kommt. Es entsteht eine gesellschaftliche Kraft, welche die Grundlage für eine echte Alternative bilden kann.
In der Praxis zeigten sich dabei die engen Grenzen, welche einer ausschliesslich gewerkschaftlichen Praxis gesetzt sind, wenn diese im Rahmen der kapitalistischen Logik verharrt. Die ArbeiterInnen müssen in einer solchen Situation nicht bloss ihre ökonomische Macht zur Geltung bringen können, sondern sehen sich unmittelbar mit schwierigeren politischen Fragen konfrontiert. Was fehlt, ist eine Partei, welche konsequent hinter den Interessen der Lohnabhängigen steht und solchen Arbeitskämpfen eine qualitativ höhere Kraft geben würde.
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