Die Spannungen zwischen den USA und China nehmen zu. Das ist die Folge der Verschiebung in den Kräfteverhältnissen zwischen diesen Grossmächten. Was bedeutet die Konfrontation zwischen dem niedergehenden US-Imperialismus und dem aufsteigenden chinesischen Imperialismus?
Seit Jahren spitzt sich der Konflikt zwischen den USA und China zu. Beim NATO-Gipfel Ende letzten Juni werden erstmals deutliche Worte gegen die Volksrepublik China gesprochen. Rund zwei Wochen später reist die Sprecherin des Weissen Hauses Nancy Pelosi nach Taiwan. Die Reise ist eine offene Provokation an China, das Taiwan als sein eigenes Hoheitsgebiet betrachtet. Die USA spielen mit den Muskeln, darauf rasselt China mit den Säbeln. Angesichts des herrschenden Ukraine-Kriegs wecken die jüngsten Ereignisse im Pazifik erneut Ängste vor einer neuen militärischen Eskalation im Pazifik. Die tiefe Krise, welche den Weltmarkt beherrscht, hat die Fronten zwischen den zwei grössten Weltmächten drastisch verschärft.
1916 schreibt Lenin das Buch «Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus», es ist heute noch das beste Werkzeug, um die aktuellen Kämpfe der imperialistischen Staaten zu verstehen. Eines der zentralen Merkmale, das Lenin unterstreicht, ist die imperiale Beherrschung durch das Finanzkapital. Die Riesenkonzerne, die eng mit den Banken verschweisst sind, generieren gigantische Profite, die aufgrund der Enge des Binnenmarkts nicht mehr profitabel im Inland reinvestiert werden können. Das Kapital muss über die Grenzen des Nationalstaats hinaus. Es wird in andere Länder exportiert und dadurch ein Abhängigkeitsverhältnis geschaffen. Dies verschärft die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten, was unter bestimmten Umständen in Krieg umschlagen muss. Lenin betont, dass die einmal etablierten Machtverhältnisse nicht statisch sind, sondern sich permanent verändern.
Das können wir heute an der Entwicklung des US-Imperialismus beobachten. Nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die USA als einzige Weltmacht hervor. Diese unvergleichliche Stärke erlaubte ihnen, für Jahrzehnte die Rolle des Weltpolizisten zu spielen. Heute sind sie immer noch klar die stärkste Kraft auf dem Planeten, aber sie befinden sich seit längerem in einem relativen Niedergang. Im Jahr 1945 machten die USA etwa 50 % des weltweiten BIP aus. Im Jahr 1980 war der Anteil auf 25 % gesunken. Heute hält sich der Anteil auf etwa 24 %. Das schwindende ökonomische Gewicht drückt sich auch auf der weltpolitischen Ebene aus. Seit dem Vietnamkrieg haben die USA ihre Kriege nur verloren, das neuste Beispiel ist die klägliche Episode in Afghanistan. Dieser zunehmende Kontrollverlust führt dazu, dass die Herrschaft der USA zunehmend herausgefordert wird. Nach dem Motto: Wenn der grosse Tyrann angeschlagen ist, dann werden die kleinen Tyrannen frecher. Die Invasion der Ukraine durch das russische Regime ist Ausdruck des relativen Niedergangs der USA.
Die Volksrepublik China hingegen entwickelt sich seit Jahren in die entgegengesetzte Richtung. Sie ist seit der kapitalistischen Öffnung in den 80er Jahren dank billiger Arbeitskräfte zu einer klassischen imperialistischen Macht geworden. Ihr Anteil am weltweiten BIP ist von 1,28 % im Jahr 1980 auf 10 % im Jahr 2013 und heute auf über 15 % gestiegen. Die exorbitanten Profite, die generiert werden, werden aggressiv im Ausland reinvestiert. Die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt legt in über 150 Ländern Kapital an. Der Wert von Chinas Auslandsinvestitionen und Bauvorhaben wird seit 2005 auf insgesamt 2,2 Billionen Dollar geschätzt. China ist heute aber auch zum grössten Gläubiger der Welt geworden. Die ausstehenden Forderungen betragen mittlerweile 5 % des globalen BIP.
Aber mit der kapitalistischen Öffnung hat China auch die kapitalistischen Wiedersprüche importiert. Es herrscht eine krasse Überproduktionskrise: Chinas Kapitalisten haben Mühe, ihre Massen an Waren abzusetzen. Dieses Problem ist der Motor hinter der Jagd des chinesischen Kapitalismus nach Absatzmärkten und Einflusssphären auf der ganzen Welt. Das führt zu einem verschärften Kampf um Handelsrouten, Absatzmärkten und Einflussphären. Heute erleben wir das Streben nach territorialer Ausweitung Chinas im Mittleren Osten mit dem Mega-Projekt der «neuen Seidenstrasse», welche der Versuch ist, eine neue Handelsroute nach Europa zu etablieren.
Im Sommer wurde der Pazifik zum zentralen Schauplatz der Spannungen zwischen den zwei grössten Weltmächten. China baut seit Jahren künstliche Inseln im südchinesischen Meer, um die Kontrolle über eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt zu erlangen. Mit grosser Dreistigkeit dringen sie so in eine traditionell amerikanische Einflusssphäre ein. Aber nicht nur der Bau der Inseln ist eine Bedrohung für die Herrschaft der Amerikaner über die strategisch wichtige Region. Mittlerweile ist China der grösste Handelspartner für die meisten Inseln im Pazifik, wie zum Beispiel den Salomonen, die vor kurzem einen Deal mit China machten und den USA den Mittelfinger zeigten.
Aufgrund der Wirtschaftskrise und dem damit verbundenen relativen Niedergang müssen die USA härter um Kontrolle, Einfluss und Absatzgebiete kämpfen. Das sehen wir im Pazifik, wo das reale Gewicht der USA immer kleiner wird. China dagegen muss aufgrund ihrer gigantischen Produktionskapazitäten mehr Absatzgebiete erobern, damit ihre eigene Wirtschaft nicht kollabiert.
Diese Dynamik ist kein Zufall. Sie entspricht der inneren Logik des Kapitalismus und ist der Grund, weshalb es keinen Frieden im Kapitalismus geben kann. Der verhärtete Kampf um Einfluss und Absatzmärkte hat den alten Konflikt um Taiwan wiedererweckt. China betrachtet Taiwan als ihm zugehörig, die USA sehen Taiwan als ihre traditionelle Bastion gegen den «Kommunismus» in Asien. Die Reise Nancy Pelosis nach Taiwan muss auch klar in diesem Kontext verstanden werden. Die Amerikaner versuchen ihr Territorium zu markieren. Ein verzweifelter Versuch, ihren schwindenden Einfluss aufrechtzuerhalten.
Die Spannungen zwischen den Grossmächten sind Ausdruck der tiefen organischen Krise des Kapitalismus. Wenn der Kuchen kleiner wird, wird der Kampf um die Stücke härter. Die Spannungen werden sich deshalb in Zukunft weiter verschärfen: ökonomisch, politisch und auch militärisch.
Um die eigene Stellung im imperialistischen Weltsystem auf Kosten der anderen zu sichern, greifen die Grossmächte zu protektionistischen Massnahmen. Die weitere Eskalation des Handelskrieges zwischen den USA und China ist heute die grösste Gefahr für die Weltwirtschaft, die sich ohnehin bereits in einem überaus fragilen und schlechten Zustand befindet.
Auf der politischen und militärischen Ebene bedeutet die Zuspitzung der imperialistischen Widersprüche nicht, dass eine direkte militärische Konfrontation zwischen den USA und China bevorsteht. Das ist in der aktuellen Periode aufgrund der Atomwaffen ausgeschlossen. Aber wir werden eine Zunahme von Stellvertreterkriegen zwischen den imperialistischen Grossmächten sehen. Der Krieg in der Ukraine ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme, sondern ein Ausdruck davon, was uns in dieser Periode des verfaulenden Kapitalismus weiter erwarten wird. Dieses System hat der Arbeiterklasse nichts mehr zu bieten ausser Krieg, Elend und wachsende Barbarei.
Doch die Widersprüche verschärfen sich nicht nur zwischen den kapitalistischen Staaten, sondern auch in deren Innern: Die USA und China sind heute nicht mehr stabil, beide sind ein soziales Pulverfass. Die gigantische Arbeiterklasse dieser Länder hat das Potenzial, den imperialistischen Kämpfen ein Ende zu bereiten und den Sozialismus, ein System ohne Konkurrenz und Krieg, aufzubauen.
S. Varela, Basel
10.11.2022
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024