Als ich 2019 meine KV-Lehrstelle in einem Modeunternehmen mit Hauptsitz in der Schweiz antrat, waren meine Hoffnungen gross. Der Traum einer soliden Ausbildung starb jedoch schnell, denn lange vorbei sind die Tage, an denen Lernende noch zum Lernen eingestellt wurden.

Als ich kaum mein erstes Semester abgeschlossen hatte, brach die Pandemie aus. Das Büro stand prompt leer und die Lehrlinge waren auf sich allein gestellt, denn die Homeofficearbeit wurde den Lernenden explizit verboten. Als Fast-Fashion Kette traf uns die Pandemie besonders hart. Es kam zu Ladenschliessungen und in der Folge zu Entlassungen im Büro. Die Aufgaben der entlassenen ArbeiterInnen wurden auf Lernende abgewälzt. Darunter auch Arbeiten, welche nichts mit dem Lehrberuf zu tun hatten. Mit dem Lockdown kam auch die Pseudo-Kurzarbeit, bei welcher mein Betrieb Staatshilfen für die scheinbare Kurzarbeit erhielt, von uns MitarbeiterInnen jedoch erwartet wurde, dass wir Vollzeit arbeiten und über unser Pensum lügen. Betroffen davon war auch ich. Bei Nichteinhalten wurde mit der Kündigung gedroht. Teils arbeitete ich 12 Stunden in einem Keller ohne Tageslicht für unser Lager. 

Der Betrieb erholte sich nie von dieser Krise und schlitterte von einer in die nächste. So kam es, dass jeder Lernende noch heute in mindestens drei Abteilungen gleichzeitig arbeitet und sich bei vielen eine Überzeit von mehr als 40 Stunden angesammelt hat. Während man nebenbei noch zwei Tage die Woche die Schule besucht und sich auf Prüfungen vorbereiten muss. Man möchte hier auch erwähnen, dass die meisten Lernenden bei uns noch minderjährig sind. 

Im Vergleich zu meinen Schulkameraden verdienen wir auch deutlich schlechter – 300 CHF weniger monatlich als vom Berufsverband vorgeschlagen. Einen 13. Monatslohn oder Bonus gibt es nicht. Zusätzlich gibt es ab dem ersten Krankheitstag eine Lohneinbusse von 30 % auf jeden Fehltag.

Ich erlebte eine vollkommene Entfremdung, doch dies war nur die Spitze des Eisbergs. Ich wurde tagtäglich von meinem Ausbildner aufgrund meiner Herkunft schikaniert. Das HR meinte, ich solle es einfach ertragen, «weil er halt so ist». Beim Ausbildner handelt es sich nebenbei bemerkt um den Chief Legal Officer (Leiter Rechtliches).

Es ging anderen jedoch schlimmer. Während meiner dreijährigen Lehre wurden mindestens vier Lehrtöchter sexuell belästigt, eine davon in ihrer ersten Arbeitswoche. Auch dies von einem Mitglied der Geschäftsleitung. Dadurch wirkt es auch besonders heuchlerisch, dass sich der Betrieb nach aussen gerne als feministisch inszeniert. Die Belästigung, welche vom Verbalen bis hin zum Physischen reichte und sich über Monate zog, wurde der Berufsbildnerin und dem HR gemeldet. Diese hatten kein Interesse, etwas dagegen zu unternehmen. Das Lehrlingsamt wurde auch mehrfach kontaktiert. Dort wurde Hilfe versprochen, jedoch nie geliefert.

Im Angesicht dessen fühlte man sich völlig machtlos und dem System ausgeliefert. Dies war in der Ausbildung meine grösste Lehre: Wer im Kader ist, kann tun und lassen, was er will, und als Arbeiter droht die Kündigung, wenn man das Einhalten der Menschenwürde fordert. Es überrascht kaum, dass in meiner Zeit mehrere Lehrlinge den Betrieb verliessen. Ich traute mich dies nie. Die Angst, nicht rechtzeitig einen neuen Arbeitgeber zu finden und ohne Abschluss dazustehen, war zu gross. 

Mein Betrieb ist ein extremes Beispiel dafür, was alles schieflaufen kann, jedoch lange kein Einzelfall. In anderen Lehrberufen, wie dem Detailhandel oder der Pflege, sieht die Situation noch düsterer aus. Für mich endete ab August dieser Albtraum. Für tausende Jugendliche geht er weiter oder beginnt erst. Der Bund muss sich nicht wundern, wieso jeder fünfte seine Lehre wieder abbricht, wenn man einfach da ist, um als billige Arbeitskraft die Drecksarbeit zu erledigen. Die Gewerkschaften und das Lehrlingsamt müssen zwingend ihre Verantwortung gegenüber den Lernenden endlich wahrnehmen, vor allem da es sich hierbei um besonders schutzbedürftige ArbeiterInnen handelt. Ansonsten werden Jugendliche weiterhin schutzlos der schamlosen Ausbeutung und Barbarei ausgesetzt.

Anonym
29.09.2022