Alan Woods‘ Geschichte der Philosophie – eine marxistische Perspektive ist erschienen! Dieser Leseleitfaden fasst kapitelweise die zentralen Aussagen des Buches zusammen und bietet für jeden Abschnitt eine Reihe von Verständnisfragen und Anregungen für die Diskussion.
Er eignet sich besonders für Lesekreise, unterstützt aber auch die individuelle Lektüre. Wir hoffen dass dieser Leitfaden GenossInnen und UnterstützerInnen, radikalen ArbeiterInnen und Jugendlichen helfen wird, sich die Ideen des Marxismus anzueignen.
Kaufe jetzt deine Ausgabe der Geschichte der Philosophie! Lies und diskutiere es mit deinen FreundInnen, KollegInnen und GenossInen und bewaffne dich mit einem tiefen Verständnis für das philosophische Erbe des Marxismus.
Man könnte sich fragen, warum wir uns mit dem Studium komplizierter Fragen aus der Naturwissenschaft und der Philosophie auseinandersetzen sollten. Für unser Alltagsleben brauchen wir das natürlich nicht, und auf den ersten Blick kann das Studieren eines Buches über die Geschichte der Philosophie ein wenig akademisch erscheinen. Wenn wir aber ein rationales Verständnis von der Welt, in der wir leben, bekommen wollen, dann kommen wir nicht umhin, uns intensiv mit Philosophie zu beschäftigen. Denn Philosophie ist nichts anderes als die Art und Weise, wie wir die Welt betrachten.
Menschen, die meinen, sie hätten keine Philosophie, werden zwangsläufig jene Ideen und vorgefassten Meinungen wiedergeben, die in der Gesellschaft oder dem Milieu, in dem sie leben, vorherrschend sind. Das Leben ist keine sinnlose Aneinanderreihung von Zufällen oder eine gedankenlose Routine, und es ist unsere Pflicht, uns mit Dingen zu beschäftigen, die über die unmittelbaren Probleme unseres Alltagslebens hinausgehen.
In diesem Buch behandelt Alan Woods die Entwicklung der Philosophie vom antiken Griechenland bis zu Marx und Engels. Die beiden hatten das Verdienst, das Beste aus den bis dahin bestehenden Denkrichtungen zu einer neuen philosophischen Weltanschauung zu formen. Die marxistische Philosophie nimmt die real existierende materielle Welt zu ihrem Ausgangspunkt, betrachtet sie jedoch nicht als statische, unbewegliche Realität. Sie sieht die Dinge in ihrer ständigen Veränderung mit eigenen Bewegungsgesetzen, die wir entdecken können.
Mit dieser Methode ist es MarxistInnen möglich, den Entwicklungsgang der Dinge zu analysieren (wie sie waren und wie sie geworden sind), und Perspektiven zu erstellen, wie sie sich in Zukunft wahrscheinlich entwickeln werden. Dabei haben wir es mit einem langen Prozess der Menschheitsgeschichte zu tun, der von der Urgeschichte über die Entstehung von Klassengesellschaften reicht und in dem die Menschen immer mehr Wissen über die Welt, in der wir leben, anhäuften.
Das Bedürfnis, die Welt zu verstehen, war anfangs eng mit dem Überlebenskampf der Menschen verknüpft. Mit der Entwicklung der Technik kam die Entwicklung des Geistes, und die Notwendigkeit, Naturphänomene, die über das Leben der frühen Menschenarten entschieden, erklären zu können. Über Millionen von Jahren begannen unsere Vorfahren mittels der Methode „Trial-and-Error“ bestimmte Beziehungen zwischen den Dingen zu erkennen. Sie begannen erste Abstraktionen zu entwickeln, das heisst sie verallgemeinerten auf der Grundlage ihrer Erfahrungen und praktischen Tätigkeit.
Die Abstraktionen der frühen Menschen hatten aber keinen wissenschaftlichen Charakter. Man muss sich darunter vielmehr ein zaghaftes Erkunden der Umwelt vorstellen, „wie die Eindrücke eines Kindes, Vermutungen und Hypothesen. Manchmal waren sie falsch, aber immer waren sie kühn und einfallsreich.“ Nichtsdestotrotz waren dies wichtige Versuche, gewissen Naturphänomenen auf den Grund zu gehen und diese rational zu erklären. Die Vorstellung, die Seele existiere getrennt vom Körper, stammt aus dieser frühen Epoche, als man zwischen Religion (Zauber), Kunst und Wissenschaft noch keinen Unterschied machte. Religiöse Erklärungen füllten die Leerstellen, die es mangels Wissen über die Naturgesetze gab.
Der Dualismus, mit dem die Seele vom Körper, der Geist von der Materie, das Denken vom Handeln, getrennt wurde, bekam einen gewaltigen Antrieb durch die Entwicklung der Arbeitsteilung ab einem gewissen Punkt der sozialen Evolution. Die Trennung in Kopf- und Handarbeit ist ein Phänomen, das mit der Spaltung der Gesellschaft in Klassen zusammenfällt. Erstmals in der Geschichte wurde eine Minderheit in der Gesellschaft freigestellt und musste sich nicht an der Arbeit zur Aufbringung der lebensnotwendigsten Güter beteiligen.
Die ersten menschlichen Versuche, die Welt und unsere Stellung darin, zu erklären, vermischten sich mit der Mythologie, wie sich an den verschiedenen Schöpfungsmythen zeigen lässt. Die wahre Geschichte des wissenschaftlichen Denkens beginnt, als die Menschen sich von mythologischen Vorstellungen lösten und versuchten, ein rationales Verständnis der Natur zu erlangen, das ohne göttliche Einmischung auskommt.
Die frühesten griechischen Philosophen repräsentieren den wirklichen Anfangspunkt der Philosophie, der zu Beginn durch und durch materialistisch war. Die ionischen Philosophen wie Thales, Anaximander und Anaximenes wandten sich von der Mythologie ab und bemühten sich darum, mittels Beobachtung der Natur selbst die allgemeinen Prinzipien vom Funktionieren der Natur herauszufinden.
Im Gegensatz dazu zeichnete sich die Herangehensweise der Pythagoreer dadurch aus, dass sie Zahlen und Mengenverhältnisse als ihren Ausgangspunkt nahmen. Trotz eines starken mystischen Elements machten sie wichtige Entdeckungen, die die Entwicklung der Mathematik ankurbelten. Diese Entwicklung der quantitativen Seite bei der Untersuchung der Natur war wichtig, und ohne sie wäre die Wissenschaft auf dem Niveau reiner Allgemeinplätze stehen geblieben. Das hatte aber wiederum gewisse Grenzen, da es unmöglich ist, die komplexen, dynamischen und widersprüchlichen Mechanismen der Natur auf statische, quantitative Formeln zu reduzieren.
Fragen und Diskussionspunkte:
Heraklit ist der erste, der den widersprüchlichen Thesen der ionischen Philosophen einen dialektischen Ausdruck gibt. Er ist in der Tat derjenige, der erstmals die Idee von der Einheit der Gegensätze klar ausarbeitet. Alle Dinge tragen einen Widerspruch in sich, der ihre Entwicklung antreibt. Ohne Widerspruch kann es keine Bewegung und somit auch kein Leben geben. „Alles fliesst“, war der grundlegende Gedanke dieser dialektischen Philosophie – einer dynamischen Sichtweise auf das Universum, dem exakten Gegenstück zur statischen, idealistischen Vorstellung der Pythagoreer.
Heraklits Philosophie stiess bereits zu seinen Lebzeiten auf grosse Skepsis und Feindseligkeit, denn sie stellte die Annahmen nicht nur der Religion und der hergebrachten Traditionen, sondern auch des „Hausverstands“, der nicht weiter als seine eigene Nasenspitze sieht, in Frage. Die Eleatische Schule repräsentierte eine Gegenreaktion auf diese Ansichten und behauptete das genaue Gegenteil von Heraklit: alles sei unveränderlich, Bewegung sei eine Illusion. Das waren die Annahmen von Zenon, der in seinen Paradoxa die Unmöglichkeit von Bewegung zu beweisen versuchte.
Die ersten Atomisten wie Anaxagoras waren insofern bedeutend, weil sie, gemäss der besten Tradition der ionischen Philosophen, auf Experimente und Beobachtungen setzten. Andere wie Leukipp und Demokrit legten die Idee dar, dass sich Materie aus einer unendlichen Anzahl kleiner, für unsere Sinne nicht wahrnehmbarer Partikel zusammensetzt. Das war eine überaus wichtige Verallgemeinerung und begründete den Atomismus, eine bemerkenswerte Vorwegnahme der modernen Wissenschaft. Epikur entwickelte diesen Gedanken weiter und vertiefte ihn, doch er lehnte den mechanistischen Determinismus seiner Vorgänger ab und betonte stattdessen die dialektische Beziehung zwischen Notwendigkeit und Zufall.
Ursprünglich verstand man unter dem Begriff „Dialektik“, vom griechischen Wort ‘dialektike’, die Kunst der Diskussion, die ihre höchste Form in den sokratischen Dialogen von Platon fand. Diese Methode ergab sich aus dem ganzen Charakter der Attischen Demokratie, in der eine Vielzahl von Persönlichkeiten den Aufstieg schafften und das öffentliche Leben beeinflussten, darunter mutige Freidenker, tiefschürfende Philosophen, aber auch skrupellose Demagogen. Als solche endeten auch die Sophisten, die ursprünglich Rationalisten und Freidenker waren und sich allen bestehenden Dogmen und jeder Orthodoxie widersetzten. Die Grundidee, die die Basis der Dialektik des Sophismus bildet, besagt, dass die Wahrheit vielseitig ist.
Ihre Schwäche lag darin, dass sie die objektive Welt der Subjektivität unterordneten und sie frei von jeder inhärenten Gesetzmässigkeit und von Notwendigkeiten sahen. Ordnung, Vernunft und Kausalität hatten demnach ihren Ursprung rein im erkennenden Subjekt. Alles wäre somit relativ. Nichtsdestotrotz, was hier bedeutsam ist, ist nicht der Gegenstand dieser Dialoge, sondern deren Methode. Hier sehen wir tatsächlich die Geburtsstunde der Logik, die ursprünglich die Handhabe von Wörtern (griechisch ‚logoi‘) bezeichnete. Mit anderen Worten, Logik und Dialektik waren ursprünglich dasselbe – eine Methode, um zur Wahrheit zu gelangen.
Im Gegensatz zu den früheren griechischen Philosophen, die generell Materialisten waren und ihren Ausgangspunkt im Studium der Natur hatten, wandte sich der Idealist Platon von der Welt der Sinne ab. Weder Experiment noch Beobachtung, sondern nur die reine Deduktion und Mathematik waren aus seiner Sicht der Weg zur Wahrheit, und Platons Kosmologie repräsentierte einen Rückschritt von wissenschaftlichem Denken zu pythagoreischem Mystizismus.
Fragen und Diskussionspunkte:
Aristoteles‘ Philosophie ist ein radikaler Bruch mit jener Platons. Anstatt gemäss der idealistischen Methode der Wirklichkeit den Rücken zuzuwenden und sich in eine Welt aus vollkommenen Ideen und Formen zurückzuziehen, geht Aristoteles von den konkret gegebenen Sinneseindrücken aus und leitet daraus die zugrundeliegenden Ursachen und Prinzipien ab.
Aristoteles sammelte aber nicht einfach nur Fakten. Indem er sich auf Informationen stützte, die er aus der objektiven materiellen Welt ableitete, ging er weiter und versuchte zu allgemeinen Schlüssen zu kommen. Er stützte sich auf die Erkenntnisse früherer Philosophien und unterzog diese einer Kritik. Insofern kann man ihn auch als ersten Historiker der Philosophie bezeichnen.
In seinem Werk Metaphysik liefert Aristoteles erstmals eine systematische Darstellung einiger grundlegender Kategorien der Dialektik. Diese Tatsache wird oft übersehen, da Aristoteles auch die Gesetze der formalen („aristotelischen“) Logik aufgestellt hat, die auf den ersten Blick im Widerspruch zur Dialektik zu stehen scheinen. In Wirklichkeit waren die Logik und die Dialektik für Aristoteles beides zulässige Denkweisen. Sein Schwerpunkt auf Forschung stimulierte seine Schüler zu fruchtbarer, praxisorientierter Forschungstätigkeit. Die umfangreichen Studien auf verschiedensten Gebieten legten die Basis für die Entwicklung einer Reihe von Wissenschaftsdisziplinen.
Sein flexibler, dialektischer Zugang und seine Betonung der Bedeutung von Beobachtung und Experiment ging für lange Zeit verloren. Die mittelalterlichen Scholastiker, die nur daran interessiert waren, den Lehrmeinungen der Kirche eine ideologische Grundlage zu liefern, konzentrierten sich auf seine Logik und interpretierten diesen Aspekt seines Denkens in einer leblosen, formalistischen Art und Weise.
Eine weitere philosophische Schule waren die Kyniker. Sie waren Anhänger von Diogenes, einem Schüler des Antisthenes, der wiederum ein Schüler des Sokrates war. Diogenes stellte seine Verachtung für jede Form der herrschenden Moralvorstellungen und Gepflogenheiten offen zur Schau. Andere trieben die Wunschvorstellung, „wie ein Hund zu leben“, auf die Spitze. Deshalb auch die Bezeichnung „Kyniker“, das sich vom griechischen Wort für Hund ableitet. Die ganze Idee, die sie vertraten, und die im völligen Gegensatz zu den Anschauungen der modernen Zyniker steht, lief auf eine Verachtung gegenüber weltlichen Dingen hinaus.
Diese Abwendung von der Welt, um sein Seelenheil zu finden, spiegelte die tiefgreifende soziale und kulturelle Krise wider, die sich aus dem Niedergang der griechischen Stadtstaaten ergab. Dies führte in der Folge zu einer völligen Abkehr von der Welt und einer völligen Leugnung der Möglichkeit, irgendetwas wirklich wissen zu können.
Während das Lykeion, in dem Aristoteles lehrte, wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse hervorbrachte, geriet die Akademie Platos in zunehmendem Masse unter den Einfluss des Skeptizismus, der die Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis der Wirklichkeit in Frage stellte. Dies markierte eine Degeneration vom objektiven Idealismus zu einem subjektiven Idealismus. Ähnlich wie beim späteren Niedergang des Römischen Imperiums haben wir es hier mit einer Gesellschaft zu tun, die wirtschaftlich, moralisch und intellektuell erschöpft war, was sich wiederum in einer allgemeinen Stimmung des Pessimismus und der Verzweiflung ausdrückte.
Fragen und Diskussionspunkte:
Der Aufstieg des Christentums erfolgte in einer Zeit der Umwälzungen und Veränderungen, die mit dem Zerfall der Sklavenhaltergesellschaft zusammenhing und sich in einer Krise der alten Moral, Philosophie und Religion ausdrückte. Das im Niedergang befindliche Römische Imperium war ein fruchtbarer Boden für die Verbreitung mystischer Ideen, was zum Teil die rasche Ausbreitung neuer Religionen aus dem Osten erklärt.
Die alten Tempel waren verwaist und die Menschen suchten nach einer Religion, die ihnen Trost spenden und eine Perspektive der Erlösung aus dem Elend bieten konnte. In diesem Kontext entfaltete die Vorstellung von einem göttlichen Erlöser, eines Heilands, offensichtlich eine sehr grosse Anziehungskraft. Und die Kirche bot jedem Menschen die Hoffnung auf Erlösung und das Versprechen auf ein Leben nach dem Tod.
Die frühen christlichen Gemeinden waren eine revolutionäre Bewegung, die sich auf die ärmsten und unterdrücktesten Schichten der Gesellschaft stützten. Die Gemeinschaft der Gläubigen fand ihren Ausdruck in der Form eines urtümlichen Kommunismus. Der Staat versuchte deshalb diese christliche Bewegung zu zerschlagen, was jedoch scheiterte. Stattdessen gewann das Christentum einen Massenanhang. Kaiser Konstantin, ein prinzipienloser Zyniker (nicht im philosophischen Sinne), kam zu dem Schluss, es wäre die bessere Taktik, die Christen zu neutralisieren, indem man ihre Führer, die Bischöfe, besticht und sie vereinnahmt.
Die Bischöfe konnten ihre Machtstellung schrittweise konsolidieren, was zur Herauskristallisierung einer privilegierten bürokratischen Schicht führte, die schlussendlich mit dem römischen Staat verschmolz. Als die neue Religion durch Kaiser Konstantin anerkannt wurde, verwandelte sie sich in ihr Gegenteil. Was als revolutionäre Bewegung der Armen und Unterdrückten begann, endete als eine vom Staat integrierte Kirche, die eine schreckliche Waffe in den Händen der Reichen und Mächtigen wurde. Anstelle der Vernunft predigten die Kirchenväter blinden Glauben. Die Wissenschaft wurde argwöhnisch betrachtet und als Erbe des Heidentums angesehen.
Fragen und Diskussionspunkte:
Mangels einer revolutionären Alternative führte der Niedergang der Sklavenhaltergesellschaft in Europa zu einem erschütternden kulturellen Verfall, dessen Auswirkungen jahrhundertelang anhielten. In dieser Epoche, die auch als Dunkles Zeitalter bezeichnet wird, gingen die wissenschaftlichen und künstlerischen Errungenschaften der Antike weitgehend verloren. Einzig in Byzanz, in Irland und vor allem in der islamischen Welt brannte das Feuer des Wissens weiter.
Der Aufstieg des Islam verwandelte das Leben von Millionen Menschen radikal. Mit seiner einfachen, gleichmacherischen Botschaft sprach die neue Religion vor allem die ärmsten und geknechtetsten Schichten der Bevölkerung an, die in den arabischen Invasoren Befreier und nicht Unterdrücker sahen. In seinen Anfängen repräsentierte der Islam eine revolutionäre Bewegung und das Erwachen der arabischen Nation.
Ähnlich wie die Einfälle der Goten im vierten und fünften Jahrhundert, zerschlugen die frühen Feldzüge der Araber das morsche Gerüst des kaiserlichen Staatsapparates. Das war die Voraussetzung für ein tiefreichendes geistiges und intellektuelles Erwachen im gesamten neuentstandenden Reich, nicht zuletzt bei den muslimischen Eroberern selbst. Auch wenn sogenannte Fundamentalisten in späterer Zeit den Islam immer wieder engstirnig und fanatisch zu interpretieren versuchten und unabhängiges, freies Denken verbieten wollten, so gab die islamische Revolution in ihren Anfängen der Kultur, der Kunst und der Philosophie doch einen gewaltigen Anstoss.
Auch im Laufe des Mittelalters kam jeglicher Fortschritt auf dem Gebiet der Mathematik einzig und allein ausserhalb von Europa durch die Inder (Trigonometrie) und die Araber (Algebra).
Fragen und Diskussionspunkte:
Nach dem Zusammenbruch des weströmischen Imperiums im fünften Jahrhundert begann in Europa ein dunkles Zeitalter, ein Rückfall in die Barbarei, der von einem tragischen Niedergang der Kultur gekennzeichnet war. All die immensen Fortschritte, die die Griechen und Römer auf den Gebieten der Kunst, Wissenschaft und Philosophie gemacht hatten, gingen für hunderte Jahre verloren. Die Menschheit musste fast ein Jahrtausend lang einen schmerzhaften Weg hinter sich bringen, um sie wieder zurückzuerlangen.
Allmählich erhob sich eine neue Gesellschaftsform auf den Trümmern des alten Systems. Sie stützte sich auf die Ausbeutung einer Bauernschaft, die zwar nicht mehr versklavt, aber unter ihren weltlichen und geistlichen Herren an das Land gebunden war. Die starre gesellschaftliche Hierarchie, die dieses Feudalsystem kennzeichnete, fand ihren ideologischen Ausdruck in den Dogmen der Kirche, die von den Menschen bedingungslosen Gehorsam gegenüber den offiziellen Interpretationen der Heiligen Schrift verlangte. Das Erbe der klassischen griechischen Philosophie war verloren gegangen und blühte in Westeuropa erst im 12. Jahrhundert teilweise wieder auf.
Da die Kirche über ein Kulturmonopol verfügte, konnte sich das intellektuelle Leben nur in diesem religiösen Rahmen abspielen. Über Jahrhunderte waren die Klöster, die unter der strengen Kontrolle der kirchlichen Bürokratie standen, die einzigen Bildungseinrichtungen. Aus der Sicht der mittelalterlichen Scholastiker war die Philosophie „die Dienstmagd der Theologie“. Wissenschaft im eigentlichen Sinn konnte unter diesen Bedingungen nur eine Randexistenz fristen.
Die mittelalterliche Theokratie fand ihren ideologischen Stützpfeiler in den Ideen des Kirchenlehrers Augustinus von Hippo, der als der einflussreichste Philosoph des Mittelalters gilt und der an den reaktionärsten Elementen des neuplatonischen Denkens anknüpfte. Seine Philosophie war eine Mischung aus christlichem Mystizismus und einer vulgären und dürftigen Form von Platons Idealismus. Mit seiner Theorie der Universalien legte Augustinus die Basis für einen Trend in der mittelalterlichen Philosophie, der verwirrenderweise als „Realismus“ bezeichnet wurde.
In der klösterlichen Bildungstradition war es Schülern nicht erlaubt zu sprechen, ja sie durften nicht einmal Fragen stellen. Doch auf den Universitäten stellte sich die Sache ganz anders dar. Dort waren offene Debatten über theologische Fragestellungen („Disputationen“) durchaus üblich. Diese zumindest ansatzweise Befreiung der Ideen beflügelte genauso wie die Übersetzung von wissenschaftlichen und philosophischen Texten aus dem Arabischen und aus dem Lateinischen auch die philosophischen Debatten.
Diese Entwicklung markierte die ersten Anfänge eines Prozesses, der zur Trennung von Philosophie und Wissenschaft einerseits und Religion andererseits führte. Nach Jahrhunderten der Dunkelheit, die sich über Europa gelegt hatte, schimmerte wieder ein Funken Licht durch. Auf dem Gebiet der Philosophie wurden die Widersprüche, die mit dem alten Augustinischen Paradigma nicht mehr zu erklären waren, immer offensichtlicher.
Denker wie Abaelard, dem Vater des Nominalismus, brachen mit der alten Denkweise und lehnten den Augustinischen Realismus ab. Diese Ideen bedeuteten eine radikale Abkehr von den herkömmlichen Glaubenssätzen der Kirche und liess der Vorstellung vom Übernatürlichen nur noch wenig Raum. Sie stellten eine existentielle Bedrohung für die ideologische Vormachtstellung der katholischen Kirche in der mittelalterlichen Gesellschaft dar, doch der Lauf der Geschichte war nicht mehr aufzuhalten.
Abaelards Erkenntnistheorie wurde allgemein anerkannt und durch die Wiederentdeckung von Aristoteles gestützt. Dazu kam der, wenn auch langsame, Fortschritt auf dem Gebiet der Wissenschaft, der die Schwachstellen in der Augustinische Gedankenwelt mehr und mehr zu Tage treten liess. In diesem Zusammenhang fand der Averroismus rasche Verbreitung. In Reaktion darauf kam es zu einem Versuch, die Ideen von Plato und Aristoteles zusammenzuführen, um so die vom Averroismus vertretene radikale Interpretation von Aristoteles zu bekämpfen. Der prominenteste Vertreter dieser neuen Geistesströmung war der berühmte mittelalterliche Scholastiker Thomas von Aquin, der zusammen mit anderen Scholastikern wie Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham einen einseitigen und oberflächlichen Materialismus entwickelte.
Im Grossen und Ganzen ging die Scholastik nicht über die Errungenschaften der klassischen griechischen Philosophie hinaus. Nichtsdestotrotz spielte sie eine wichtige Rolle bei der Wiederaneignung der Errungenschaften der Vergangenheit, was der Renaissance den Weg ebnete.
Fragen und Diskussionspunkte:
Die moderne Wissenschaft nimmt ihren Ausgang in der Renaissance, einer Epoche der geistigen und intellektuellen Wiedergeburt. Die Menschheit begann erneut die Natur ohne dogmatische Scheuklappen zu untersuchen. Sie eignete sich wieder die wundervollen Entdeckungen der klassischen griechischen Philosophie an, und die materialistische Weltanschauung der alten Ionier und der Atomisten wies der Wissenschaft den richtigen Weg. Diese Epoche war in jeder Hinsicht revolutionär.
Das Ptolemäische Weltbild, das die Erde ins Zentrum des Universums stellte, war nach den von Kopernikus und Kepler ausgearbeiteten heliozentrischen Theorien nicht mehr länger haltbar. Galileo Galileis Beobachtungen liessen nur wenig später keinen Stein mehr auf dem anderen. Doch es war Newtons Theorie der universellen Gravitation, die den endgültigen Bruch mit der alten, auf Aristoteles und Ptolemäus zurückgehenden Weltsicht vollzog.
Die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey revolutionierte das Studium des menschlichen Körpers und zerstörte die alten Mythen. Die Fortschritte in der Wissenschaft machten noch mehr als die logischen Disputationen der Philosophen die alten Vorstellungen unhaltbar. Beobachtung und Experiment wurden zur Norm, und in England entstand eine neue Denkrichtung, der Empirismus, dessen wichtigster Vertreter Francis Bacon war.
Der „englische“ Materialismus war eine gesunde Reaktion gegen die sterilen Methoden des bis dahin vorherrschenden Idealismus. Der philosophische Idealismus hatte der Wirklichkeit den Rücken zugekehrt und brachte eine Vielzahl von intellektuellen Kopfgeburten hervor, die er dann für wahr hält, einfach weil sie einer Reihe vorgefertigter Urteile entsprechen, die er als Axiome behandelt. Bacon hingegen drängt uns dazu, „die Natur zu imitieren, die nichts umsonst tut.“ Bezeichnenderweise bevorzugte Bacon den Atomisten Demokrit gegenüber Platon und Aristoteles.
Bacons Erkenntnistheorie war streng empirisch. Wie auch der schottische Theologe Duns Scotus leugnete er ausdrücklich die Existenz der „Universalien“. Er entwickelte die als Induktion bekannte Denkmethode, die bereits in den Werken des Aristoteles vorhanden ist. Man kann damit Dinge experimentell untersuchen, indem man von einer Reihe einzelner Tatsachen zu allgemeinen Sätzen übergeht. Als Gegenmittel gegen den trockenen Idealismus der Scholastiker war dies ein wichtiger Fortschritt. Der Methode waren jedoch enge Grenzen gesetzt und später wurde sie zu einem Hindernis für die Entwicklung des Denkens.
In den Schriften von Thomas Hobbes wurde der Materialismus des Francis Bacon auf eine systematischere Art und Weise weiterentwickelt. Im Vergleich zu Bacon ist die Methode von Hobbes ausgefeilter, doch gleichzeitig wird sie auch einseitiger, rigider, seelenloser, mit einem Wort, mechanistisch. Das war kein Zufall, wenn man bedenkt, dass die Wissenschaft, die sich in dieser Periode am schnellsten entwickelte, die Mechanik war.
John Locke setzte bei Hobbes an und erklärte, dass die Erfahrung die einzige Quelle der Ideen sei. Er lieferte den Beweis für Bacons grundlegendes Prinzip, dass der Ursprung aller menschlichen Erkenntnis die materielle Welt ist, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Locke ist der Philosoph des „gesunden Menschenverstands“.
Mit David Hume kehrt die empirische Philosophie wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Für Hume war die Wirklichkeit nur eine Reihe von Empfindungen, deren Ursachen uns nicht bekannt sind und die wir auch gar nicht erfassen können. Er entwickelte nur eine schon beim idealistischen Bischof Berkeley vorhandene Idee, nämlich dass es Ursache und Wirkung nicht gibt. Auf den britischen Inseln war der Weg zur weiteren Entwicklung der Philosophie nun versperrt. Zuvor aber hatte sie der Bewegung, die in Frankreich als Aufklärung bekannt wurde, noch einen starken Impuls gegeben. In der Aufklärung wiederum erlangte die materialistische Schule einen revolutionären Gehalt. In den Händen von Diderot, Rousseau, Holbach und Helvetius wurde die Philosophie zu einem Werkzeug der Gesellschaftskritik. Diese grossen Denker ebneten mit ihren Ideen dem revolutionären Sturz der feudalen Monarchie von 1789-93 den Weg.
Fragen und Diskussionspunkte:
Bis zur Revolutionierung der Philosophie durch Marx und Engels und ihrer Theorie der materialistischen Dialektik gab es keine weitere Entwicklung des Materialismus. Selbst Feuerbach ging über die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts nicht hinaus. Wir stehen somit einem der grössten Paradoxa in der Geschichte der Philosophie gegenüber: Die wirklich wesentlichen Fortschritte im Denken wurden nach Locke nicht von den Materialisten, sondern von den Idealisten gemacht. Sie waren frei von den selbstauferlegten Beschränkungen des Empirismus und gelangten daher zu einer ganzen Reihe genialer theoretischer Verallgemeinerungen, die jedoch allesamt einen fantastischen Charakter annahmen, weil sie von falschen Annahmen ausgingen.
Die Frage des Verhältnisses von Denken und Sein wurde von dem französischen Philosophen Descartes anders gestellt als von den englischen Empirikern. Sein Skeptizismus war im Gegensatz zum zynischen Pessimismus eines David Hume von lebhafter und positiv gestimmter Natur. Descartes ist einer der wichtigsten Protagonisten im Kampf zwischen Rationalismus und Empirismus, zwischen der Methode der Deduktion und jener der Induktion. Die Rationalisten gingen von einem ganz anderen Standpunkt aus an die Wissenschaft heran als die Empiriker. Descartes beschäftigte sich viel mehr mit den allgemeinen Prinzipien und weniger mit dem Beobachten von Details.
Die konsequent materialistische Position ist: Das Denken ist denkende Materie. Er kann nicht für sich allein, getrennt von der Materie, existieren. In dieser entscheidenden Frage nahm Descartes eine unbefriedigende und in sich nicht schlüssige Position ein, was zu einer Reihe von Widersprüchen führte. Der grundlegende Unterschied zwischen dem Gedanken und Materie war, wie er meinte, dass sich die Materie im Raum ausbreitet, während der Gedanke, der Geist, die Seele das nicht tun. Das führt aber auf direktem Weg zu einer dualistischen Anschauung, in der Gedanke und Materie einander diametral entgegengesetzt sind.
Trotz ihrer Schwächen hatte Descartes‘ Philosophie eine progressive Seite, und sein Werk stimulierte die Naturwissenschaften in Frankreich. Sein Idealismus wurde erst durch die in der Aufklärung vorherrschende materialistische Strömung überwunden, auch wenn er Aufklärer wie La Mettrie stark beeinflusste. Doch ausserhalb Frankreichs markierten seine Ideen den Ausgangspunkt für zwei der grössten Philosophen aller Zeiten: Spinoza und Leibniz.
Spinoza zeichnete für eine echte Revolution in der Philosophie verantwortlich. Er knüpfte an den Ideen von Descartes an, transformierte sie aber grundlegend und legte so die Basis für eine wirklich wissenschaftliche Herangehensweise an die Natur. Indem er die engen Grenzen der empirischen Philosophie nicht akzeptierte, war es ihm möglich, die Grenzen der mechanistischen Wissenschaft mittels grosser Hypothesen zu überwinden.
Spinoza brach mit Descartes und dessen Vorstellung von einem Körper ohne Seele und einer Seele ohne Körper und entwickelte stattdessen die Idee, dass Körper und Geist zwei Eigenschaften von ein und demselben Ding sind. Das Universum besteht somit nicht aus Materie und Geist, wie dies der Descartsche Dualismus annimmt. Ihm zufolge gibt es nur eine einzige Substanz, die alle Attribute des Denkens und Seins in sich trägt. Sie ist unendlich und ewig, und sie beinhaltet das Potential, all die Phänomene hervorzurufen, die wir im Universum sehen.
Spinoza nennt diese Substanz „Gott“. Doch man schafft Gott in Wirklichkeit ab, wenn man ihn mit der Natur gleichsetzt. In Spinozas unendlichem und ewigem, folglich nicht erschaffenem und nicht von Himmel oder Hölle begrenztem Universum gibt es keinen Raum für eine gesonderte Gottheit, keinen Platz für irgendetwas anderes als „Substanz“, was lediglich ein anderer Name für Natur ist.
Das ist die Philosophie von Spinoza, die kurioserweise trotz ihrer idealistischen Erscheinung den eigentlichen Ausgangspunkt für den Materialismus im dialektischen, das heisst nicht-mechanischen, Sinne des Wortes darstellt. Man muss nur das Wort „Gott“ durch „Materie“ ersetzen und wir bekommen eine völlig konsistente materialistische Position.
Die monistischen Sichtweisen von Spinoza wurden von seinem grossen Zeitgenossen Gottfried Leibniz herausgefordert. Obwohl er objektiver Idealist war, entwickelte Leibniz die Dialektik weiter. Die Grundlage von Spinozas Philosophie war die eine, universelle Substanz. Leibniz nimmt seinen Ausgangspunkt ebenfalls vom Begriff der Substanz, definiert diesen jedoch ganz anders – als das lebendig Tätige, als innere Bewegung und Energie. Leibniz betont die Vielfältigkeit der Welt, die sich für ihn aus einer unendlichen Anzahl von Substanzen zusammensetzt, die er „Monaden“ nennt.
Trotz der idealistischen Form haben wir hier den Keim einer tiefen Idee, einer dialektischen Naturauffassung, die auf Bewegung, unendlichen Wechselwirkungen, Veränderung und Entwicklung von niederen auf höhere Stufen beruht.
Wir sehen in den Werken von Descartes, Spinoza und Leibniz, wie geniale Schlussfolgerungen auf der Basis der Entwicklung der Wissenschaft gezogen wurden. Diese Errungenschaften wurden jedoch durch die Tatsache eingeschränkt, dass die Wissenschaft damals der traditionellen Philosophie noch untergeordnet war.
Fragen und Diskussionspunkte:
Mit Immanuel Kant sehen wir einen weiteren Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie. Als Kant seine philosophische Arbeit begann, steckte die Philosophie in Deutschland gerade in einer Sackgasse. Die genialen Geistesblitze, die das Denken von Leibniz kennzeichneten, ergaben noch keine kohärente Philosophie. Kant entwickelte eine Abwehrhaltung gegenüber der damals gängigen metaphysischen Spekulation, mit der man versuchte, die Geheimnisse des Universums nicht durch wissenschaftliche Beobachtung, sondern rein mithilfe abstrakten Denkens zu entschlüsseln.
In seinem Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft, versuchte Kant das Problem der Erkenntnis lösen. Dieses hatte zu einer Krise in der Philosophie geführt, die am deutlichsten im subjektiven Idealismus Berkeleys und im Skeptizismus Humes zum Ausdruck kam. Kant stellt sich die Frage, was wir überhaupt wissen können, und wie wir zu diesem Wissen kommen können. Das ist eine der zentralen Fragen der Philosophie – die Erkenntnistheorie oder Kognition („Epistemologie“).
Kant war der erste, der zwischen Verstand und Vernunft unterschied. Obwohl diese Kategorie bei Kant eine wichtige Rolle spielt, ist der Verstand die niedrigste Form rationalen Denkens. Er nimmt die Dinge, wie sie sind, und stützt sich darauf, die blosse Existenz zu verzeichnen und oberflächlich zu klassifizieren. Das ist die Grundlage der formalen Logik und des „gesunden Menschenverstandes“, der die Dinge für genau das hält, was sie zu sein scheinen.
Doch der Denkprozess geht nicht nur bis zum Verstehen und der unmittelbaren Sinneswahrnehmung. Um zu einem dialektischen Verständnis zu kommen, braucht es die Einmischung der Vernunft, die über das unmittelbar Gegebene hinausgeht, es in seine Bestandteile zerlegt und sie dann wieder zusammensetzt. Das ist die Aufgabe der Dialektik. Bis zu Kant war die Kunst der Dialektik praktisch verloren gegangen. Man hielt sie für blosse Spielerei und Sophistik, die „Logik des Scheins“. Kants grosses Verdienst war es, der Dialektik den ihr rechtmässigen Stellenwert in der Philosophie als einer höheren Form der Logik zurückzugeben.
Mit seinen „Antinomien“ zeigt Kant die Widersprüche im Denken auf. Beginnend mit den Gesetzen der formalen Logik, die er dann auf die Erfahrung anwendet, zeigt Kant in der Folge die sich daraus ergebenden Widersprüche auf. Kant nimmt das als Beweis dafür, dass wir das „Ding an sich“ nicht erfassen können, anstatt zu sehen, dass die Widersprüche objektiver Natur und in jedem Phänomen selbst vorhanden sind.
Kants Verdienst war es, die traditionellen Formen der Logik einer gründlichen Kritik zu unterziehen, was jedoch durch seine subjektivistische Sichtweise auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie getrübt wurde. Daraus resultieren seine grössten Schwächen – Mehrdeutigkeit, Inkonsistenz und Agnostizismus. Indem er keinen klaren Bruch mit der traditionellen Logik vollzieht, obwohl er ihre Grenzen aufzeigt, verstrickte sich Kant in einer Vielzahl von unlösbaren Widersprüchen. Das Problem der Subjekt-Objekt-Beziehung (des Verhältnisses von Denken und Sein) konnten erst Marx und Engels lösen, die darauf hinwiesen, dass alle Probleme der Philosophie in letzter Instanz durch die Praxis gelöst werden.
Fragen und Diskussionspunkte:
Für den Leser von heute stellen die Schriften von Hegel zahlreiche Schwierigkeiten dar, die sich grossteils daraus ergeben, dass Hegel ein Idealist war, und die Dialektik bei ihm in einer mystifizierten Form auftritt. Die geschichtliche Entwicklung erscheint hier in idealistischer Gestalt, als die Entwicklung des sich seiner selbst bewussten Verstandes (des Geistes).
Nichtsdestotrotz ist es möglich, Hegel mit einem materialistischen Standpunkt zu lesen, so wie es Marx tat, und so den rationalen Kern seines Denkens zum Vorschein zu bringen. In der Phänomenologie enthüllt das „Selbstbewusstsein“ seine Tätigkeit in vielerlei Hinsicht, durch Empfindung, Wahrnehmung und dann auch durch Gedanken. Darin sind die verschwommenen Umrisse der wirklichen Prozesse in Natur, Gesellschaft und menschlichem Denken erkennbar. Anders als frühere idealistische Philosophen interessierte sich Hegel lebhaft für die Vorgänge in der Natur, den Menschen und die menschliche Geschichte. Hinter seiner abstrakten Darstellungsweise verbirgt sich ein gewaltiges Wissen über alle Facetten der Geschichte, der Philosophie und des damaligen Standes der Wissenschaft.
Was an Hegels Philosophie wertvoll war, war weniger sein System als seine dialektische Methode. Seine Schriften sind nämlich zum Teil gerade deshalb so unzugänglich, weil er versuchte, die Dialektik, die er brillant entwickelte, in die Zwangsjacke eines willkürlich-idealistischen philosophischen Systems zu zwängen. Wenn sie nicht hineinpasste, griff er auf allerlei Ausflüchte und eigentümliche Argumentationsweisen zurück, die das Ganze äusserst verworren und undeutlich machen.
Nichtsdestotrotz war es Hegels grosses Verdienst, die Dialektik der Entwicklung des menschlichen Denkens aufgezeigt zu haben – von einer embyronalen Phase durch eine ganze Reihe von Stufen hindurch bis hin zur höchsten Stufe der Vernunft, zum Begriff. In der Hegelschen Ausdrucksweise ist es das Voranschreiten vom „Ansichsein“ zum „An-und-Fürsichsein“, also vom unentwickelten, impliziten Sein, zum entwickelten, expliziten Sein.
Das Herzstück dieser Philosophie ist ein dynamisches Weltbild, das die Dinge als lebendige Prozesse behandelt, nicht als tote Objekte; in ihren wesentlichen Zusammenhängen, nicht als getrennte Stückchen oder willkürliche Aufzählungen; als Ganzes, das grösser ist als die Summe seiner Teile. In Wirklichkeit besteht alles aus der Einheit von Quantität und Qualität, die Hegel Mass nannte. Es gibt nicht nur Veränderungen von Quantität zu Qualität, sondern auch den umgekehrten Prozess, bei dem eine Veränderung der Qualität eine Veränderung der Quantität bewirkt. Die kritischen Übergangspunkte von einem Zustand in einen anderen werden als Knotenpunkte in Hegels Linie der Massverhältnisse ausgedrückt.
Die Lehre vom Wesen ist der wichtigste Teil der Hegelschen Philosophie, denn hier erklärt er die Dialektik im Detail. Das menschliche Denken macht nicht bei dem unmittelbar Gegebenen in der Sinneswahrnehmung halt, sondern versucht darüber hinauszugehen und das Ding an sich zu erfassen. Der allen Dingen zugrunde liegende Widerspruch drückt sich in der Vorstellung von der Einheit der Gegensätze aus. Dialektisch gesehen, sind sich scheinbar gegenseitig ausschliessende Phänomene tatsächlich voneinander untrennbar.
Hegel war nicht angetreten, alle bisherige Philosophie zu negieren. Es ging ihm darum, die früheren Denkrichtungen zusammenzufassen und zu einer dialektischen Synthese zu gelangen. Doch dabei trieb er die Philosophie an ihre Grenzen. Weiter konnte man die Philosophie nicht entwickeln, ohne sie in etwas anderes zu verwandeln.
Hegels Philosophie war in dem Sinn epochemachend, dass er, indem er die gesamte Geschichte der Philosophie in einer derart verständlichen Form zusammenfasste, ein Weiter wie bisher entlang der traditionellen philosophischen Denkrichtungen unmöglich machte. Die dialektische Methode, die er perfektionierte, legte die Grundlage für eine völlig neue Weltanschauung, die sich nicht auf die Analyse und Kritik von Ideen beschränkte, sondern auch eine Analyse der historischen Entwicklung der Gesellschaft und eine revolutionäre Kritik der herrschenden sozialen Ordnung nachsichzog.
Hegels Dialektik war eine brillante Schöpfung, scheiterte aber letztlich daran, dass sie auf den Bereich des Denkens beschränkt war. Dennoch war in ihr das Potenzial für einen grossen Umbruch im Denken enthalten, der nicht nur die Geschichte der Philosophie, sondern auch die ganze Welt radikal verändern sollte.
Fragen und Diskussionspunkte:
Nach Hegels Tod im Jahr 1831 löste sich seine Schule auf und wurde ein Opfer ihrer internen Widersprüche. Die Hegelsche Schule spaltete sich in zwei Flügel auf – einen rechten und einen linken, aus dem auch der Marxismus entstand. Der Marxismus ging aber einen eigenen Weg, der von dem, was man bis dahin unter Philosophie verstand, wegführte.
Die Frühschiften der Gründer des Wissenschaftlichen Sozialismus zeugen noch sehr deutlich von ihren hegelianischen Ursprüngen. Die wirkliche Abrechnung mit Hegel fand in den Schriften Die heilige Familie, Die deutsche Ideologie und ganz besonders in den berühmten Feuerbach-Thesen statt. Doch der Marxismus kam nicht in vollendeter Form zur Welt, so wie Athena dem Haupt des Zeus entsprang. Marx und Engels durchliefen zuerst die Schule der Linkshegelianer.
Die revolutionären Konsequenzen aus Hegels Philosophie waren bereits, wenn auch in einer verwirrten und noch idealistischen Form, in den Schriften der Linkshegelianer implizit. Um diese Ansätze weiterzuentwickeln, musste Marx Hegel vom Kopf auf die Füsse stellen: es brauchte den völligen Bruch mit dem Idealismus und einen Übergang zum Materialismus. Die Linkshegelianer waren dazu nicht in der Lage. Diese Aufgabe fiel Marx und Engels zu, die deren philosophische Ideen einer vernichtenden Kritik unterzogen. Sie vernichteten die subjektiv-idealistische Konzeption von Bewusstsein und erklärten, dass die Realität, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, unabhängig vom Bewusstsein des Beobachters existiert. Sie wiesen darauf hin, dass die Welt auch dann existiert, wenn das Subjekt nicht anwesend ist und sie nicht wahrnehmen kann.
In der Heiligen Familie wird die Kritik der „kritischen Kritik“ systematisch entwickelt. Marx und Engels weisen hier nach, dass Bauers subjektivistische Philosophie nur die Grundidee der Phänomenologie des Geistes zu Ende führt: Die Substanz muss sich zum Selbstbewusstsein aufschwingen.
Die Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus gingen nicht von solchen leblosen Abstraktionen, sondern von echten, materiellen Menschen aus, Menschen in der Gesellschaft, in der wirklichen Geschichte, nicht in der Geisterwelt des idealistischen „Selbstbewusstseins“.
Es war jedoch die tragische Figur des Ludwig Feuerbach, der als erster Hegel von einem materialistischen Standpunkt aus herausforderte. Er entschied sich dafür, seine Axt an die Wurzeln des Idealismus anzulegen, indem er sich mit seinem Buch Das Wesen des Christentums gegen die Religion wandte. Die Veröffentlichung dieses epochemachenden Werkes im Jahre 1841 hatte revolutionäre Konsequenzen. Feuerbachs materialistische Sicht auf die Religion bedeutete einen wichtigen Schritt vorwärts. Damit hatte er den Weg zu einem endgültigen Bruch mit dem Idealismus aufgezeigt.
Feuerbachs Ideen markierten eine regelrechte Revolution auf dem Gebiet der Philosophie und sie hatten einen grossen Einfluss auf das Denken der damals noch jungen Marx und Engels. Doch letztendlich scheiterte auch Feuerbach mit seinem Ansatz. Für ihn war das menschliche Bewusstsein in erster Linie eine Widerspiegelung der Natur, wobei er auch betonte, dass der Mensch seine eigene Wesensart und seine Beziehung zu anderen zu verstehen gelernt hat. Seine Schlussfolgerungen sind jedoch extrem schwach. Seine einzigen Alternativen zur Herrschaft der Religion waren Bildung, Moral, Liebe und sogar eine neue Religion. Feuerbach führte die Entfremdung des Menschen auf die Religion zurück, aber damit liess er den eigentlichen Ursprung der Entfremdung völlig ausser acht – die Entfremdung der Arbeit von sich selbst in Gestalt des Mehrwerts im Prozess der kapitalistischen Produktion.
Das Problem bei Feuerbach ist, dass er Hegel und dessen Philosophie negiert, indem er sie einfach nur ablehnt. Sein grösster Fehler war, dass er das Kind mit dem Bade ausschüttete. Indem er Hegels Philosophie zurückwies, lehnte er aber auch ihren vernünftigen Kern ab – die Dialektik. Das erklärt den einseitigen Charakter von Feuerbachs Materialismus, was letztlich auch zu seinem Untergang führte.
Erst Marx war imstande, den rationalen Kern in Hegels Logik zu erkennen und diesen auf die reale, materielle Welt anzuwenden. Marx erklärte auch, der Fehler in Feuerbachs s.g. „anthropologischem Materialismus“ liege darin, dass hier das Individuum abstrakt aufgefasst wird. Aber die wirkliche menschliche Tätigkeit, die Arbeit, ist keine Tätigkeit vereinzelter Individuen. Sie erfolgt gemäss ihrem Wesen notwendigerweise kollektiv.
Genau an diesem Punkt sind wir jedoch an einem Scheideweg angelangt, der wegführt von den Pfaden, in denen sich die Philosophie bislang bewegt hat. Seinen Ausdruck findet diese Entwicklung in der wohl wichtigsten „Feuerbachthese“ von Marx: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt drauf an, sie zu verändern.” Hier hört philosophisches Denken – die höchste und erhabenste Errungenschaft des menschlichen Geistes – erstmals auf, eine rein kontemplative Tätigkeit zu sein und wird zu einer gewaltigen Waffe im Kampf für eine andere Gesellschaft.
Am Ende dieser Arbeit über die Geschichte der Philosophie ist es wichtig zu betonen, dass der Marxismus nicht nur eine Frage von Politik und Ökonomie ist. Das Herzstück des Marxismus ist die Philosophie des dialektischen Materialismus. Leider hat die immense Arbeit, die das Verfassen des Kapitals verschlungen hatte, Marx daran gehindert, ein umfassendes Werk zu diesem Thema zu schreiben, wie er es beabsichtigt hatte.
Fragen und Diskussionspunkte:
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