Der dritte Teil der Serie von Alan Woods befasst sich mit der Entwicklung der Klassengesellschaft, insbesondere der Sklavenhaltergesellschaft. Hier geht es zu Teil 1 und Teil 2. Das englische Original ist auf marxist.com zu finden.
Das wirkliche Wachstum der Zivilisation tritt in Ägypten, Mesopotamien, dem Indus-Tal, China und Persien auf. Anders ausgedrückt: Die Entwicklung der Klassengesellschaft fällt zusammen mit dem ungeheuren Aufschwung der Produktivkräfte und mit einer menschlichen Kultur, die unvorhergesehene Höhen erreichte.
Man geht heute davon aus, dass Städte und davor die Landwirtschaft in etwa zur selben Zeit, im vierten Jahrtausend v. Chr., an verschiedenen Orten – Mesopotamien, dem Indus-Tal, dem Huang-Ho-Tal und auch Ägypten – entstanden. In Süd-Mesopotamien bauten die Sumerer Ur, Lagaš, Eridu und andere Stadtstaaten. Sie waren gebildete Menschen, die tausende Tontafeln hinterliessen, die mit Keilschrift beschrieben wurden. Die Hauptmerkmale der asiatischen Produktionsweise sind:
Obwohl die Sklaverei (Sklaven waren Kriegsgefangene) existierte, handelte es sich nicht wirklich um Sklavenhaltergesellschaften. Arbeitsdienste waren nicht umsonst, die sie verrichteten, waren aber keine Sklaven. Es gab ein Element des Zwangs, aber wichtiger waren Gewohnheit, Tradition und Religion. Die Gemeinschaft dient dem Gottkönig beziehungsweise der Gottkönigin. Sie dient dem Tempel, etwa in Israel. Dieser ist mit dem Staat verbunden und ist der Staat.
Die Ursprünge des Staates sind hier mit der Religion vermischt, und diese religiöse Aura wird bis zum heutigen Tag aufrechterhalten. Die Leute werden dazu erzogen, zum Staat mit einem Gefühl von Ehrfurcht und Verehrung aufzublicken, als einer Macht, die über der Gesellschaft und den gewöhnlichen Menschen steht, die ihr blind zu dienen haben.
Die Dorfgemeinschaft, die Grundeinheit dieser Gesellschaften, lebt beinahe vollkommen autark. Die wenigen Luxusgüter, die einer bäuerlichen Bevölkerung zur Verfügung stehen, werden auf dem Basar oder von reisenden Hausierern, die am Rande der Gesellschaft leben, erworben. Geld ist kaum bekannt. Steuern an den Staat werden in Naturalien bezahlt. Es gibt keine Verbindungen zwischen den einzelnen Dörfern und der interne Handel ist schwach entwickelt. Der Staat hält dieses Gefüge zusammen.
Es bestand beinahe keine soziale Mobilität, was in einigen Fällen durch ein Kastensystem bestärkt wurde. Die Gruppe ist gegenüber dem Individuum höhergestellt. Endogame Ehen herrschen vor, das heisst die Menschen heiraten ausschliesslich innerhalb der Klasse oder der Kaste. Üblicherweise ergreifen die Kinder den Beruf der Eltern. Im Kastensystem der Hindus ist dies sogar verpflichtend. Diese fehlende Mobilität und soziale Starre helfen, die Menschen an das Land, die Dorfgemeinschaft, zu binden.
Beispiele für derartige Gesellschaften sind die Ägypter, Babylonier, die Assyrer, die Shang- oder Ying-Dynastie (von 1766 bis 1122 v.Chr.), die erste überlieferte chinesische Dynastie, und schliesslich die Zivilisation im Indus-Tal, Harappa, die von 2300 bis ca. 1700 v.Chr. andauerte. Eine gänzlich eigenständige Entwicklung nahmen die vorspanischen Zivilisationen in Mexiko und Peru, die trotz einiger Unterschiede erstaunlich ähnliche Merkmale aufweisen.
Das Steuersystem und andere Ausbeutungsmethoden wie der Frondienst (Corvée) für den Staat sind zwar unterdrückerisch, werden aber als unvermeidlich und als natürliche Ordnung hingenommen, unterstützt von den Traditionen und der Religion. Corvée ist unfreie und oft unbezahlte Arbeit, die den Menschen entweder, wie im Feudalismus, von aristokratischen Landbesitzern, oder aber wie in diesem Fall vom Staat auferlegt wird. Während das Corvée-System dem Frondienst im westlichen Feudalismus ähnelt, haben die jeweiligen Systeme des Landeigentums nichts miteinander gemein. Tatsächlich hatten die britischen Herrscher bei der Kolonialisierung Indiens die grössten Schwierigkeiten, es zu verstehen.
Ortschaften und Städte entstehen gewöhnlich entlang der Handelsrouten, an Flussufern, an Oasen oder anderen wichtigen Wasserquellen. Die Städte sind Verwaltungs- und Handelszentren für die Dörfer. Hier sind Händler und Handwerker: Eisenformer, Zimmerleute, Weber, Färber, Schuhmacher, Steinmetze usw. Auch die lokalen Vertreter der Staatsmacht leben hier, die einzigen Berührungspunkte der Masse der Bevölkerung mit ihr: niedrige Beamte, Schreiber und Polizisten oder Soldaten.
Es gibt auch Geldverleiher, die von den Bauern Wucherzinsen verlangen, aber selbst wiederum von den Steuereintreibern, den Kaufleuten und den Dorfwucherern geschröpft werden. Viele dieser uralten Elemente haben in einigen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und in Asien bis in die moderne Zeit überlebt. Aber das Aufkommen des Kolonialismus zerstörte die alte asiatische Produktionsweise ein für alle Mal. Sie hatte auf jeden Fall keine historische Zukunft, weil aus ihr heraus keine weitere Entwicklung möglich war.
In diesen Gesellschaften ist der geistige Horizont der Menschen extrem begrenzt. Die bestimmende Macht im Leben der Menschen ist die Familie oder die Sippe, welche sie alles über ihre Geschichte, Religion und Traditionen lehrt. Sie wissen wenig bis gar nichts von der Politik und der Welt im Allgemeinen. Den einzigen Kontakt mit dem Staat haben sie über den Dorfvorsteher, der die Steuern einsammelt.
Was bei diesen frühen Zivilisationen auffällt, sind einerseits ihre Langlebigkeit, andererseits die extrem langsame Entwicklung ihrer Produktivkräfte und die ausgesprochen konservative Weltsicht. Es handelte sich um ein sehr statisches Gesellschaftsmodell. Die einzigen Veränderungen vollzogen sich als Ergebnis regelmässiger Invasionen, zum Beispiel durch nomadische Barbaren (den Mongolen) oder gelegentliche Bauernaufstände (China), die zum Wechsel der Dynastie führten.
Die Ersetzung einer Dynastie durch eine andere bedeutete jedoch keine wirkliche Veränderung. Die sozialen Beziehungen und der Staat blieben durch den Wechsel an der Spitze unberührt. Das Endergebnis war immer das Gleiche. Die Eindringlinge wurden von der Gesellschaft aufgesogen und das System lief ungestört weiter wie zuvor.
Imperien stiegen auf und fielen. Es gab einen ständigen Prozess von Zusammenschlüssen und Teilungen. Aber trotz all dieser politischen und militärischen Verschiebungen veränderte sich für die Bauern am unteren Ende der Gesellschaft nichts. Das Leben schritt mit scheinbar ewiger (und Gott gegebener) Routine voran. Die asiatische Vorstellung von einem ewigen Kreislauf in der Religion ist eine Widerspiegelung ihrer Umstände. Unten hatten wir die alte Dorfgemeinschaft auf Grundlage einer Subsistenzwirtschaft, die nahezu unverändert Jahrtausende überlebte. Da sie vorwiegend agrarisch war, wird der Lebensrhythmus der Menschen vom ewigen Kreislauf der Jahreszeiten, etwa den jährlichen Nilüberflutungen, bestimmt.
In den letzten Jahren gab es in gewissen intellektuellen und pseudomarxistischen Zirkeln viel Aufhebens um die asiatische Produktionsweise. Aber obwohl Marx sie erwähnte, geschah das nicht sehr oft und dann nur als Randbemerkung. Er entwickelte sie nie weiter, was er mit Sicherheit getan hätte, wenn er sie für bedeutend gehalten hätte. Der Grund dafür war, dass sie eine historische Sackgasse war, vergleichbar mit den Neandertalern in der menschlichen Evolution. Es handelte sich um eine Gesellschaftsform, die trotz ihrer Errungenschaften, letztlich nicht den Samen zukünftiger Entwicklung in sich trug. Dieser wurde woanders gepflanzt, nämlich auf dem Boden von Griechenland und Rom.
Die griechische Gesellschaft wurde unter anderen Bedingungen geschaffen als die früheren Zivilisationen. Den kleinen griechischen Stadtstaaten fehlten die grossen Flächen für kultivierbares Land, die grossen Nilebenen, das Indus-Tal oder Mesopotamien. Sie waren umgeben von unfruchtbaren Gebirgszügen mit Zugang zum Meer. Diese Umstände bestimmten den gesamten Kurs ihrer Entwicklung. Da das Land für Landwirtschaft und Industrie ungeeignet war, wurden sie aufs Meer gedrängt und Griechenland wurde eine Handelsnation und Vermittler, wie vor ihnen die Phönizier.
Das antike Griechenland hat eine andere sozioökonomische Struktur und somit ein anderes Temperament und eine andere Weltsicht als die früheren Gesellschaften Ägyptens und Mesopotamiens. Hegel schreibt, dass im Osten der herrschende Geist die Freiheit des Einen (des Königs, Gottkönigs) bedeutete, aber in Griechenland die Freiheit der Vielen, d. h. die Freiheit der Bürger Athens, die keine Sklaven waren. Die Sklaven jedoch, welche die meiste Arbeit verrichteten, hatten überhaupt keine Rechte, ebenso wenig die Frauen und Ausländer.
Für die freien Bürger war Athen eine ausgesprochen fortschrittliche Demokratie. Dieser neue Geist, durchdrungen von Menschlichkeit und Humanismus, wirkte sich auf die griechische Kunst, Religion und Philosophie aus, die sich qualitativ von der in Ägypten und Mesopotamien unterschied. Als Athen ganz Griechenland beherrschte, hatte die Stadt weder eine Staatskassa noch ein regelmässiges Steuersystem. Damit unterschied sie sich gänzlich vom asiatischen System in Persien und anderen frühen Hochkulturen. Aber alles basierte letztendlich auf Arbeit der Sklaven, die Privateigentum waren.
Die Haupttrennlinie bestand zwischen freien Männern und Sklaven. Die freien Bürger zahlten normalerweise keine Steuern, was, genau wie die Handarbeit, als erniedrigend angesehen wurde. Trotzdem gab es in der griechischen Gesellschaft einen erbitterten Klassenkampf, der durch eine scharfe Trennung auf Grundlage des Eigentums zwischen den Klassen gekennzeichnet war. Die Sklaven, die als bewegliches Gut ge- und verkauft werden konnten, waren Produktionsobjekte. Das römische Wort für Sklave war instrumentum vocale, ein „Werkzeug mit Stimme“. Trotz aller Veränderungen der letzten 2000 Jahre hat sich die tatsächliche Lage der modernen LohnsklavInnen seit damals nicht grundlegend geändert. Man könnte einwenden, dass Griechenland und Rom auf Sklaverei beruhten, einer abscheulichen und unmenschlichen Einrichtung. Aber MarxistInnen betrachten die Geschichte nicht aus moralischer Sicht. Abgesehen von allem anderen gibt es nicht so etwas wie eine „überhistorische Moral“. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Moral, Religion, Kultur usw., welche einem bestimmten Entwicklungsniveau entsprechen und zumindest im Zeitalter, das wir Zivilisation nennen, auch den Interessen einer bestimmten Klasse.
Ob ein bestimmter Krieg, gut, schlecht oder gleichgültig war, kann nicht anhand der Opfer festgestellt werden und noch weniger ausgehend von einem abstrakt moralischen Standpunkt. Wir mögen Kriege im Allgemeinen ablehnen, aber eines können wir nicht leugnen: Im gesamten Verlauf der menschlichen Geschichte sind alle schwierigen Fragen letztendlich durch Krieg gelöst worden. Das gilt sowohl für Konflikte zwischen Nationen (Kriege), aber auch für Klassenkonflikte (Revolutionen).
Unsere Haltung gegenüber einer speziellen Gesellschaftsform und deren Kultur kann nicht durch moralische Überlegungen bestimmt werden. Ob eine sozio-ökonomische Gesellschaftsform progressiv ist oder nicht, ist zuallererst von deren Fähigkeit zur Entwicklung der Produktivkräfte abhängig – der realen materiellen Basis, auf welcher die gesamte menschliche Kultur sich erhebt und entwickelt.
Der brillante, tiefgründige Denker Hegel schreibt: „Es ist die Menschheit nicht sowohl aus der Knechtschaft befreit worden, als vielmehr durch die Knechtschaft.“ Trotz ihres monströsen repressiven Charakters war die Sklavenhaltergesellschaft ein Schritt vorwärts, da sie die weitere Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkraft ermöglichte. Wir verdanken Griechenland und Rom all die wundervollen Errungenschaften der modernen Wissenschaften, oder genauer gesagt verdanken wir diese letztlich der Arbeit der Sklaven.
Die Römer wandten brutale Gewalt bei der Unterjochung anderer Völker an, verkauften ganze Städte in die Sklaverei, töteten tausende Kriegsgefangene zum Vergnügen bei öffentlichen Zirkusveranstaltungen und führten so kultivierte Hinrichtungsmethoden wie die Kreuzigung ein. All das stimmt, und für uns scheint dies eine monströse Fehlentwicklung gewesen zu sein. Aber wenn wir darüber nachdenken, woher unsere moderne Zivilisation, unsere Kultur, unsere Literatur, unsere Architektur, unsere Medizin, unsere Philosophie und in vielen Fällen unsere Sprache ihre Wurzeln haben, lautet die Antwort: Aus Griechenland und Rom.
Die Sklavenhaltergesellschaft enthält einen inneren Widerspruch, der zu ihrer Zerstörung führte. Obwohl die Arbeit des einzelnen Sklaven aufgrund des Arbeitszwangs nicht besonders produktiv war, so produzierten grosse Mengen an Sklaven dennoch einen beträchtlichen Überschuss, beispielsweise in den Bergwerken und auf den Latifundien (grosse Landgüter) in der letzten Periode der Römischen Republik und dem Imperium. Auf dem Höhepunkt des Imperiums gab es reichlich Sklaven, und diese waren billig, da die Kriege Roms in erster Linie grossangelegte Sklavenjagden waren.
Aber ab einem gewissen Stadium erreichte dieses System seine Grenzen und trat in eine lange Periode des Niedergangs ein. Da Sklavenarbeit nur produktiv ist, wenn sie massenhaft angewandt wird, ist die Grundvoraussetzung für ihren Erfolg eine reichliche Versorgung mit billigen Sklaven. Aber Sklaven vermehren sich in der Gefangenschaft nur sehr langsam, und so konnte die ausreichende Versorgung mit Sklaven nur durch ständige Kriege garantiert werden. Als das Imperium die Grenzen seiner Expansion unter Hadrian erreicht hatte, wurde das immer schwieriger.
Der Beginn einer Krise kann in Rom bereits im letzten Zeitraum der Republik beobachtet werden, einer Periode, die durch intensive soziale und politische Erhebungen und Klassenkrieg gekennzeichnet ist. Von Beginn an gab es in Rom einen brutalen Kampf zwischen Arm und Reich. Es gibt detaillierte Aufzeichnungen in den Schriften von Livius und anderen über die Kämpfe zwischen Plebejern und Patriziern, die mit einem faulen Kompromiss endeten. Später, als Rom nach dem Sieg über seinen grössten Rivalen Karthargo bereits den Mittelmeerraum beherrschte, beobachten wir, was im Grund ein Kampf um die Aufteilung der Beute war. Tiberius Gracchus forderte, dass der Wohlstand von Rom unter seinen freien Bürgern aufgeteilt werden sollte. Sein Ziel war es, aus Italien eine Republik kleiner Bauern, und nicht von Sklaven, zu machen, aber er wurde von den Adeligen und Sklavenhaltern besiegt. Langfristig war das für Rom katastrophal. Die arme Bauernschaft – das Rückgrat der Republik – zog nach Rom, wo sie ein Lumpenproletariat bildete, eine nichtproduktive Klasse, die von staatlicher Unterstützung lebte. Obwohl sie grosse Verbitterung gegenüber den Reichen empfangen, zeigten sie trotzdem ein gemeinsames Interesse an der Ausbeutung der Sklaven – der einzigen produktiven Klasse im Zeitalter der Republik und des Römischen Weltreichs.
Der grosse Sklavenaufstand unter Spartacus war eine glorreiche Episode in der Geschichte der Antike. Dass diese unterdrückten Menschen sich mit Waffen in der Hand erhoben und den Armeen der weltgrössten Macht eine Niederlage nach der anderen zufügten, ist eines der unglaublichsten Ereignisse in der Geschichte. Wenn der Aufstand erfolgreich gewesen wäre und sie den römischen Staat gestürzt hätten, wäre der Verlauf der Geschichte ein ganz anderer gewesen.
Der Hauptgrund für Spartacus‘ Scheitern lag schliesslich in der Tatsache begründet, dass die Sklaven sich nicht mit dem Proletariat in den Städten verbündeten. Solange letztere den Staat weiter unterstützen, war der Sieg der Sklaven nicht möglich. Das römische Proletariat war, anders als das moderne Proletariat, keine produktive Klasse, sondern eine rein parasitäre, die von der Arbeit der Sklaven lebte und von ihren Herren abhängig war. Darin beruht das Scheitern der römischen Revolution.
Die Niederlage der Sklaven führte zum Ruin des römischen Staates. Da es keine freie Bauernschaft gab, war der Staat bei der Kriegsführung auf eine Söldnerarmee angewiesen. Diese Pattsituation im Klassenkampf brachte ein Phänomen hervor, das dem des modernen Bonapartismus ähnlich ist. Dessen römisches Äquivalent wird als Cäsarismus bezeichnet.
Der römische Legionär verhielt sich nicht länger loyal gegenüber dem Staat, sondern gegenüber seinem Kommandanten, der seinen Sold zahlte, seine Beute und sein Stück Land nach seinem Ausscheiden aus der Armee garantierte. Der letzte Zeitabschnitt der Republik ist gekennzeichnet durch einen zunehmenden Klassenkampf, bei dem keine Seite in der Lage ist, einen entscheidenden Sieg zu erringen. Als Folge begann der Staat (den Engels als „besondere Formation bewaffneter Menschen“ beschrieb) eine wachsende Unabhängigkeit zu erlangen, sich über die Gesellschaft zu erheben und als letzte Entscheidungsinstanz bei den wachsenden Machtkämpfen in Rom zu erscheinen.
Eine ganze Reihe militärischer Abenteurer betreten die Bühne: Marius, Crassus, Pompeius und schliesslich Julius Cäsar, ein brillanter General, ein kluger Politiker und ein ausgebuffter Geschäftsmann, der die Republik praktisch abschaffte, während er sie in Worten verteidigte. Er nutzte sein Ansehen, das durch seine militärischen Triumphe in Gallien, Spanien und Britannien gestiegen war, um alle Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Obwohl er durch eine konservative Fraktion, welche die Republik erhalten wollte, ermordet wurde, war das alte Regime dem Untergang geweiht.
Nachdem Brutus und die anderen durch das Triumvirat besiegt worden waren, wurde die Republik formal anerkannt und dieser Schein wurde durch den ersten Kaiser Augustus beibehalten. Der Titel Kaiser (Imperator im Lateinischen) ist ein militärischer Titel, um den Titel König, der in republikanischen Ohren eine Beleidigung war, zu vermeiden. Aber er war ein König, in allem, ausser seinem Namen. Die Formen der alten Republik überlebten noch eine lange Zeit weiter. Aber sie bestand nur aus leeren Formen ohne wirklichen Inhalt, am Ende eine leere Hülse, die wie im Winde verweht werden konnte. Der Senat hatte keine wirkliche Macht und Autorität. Julius Cäsar hatte die respektable Öffentlichkeit schockiert, als er einen Gallier zum Senatsmitglied machte. Caligula ging noch weiter – er ernannte sein Pferd zum Senator. Niemand fand das falsch oder wenn doch, schwiegen sie.
Es passiert oft in der Geschichte, dass überholte Institutionen überleben können, lange nachdem ihre Existenzberechtigung verschwunden ist. Sie schleppen sich durchs Leben wie ein alter Mann, der sich ans Leben klammert, bis sie von einer Revolution weggefegt werden. Der Niedergang des Römischen Reiches dauerte beinahe vier Jahrhunderte. Es war kein ununterbrochener Prozess. Es gab Zeitabschnitte der Besserung und sogar der Brillanz, aber die generelle Tendenz zeigte nach unten.
In solchen Perioden verbreitet sich ein allgemeines Unbehaglichkeitsgefühl. Es herrscht eine Stimmung der Skepsis, Glaubensverlust und des Zukunftspessimismus vor. Die alten Traditionen, die alte Moral und Religion – Dinge, die wie guter Zement die Gesellschaft zusammenhalten – verlieren ihre Glaubwürdigkeit. Anstelle der alten Religion suchen die Menschen nach neuen Göttern. In einer Periode des Niedergangs wurde Rom von einer Plage religiöser Sekten aus dem Osten überschwemmt. Das Christentum war nur eine davon, und obwohl es sich schliesslich durchsetzte, musste es mit vielen Rivalen kämpfen, wie z. B. dem Mithraskult.
Wenn Menschen fühlen, dass die Welt, in der sie leben, ins Wanken gerät, dass sie die Kontrolle über ihre Existenz verlieren, dass ihr Leben und ihr Schicksal von unsichtbaren Kräften bestimmt wird, gewinnen mystische und irrationale Tendenzen die Oberhand. Die Menschen glauben, das Ende der Welt ist nahe. Die ersten Christen glaubten dies inbrünstig, viele andere vermuteten es. Tatsächlich ging nicht die Welt ihrem Ende entgegen, sondern eine besondere Gesellschaftsform – die Sklavenhaltergesellschaft. Der Erfolg des Christentums lag in der Tatsache begründet, dass es mit dieser herrschenden Stimmung in Einklang war. Die Welt war schlecht und sündhaft. Es war notwendig, sich von der Welt und all ihren irdischen Dingen abzuwenden und sich auf das Leben nach dem Tod zu freuen.
Als die Barbaren eindrangen, befand sich die gesamte Struktur des Römischen Reiches am Rande des Zusammenbruchs, nicht nur ökonomisch, sondern auch moralisch und spirituell. Es war kein Wunder, dass die Barbaren von den Sklaven und den ärmeren Schichten der Gesellschaft als Befreier begrüsst wurden. Sie brachten nur ein Werk zu Ende, das bereits gut vorbereitet worden war. Die Angriffe der Barbaren waren ein Zufall der Geschichte, der dazu diente, eine historische Notwendigkeit umzusetzen.
Sobald das Imperium seine Grenzen erreichte, begannen sich die der Sklaverei innewohnenden Widersprüche durchzusetzen. Rom trat in eine lange Phase des Niedergangs, der Jahrhunderte dauerte, bis es schliesslich von den Barbaren überrannt wurde. Völkerwanderung, was auch den Zusammenbruch des Imperiums bewirkte, war ein allgemeines Phänomen unter nomadischen Hirtenvölkern in der Antike und geschah aus verschiedenen Gründen, z. B. Mangel an Weideland aufgrund der wachsenden Bevölkerung, Klimaveränderungen usw. Aufeinander folgende Wellen von Barbaren rauschten aus dem Osten: Goten, Westgoten, Ostgoten, Alanen, Lombarden, Sueven, Alemannen, Burgunder, Franken, Thüringer, Friesen, Heruli, Gepiden, Angeln, Saxen, Jüten, Hunnen und Magyaren drängten nach Europa. Das allmächtige und ewige Imperium wurde in Asche verwandelt. Das römische Weltreich zerfiel mit bemerkenswerter Geschwindigkeit unter den Hammerschlägen der Barbaren.
Der Zerfall der Sklavenwirtschaft, die monströse repressive Natur des Imperiums mit seiner aufgeblähten Bürokratie und den räuberischen Steuerpächtern untergrub bereits das gesamte System. Es gab eine ständige Landflucht, wo die Grundlage für die Entwicklung einer anderen Produktionsweise – des Feudalismus – im Entstehen begriffen war. Das gesamte Bauwerk war ins Wanken geraten und die Barbaren gaben dem verrotteten und erstarrten System nur noch den Gnadenstoss. Im Kommunistischen Manifest schrieben Marx und Engels:
„Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (Marx, MEW Bd. 4, S. 260, Hervorhebung durch AW)
Was mit dem römischen Weltreich geschah, ist ein eindrucksvoller Beweis für die letztgenannte Variante. Das Versagen der unterdrückten Klassen der römischen Gesellschaft, sich zusammenzuschliessen und den brutalen und ausbeuterischen Sklavenstaat zu stürzen, führte zu einer inneren Erschöpfung und einer schmerzhaften Periode des sozialen, ökonomischen und kulturellen Zerfalls, der den Weg für die Barbaren frei machte.
Die unmittelbare Auswirkung des barbarischen Angriffs war die Vernichtung der Zivilisation und ein Zurückwerfen der Gesellschaft und der menschlichen Denkweise, die eintausend Jahre dauerte. Die Entwicklung der Produktivkräfte erlebte eine heftige Unterbrechung. Die Städte wurden zerstört oder verlassen. Die Eindringlinge waren agrarische Völker, die nichts mit Klein- und Grossstädten anfingen. Die Barbaren verhielten sich den Städten und ihren Einwohnern gegenüber feindlich (eine Psychologie, die unter Bauern zu allen Zeiten durchaus üblich ist). Dieser Prozess der Zerstörung, Vergewaltigung und Plünderung setzte sich über Jahrhunderte fort und hinterliess ein schreckliches Erbe der Rückständigkeit, wir nennen es das Dunkle Zeitalter.
Obwohl die Barbaren Rom erfolgreich eroberten, wurden sie ziemlich schnell absorbiert, verloren sogar ihre eigenen Sprachen und sprachen am Ende einen lateinischen Dialekt. So waren die Franken, die dem modernen Frankreich ihren Namen gaben, ein germanischer Stamm, der eine Sprache sprach, die mit dem modernen Deutsch verwandt ist. Das Gleiche geschah mit germanischen Stämmen, die in Spanien und Italien einfielen. Wenn ein ökonomisch und kulturell rückständigeres Land eine höher entwickelte Nation erobert, ist dies ein üblicher Vorgang. Das geschah auch später, als die mongolischen Horden Indien eroberten. Sie wurden von der fortschrittlicheren Hindu-Kultur integriert und gründeten schliesslich eine neue indische Dynastie – das Mogulreich.
Alan Woods, London, 8. Juli 2015
Einführung in den historischen Materialismus – Teil 1
Einführung in den historischen Materialismus – Teil 2
Einführung in den historischen Materialismus – Teil 3
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024