Am 29. Mai finden Präsidentschaftswahlen in Kolumbien statt. Als Favorit gilt der linke Kandidat Gustavo Petro. Sein grosser Erfolg zeigt, dass die kolumbianische Oligarchie zunehmend die Kontrolle über das Land verliert. Aber kann Petro es wirklich mit ihr aufnehmen?
Ende Mai wird in Kolumbien gewählt. Erstmals in der Geschichte Kolumbiens gibt es eine reale Chance, dass der linke Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro gewinnt. Die kolumbianische Oligarchie ist angesichts der drohenden linken Präsidentschaft entsetzt und fährt eine aggressive Hetzkampagne gegen Petro. Sie haben jedoch nicht Angst vor Petro selber, der klar betont, dass sie keine Angst vor ihm haben müssen. Sie haben Angst vor den ausgebeuteten und unterdrückten Schichten, welche ein besseres Leben wollen und bereit sind, dafür zu kämpfen.
Diese Angst haben sie aus gutem Grund. Denn seit drei Jahren befinden sich die kolumbianischen Lohnabhängigen und die armen Bauern in der Offensive. 2019 sind erstmals seit den 70ern heftige Massenproteste ausgebrochen. 2021 findet der zweite Landesweite «Paro Nacional» statt. Eine gigantische Bewegung, welche fähig gewesen wäre, den aktuellen Präsidenten Iván Duque zu entmachten. Aufgrund der fehlenden politischen Führung versandeten die Massenproteste, ohne entscheidende Verbesserungen zu erreichen. Die verpasste Chance ging nicht spurlos am politischen Geschehen vorbei. Im Gegenteil: «El Paro Nacional» gab der einzigen linken Alternative in Kolumbien – Gustavo Petro und seiner jungen Koalition «Pacto Histórico» (gegründet im Februar 2021) – heftigen Aufwind.
Die aktuellen politischen Ereignisse zeigen auf, dass sich in den letzten 10 Jahren viel verändert hat. Die Arbeiterbewegung in Kolumbien ist historisch schwach. Denn das Land ist die wichtigste Bastion des US-Imperialismus in Lateinamerika. Die herrschende Klasse ist extrem reaktionär und international für ihre Gewaltbereitschaft bekannt. Die letzten vier linken Präsidentschaftskandidaten (Jorge Eliecer Gaítan, Luis Carlos Galan, Bernardo Jaramillo, Carlos Pizarro) überlebten nicht bis zur ersten Wahlrunde, weil die kolumbianische Oligarchie sie kaltblütig ermordete. Die Mitglieder der sozialistischen Partei Unión Patriótica werden seit den 80er Jahren systematisch ermordet. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ein grosser Teil der Bauernbewegung sich in den 50er bewaffnete. Daraus entstand 1964 die Guerilla FARC. Der Guerillakrieg hatte aber langfristig eine lähmende Wirkung auf die kolumbianische Arbeiterbewegung.
Dass Gustavo Petro heute noch lebt, ist Ausdruck von der zunehmenden Schwäche der Oligarchie und der zunehmenden Stärke der Lohnabhängigen und armen Bauern. Jahrzehnte der Austerität führten zu einer heftigen Diskreditierung der kolumbianischen herrschenden Klasse. Weiter war das Friedensabkommen mit der FARC ein Wendepunkt für die kolumbianische Arbeiterbewegung. Erstmals ist es wieder möglich, Politik für die arbeitenden Klassen zu betreiben, ohne mit dem Bürgerkrieg in Verbindung zu stehen. Aber auch die zunehmende Schwäche des US-Imperialismus hat einen Einfluss auf die politische Lage.
Man kann es nicht genug betonen: Die herrschende Klasse in der Bastion des Imperialismus muss erstmals seit den 70er Jahren wieder zittern. Dies ist eine bedeutende Veränderung für Kolumbien, aber auch für ganz Lateinamerika.
Die politischen Ereignisse in Kolumbien sind Ausdruck des tiefgreifenden revolutionären Prozesses, der auf der ganzen Welt gärt. Im Jahr 2019 brachen in Lateinamerika in einem Land nach dem anderen Aufstände aus. Die Verbitterung über die globale Wirtschaftskrise und die Dekadenz der lateinamerikanischen Oligarchie führte zu einer regelrechten roten Welle, die den gesamten Kontinent erfasste. In Puerto Rico, Ecuador, Chile und Haiti waren es richtige revolutionäre Aufstände. Es ist klar, dass die kontinentale Rebellion einen bedeutenden Einfluss auf das Entstehen der Massenproteste in Kolumbien hatte. Die Aufstände hatten viel gemeinsam: Es wurde gegen die schlechten Lebensbedingungen, Korruption und Gewalt demonstriert.
Erschreckend war die krasse Repression, mit der alle lateinamerikanischen Regierungen reagierten. Inspirierend war der heroische und spontane Kampf der Massen, die unerschrocken für ihre Zukunft kämpften. Doch die Lohnabhängigen und die armen Bauern, die auf der Strasse standen, wurden von ihren Organisationen im Stich gelassen. Ihre politischen Vertreter kämpften nicht mit der gleichen Entschiedenheit und halfen ihren Regierungen, wieder für «Ordnung» zu sorgen. Am Ende versandeten die Proteste, ohne dass sich grundlegend etwas veränderte.
Aber nicht nur in Kolumbien drückt sich der Drang nach Veränderung nun auf der politischen Ebene aus. Auch in Chile und Peru sehen wir eine vergleichbare Situation. Im Juli 2021 beförderten die ArbeiterInnen und armen Bauern Perus ihren Kandidaten Pedro Castillo an die Macht. Auch in Chile gewann kürzlich der linke Kandidat Gabriel Boric klar gegen den ultrarechten José Antonio Kast. In Lateinamerika können wir sehen, dass wenn die Lohnabhängigen einmal angefangen haben zu kämpfen, sie nicht so einfach aufgeben und sie verschiedene Wege testen, um ihre Probleme zu lösen.
Trotz den grossen Hoffnungen der kolumbianischen ArbeiterInnen und armen Bauern, stehen die Zeichen schlecht, dass Petro tatsächlich ihre Lage verändern wird. Petro kämpft für sanfte Reformen. Er verspricht der kolumbianischen Oligarchie, dass sie keine Angst vor ihm haben müssen und er keine Enteignungen durchführen wird. Er versucht die Interessen der ausgebeuteten Massen und der Kapitalisten zu versöhnen. Das ist seine Achillesferse.
Das zeigt auch die internationale Erfahrung. Der «linke» Präsident Perus Pedro Castillo fuhr eine vergleichbare Strategie. Er versprach, den Reichtum Perus den Massen zurückzugeben, indem er neue Verträge mit den multinationalen Konzernen aushandelt und an die Vernunft der «patriotischen Kapitalisten» appelliert. Aber seit dem ersten Tag seiner Präsidentschaft herrscht Krieg in der peruanischen Regierung. Denn diese «patriotischen» Kapitalisten haben kein Interesse, den Reichtum Perus mit den armen Bauern und ArbeiterInnen zu teilen. Nach nur 70 Tagen gab Castillo seine ohnehin kaum ambitionierten Ziele auf und folgt jetzt der Linie der Bürgerlichen.
Wollen wir heute, in der Zeit der tiefsten Krise des Kapitalismus, etwas verändern, müssen wir Klarheit über zwei Dinge haben. Erstens: Es gibt keinen Spielraum für Reformen, auch nicht für die sanften. In Zeiten der Krise wird der Kampf um den Profit härter. Zweitens: Wir müssen gegen die Kapitalisten kämpfen, nicht mit ihnen. Ein besseres Leben für die Unterdrückten ist nur auf Kosten der Oligarchie möglich. Geld wächst nicht auf Bäumen. Entweder die Kapitalisten zahlen für die Krise oder sonst zahlt die Arbeiterklasse. Entscheidet sich Petro gegen die Konfrontation mit den Kapitalisten, wird er das Geld bei den ArbeiterInnen holen müssen. Also seine eigene Basis, welche ihn an die Macht gebracht haben wird, angreifen. Auch der chilenische Präsident Boric geht in die falsche Richtung, wenn er sagt, er möchte «Brücken zu den Rechten bauen». Der einzige Weg vorwärts für Petro wäre die Enteignung der Kapitalisten und der Aufruf an die Massen, die Macht in ihre eigenen Hände zu nehmen.
Auch wenn wir mit Sicherheit sagen können, dass Petro den Hoffnungen seiner Wähler nicht gerecht wird, wird sein Wahlsieg nicht bedeutungslos sein. Im Gegenteil, er wird der jungen Arbeiterbewegung einen Boost geben. Millionen von Lohnabhängigen sehen in Petro eine Chance, ihr Leben zu verändern. Dies ist eine gefährliche Situation für die kolumbianische Oligarchie, denn die Lohnabhängigen werden versuchen Petro zu helfen, ihre Interessen im Staat durchzusetzen. Diese potenzielle selbständige Aktivität der Massen birgt revolutionäres Potenzial. Die Illusionen in einen humanen Kapitalismus werden fallen und die Lohnabhängigen werden lernen müssen, dass es keine Retter gibt. Dass nur sie selbst ihre Probleme gemeinsam lösen können. Nur die kollektive Kraft der ArbeiterInnen hat eine Chance gegen die Gewalt der Oligarchie. Die Ausgebeuteten Lateinamerikas gehen gerade eine historische Schule durch. Die Aufgabe der MarxistInnen ist es, ihnen dabei zu helfen, ihren Weg vorwärts zu finden. Dies wird eine harte, aber entscheidende Schule, welche im globalen Kampf gegen den Kapitalismus grosse Wellen schlagen wird.
S. Varela
JUSO Bern
Quelle Titelbild: https://www.flickr.com/photos/gustavopetrourrego/8622816640
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