Marxistische Perspektiven bestehen aus einer allgemeinen Einschätzung der jüngsten Vergangenheit und der Periode, die wir gerade durchlaufen. Es geht darum, die wichtigsten objektiven Bedingungen, die das Massenbewusstsein prägen, zu analysieren. Aus dieser Analyse fliesst eine wissenschaftliche Einschätzung des wahrscheinlichsten Verlaufs der Ereignisse der nächsten Monate und Jahre. Nur so können sie der revolutionären Organisation eine sichere politische Ausrichtung geben. Gleichzeitig sind Perspektiven natürlicherweise bedingt und müssen ständig mit dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte in Einklang gebracht werden.
Alle MarxistInneen und seriösen Anti-KapitalistInnnen in der Schweiz sollten diese Perspektiven sorgfältig lesen, diskutieren und – wenn sie damit einverstanden sind – die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen. Nämlich die International Marxist Tendency in der Schweiz und weltweit aufzubauen. Das ganze Perspektivendokument findest du hier.
Der langsame Niedergang des Schweizer Kapitalismus drückt sich in der schleichenden Erosion der Stabilität der politischen Institutionen aus. In der organischen Krise des Kapitalismus braucht das Schweizer Kapital Reformen, um seine führende Stellung in der internationalen Konkurrenz retten zu können. Das politische Establishment hat die Aufgabe, diese Reformen durchzusetzen. Daher übersetzt sich die wirtschaftliche Krise in die politische Ebene. Dies ist ein langer Prozess, der in seiner heutigen Form seine Anfänge in der Krise der 1970er Jahre hat.
Die grosse neoliberale Offensive kam in der Schweiz verspätet im Vergleich zum Ausland. Vor allem weil die 70er-Krise vorübergehend mit Rassismus und Sexismus überwunden werden konnte und das Schweizer Arbeitsgesetz bereits vorher sehr liberal und arbeiterfeindlich war. Doch dies bedeutete, dass der veraltete (international immer weniger konkurrenzfähige) Produktionsapparat nicht erneuert wurde. Das Wachstum der 80er Jahre war überwiegend von Stagnation geprägt und wurde vor allem vom Bauboom getragen. Das Platzen der Immobilienblase löste die tiefe Krise der 90er Jahre aus. Die Schweiz hatte während des ganzen Jahrzehnts das schwächste Wachstum aller OECD-Länder. Um international wettbewerbsfähig zu sein, musste die herrschende Klasse in die Offensive.
Das Kapital konzentrierte sich zunehmend in den Grosskonzernen und im Export (in allererster Linie die Pharma, aber auch die Elektronik-, MedTech- und Uhrenindustrie). Die Kapitalisten bliesen in der Krise der 90er zum Angriff auf die Sozialpartnerschaft: Mit der Neuformation der Wirtschaftsverbände (z.B. Economiesuisse) gingen die Unternehmer insbesondere auf Betriebsebene deutlich härter gegen den historischen Kompromiss der Sozialpartnerschaft vor. Dies war Teil der Offensive zur Verbesserung der Profitbedingungen.
Gleichermassen auf der politischen Ebene: Nie hat die Schweiz in so kurzer Zeit so viele Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik erlebt. Die bürgerliche Offensive zur Verbesserung der Profitbedingungen umfasste unter anderem folgende (Konter-)Reformen: Unternehmenssteuerreform 1, Einführung der Mehrwertsteuer, Kartellgesetz, Sparprogramme, Arbeitslosengesetz, Krankenkassengesetz, Zerschlagung und Überführen in die Privatwirtschaft der Staatskonzerne PTT (anschliessend Post und Swisscom) und SBB sowie des Gesundheitswesens. Die Arbeiterklasse bezahlt knallhart: Die Löhne und Lebensbedingungen in der Schweiz stagnieren seit etwa 25 Jahren.
Aber die aggressivere Politik der Bourgeoisie in der organischen Krise und die damit verbundene soziale Polarisierung haben politische Konsequenzen. Die Zunahme der Widersprüche in der ökonomischen Basis des Schweizer Kapitalismus drückt sich im politischen Überbau aus und wirkt anschliessend wieder auf die Basis zurück. Dies ist ein internationaler Prozess. Überall auf der Welt drückt sich die Krise des Kapitalismus in der Krise des politischen Regimes aus. Weltweit sinkt die Legitimität des Liberalismus und der Institutionen der bürgerlichen Demokratie. Auf allen Kontinenten sind die traditionellen Parteien in der Krise. Die Kapitalistenklasse hat zunehmend Schwierigkeiten, stabile Regierungen zu bilden, welche ihre Interessen durchsetzen kann. Dieser Prozess findet auch in der Schweiz statt. Auch auf der politischen Ebene handelt es sich um einen schleichenden Niedergang.
Das politische Regime in der Schweiz hat jedoch auch seine Eigenheiten. Die bürgerliche Demokratie in der Schweiz basiert auf Mechanismen wie ständigen Volksabstimmungen oder dem Föderalismus. Seit dem Zweiten Weltkrieg gehören dazu noch die Konkordanz und das Kollegialitätsprinzip im Bundesrat sowie die Sozialpartnerschaft. Im Zentrum davon steht das Finden des «gutschweizerischen Kompromisses». Der Interessensgegensatz zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie wird so verschleiert. Mit der Integration der SP in den Bundesrat 1943 und dem zweiten Bundesratssitz 1959 wurde die klassenübergreifende Volksfront institutionalisiert und hält bis heute stand. Die allgemeine kapitalistische Herrschaftsstrategie, Widerstand aus der Arbeiterklasse durch die politische Integration ihrer Führung zu zähmen, hat in der Schweiz damit eine institutionalisierte Form gefunden, die in ihrer Dauerhaftigkeit und Stabilität im internationalen Vergleich einzigartig ist.
Dieses System hat die Vorstellung tief verwurzelt, dass die Demokratie im Interesse aller funktioniert, dass die verschiedenen Interessen in einem Kompromiss zu Gunsten aller ausgeglichen werden könnten und so «Exzesse» und «Extreme» verhindert würden, nur um auf diese Weise umso sicherer die Interessen der Bourgeoisie durchzusetzen. Über Jahrzehnte hinweg – gestützt auf das Wachstum des Schweizer Kapitalismus – hat dieses politische System für ein mehrheitlich stabiles bürgerliches Regime gesorgt, wobei die Interessen der Arbeiterklasse systematisch jenen der Bourgeoisie untergeordnet werden.
Aber während die Trägheit dieses Systems in den Phasen des Wirtschaftswachstums die sicherste Garantie für eine reibungslose Kapitalakkumulation bedeutete, wird sie in der Krise des Kapitalismus zunehmend zu einer Bremse. Die Krise des Kapitalismus erforderte seit den 1990ern eine aggressivere Politik der herrschenden Klasse gegen die Arbeiterklasse, um ihre Profitbedingungen zu sichern. Doch mit dieser zunehmenden Polarisierung zwischen den entgegengesetzten Klassen bricht den «gutschweizerischen» Kompromissen zunehmend der Boden unter den Füssen weg. Seit den 1990ern wurden zahlreiche Konterreformen nach Referenden vom Volk abgelehnt, u.a. das Arbeitsgesetz, das Elektrizitätsmarktgesetz oder die Unternehmenssteuerreform 3. Die Konterreform des Rentensystems wurde gar vier Mal vom Volk verworfen. Und auch bei den Initiativen: Während die Regierungsparteien in den 70er Jahren noch bei 80% der Volksinitiativen alle die gleiche Position hatten, ist dieser Anteil heute bei 0%. Politologin Häussermann schliesst daraus korrekt: «Kurz: Die Konkordanzregierung erfüllt ihren mässigenden und pragmatischen Zweck nicht mehr.» Das bürgerliche politische System wird zu einer Fessel für die Bedürfnisse der Kapitalisten. Der ehemals stabilisierende Faktor der Schweizer Demokratie wird zu einem zunehmend destabilisierenden Faktor. Sie erschwert die Angriffe und Reformen, welche die Bourgeoisie so dringend braucht.
Die Konterreformen der 90er Jahre haben zwischenzeitlich die Profitbedingungen für die Kapitalisten verbessert. Doch dies war keinesfalls ausreichend, um den Niedergang des Schweizer Kapitalismus aufzuhalten. Die Bourgeoisie braucht dringend Reformen, um ihre Kapitalbedingungen zu verbessern. Die Liste der bürgerlichen Bedürfnisse ist lang und betrifft grosse Fragen: Die Renten, die EU-Frage, breitflächige Liberalisierungen des Arbeitsmarktes, Privatisierungen, usw. Aber der Widerstand gegen die Krisenpolitik wächst. Das Rahmenabkommen scheiterte, die USR3 und die Rentenreform AV2020 wurden von der Stimmbevölkerung abgeblockt. Die Bürgerlichen nennen dies «Reformstau». Im Verhältnis zwischen Krise, notwendiger bürgerlicher Krisenpolitik und Radikalisierung wird Ursache zur Wirkung und Wirkung zur Ursache.
Heute steht die Sozialpartnerschaft wieder zunehmend unter Beschuss der Kapitalisten. Sie ist ihnen zu teuer, zu unflexibel, die Arbeitsverträge können nicht individuell verhandelt werden und sie gibt den Gewerkschaften ein zu grosses politisches Gewicht. Zuletzt kündigten die Patrons den Schreinerei-GAV und drohen nun beim Bau-LMV mit dem gleichen. Kurz: Die Sozialpartnerschaft wird zunehmend zum Bremsklotz für die benötigten bürgerlichen Konterreformen. Doch wie beim Rahmenabkommen sichtbar wurde – die herrschende Klasse wollte mit dem Kompromiss des FlaM-Lohnschutzes brechen – fordert die heutige Krisenzeit eine aggressivere bürgerliche Politik. Die Kapitalisten erkennen die Zeichen der Zeit, der historische «demokratische» Kompromiss verliert seine materielle Basis.
Doch wir müssen die Prozesse von allen Seiten anschauen: Es findet diese schleichende Erosion der Stabilität des politischen Regimes in der Schweiz statt. Doch gleichzeitig ist es gerade der aus diesem Regime resultierende perfide und verhüllte Charakter der Angriffe auf die Arbeiterklasse, der dazu geführt hat, dass das Vertrauen in die bürgerliche Regierung und ihre Institutionen weniger schnell abgenommen hat als in anderen Ländern in den letzten Jahren. Während die materielle Grundlage des Klassenkompromisses wegbricht und die Bourgeoisie volles Bewusstsein über die Notwendigkeit eines aggressiveren Kurses hat, sind die Illusionen in Kompromisse in der Arbeiterklasse noch tief verwurzelt. Die Sozialdemokratie und die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften sind dabei ein aktiver Bremsklotz. Die Führungen der Arbeiterbewegung hängen in der Vergangenheit fest, indem sie sich voll auf die «Demokratie» und die Sozialpartnerschaft stützen. Sie versuchen verzweifelt, ein Regime aufrechtzuerhalten, dessen historische Grundlage verschwunden ist. Sie behindern damit, dass die Arbeiterklasse sich als unabhängige politische Kraft gegen die bürgerliche Regierung wahrnehmen und organisieren kann.
Doch trotz aller ideologischen und politischen Verschleierungen: Die objektiven Prozesse fräsen sich ihren Weg. Auf der Grundlage des ökonomischen Niedergangs in den letzten drei Jahrzehnten bröckelt auch die politische Stabilität in der Schweiz zunehmend. Die bürgerliche Krisenpolitik führt zu grösserer sozialer Polarisierung. Die Ungleichheiten nehmen deutlich zu. Die Illusionen in Kompromisse sind zwar noch tief in der Arbeiterklasse verwurzelt. Doch sie verlieren in der zunehmenden Klassenpolarisierung ihre Grundlage. Während die Bourgeoisie dringend aggressiv gegen die Arbeiterklasse vorgehen muss, schafft sie es zunehmend weniger, ihre Angriffe als im Wohl von allen zu verkaufen. Das Regime der Bourgeoisie in der Schweiz steckt in einer Sackgasse, es wird deutlicher, in wessen Interessen die Regierung handelt.
Die Coronakrise hat diesen Prozess verschärft. Zwischenzeitlich hatte über die Mehrheit der Bevölkerung das Vertrauen in den Bundesrat verloren – ein absolutes Novum, mindestens seit dem 2. Weltkrieg. Das Vertrauen hat sich zwar wieder etwas stabilisiert (33% Misstrauen im August 2021), doch liegt weiterhin deutlich unter dem Niveau von März 2020 (16%). Die mehrmaligen radikalen Versuche der Impfgegner, das Bundeshaus zu stürmen, waren ein krasser Ausdruck der Radikalisierung. Das wütende, weil aufgeriebene Kleinbürgertum ist ein untrügliches Krisenphänomen. Daneben gibt es Hunderttausende oder mehr Jugendliche und Arbeiter, welche richtigerweise die Impfung unterstützen, aber mit der Faust im Sack eine zunehmende Verachtung gegenüber den regierenden und besitzenden Klassen entwickeln. Die aus vielerlei Hinsicht historischen Abstimmungen im November brachten erneut die Radikalisierung an die Oberfläche. Der wachsende Unmut gegen das Establishment kann sich, in Ermangelung einer klaren, linken Opposition, mehrheitlich nur in verwirrten Bahnen ausdrücken. Doch die Grundlage ist bedeutend: Die bürgerlichen Institutionen (Bundesrat, Föderalismus, Medien, etc.) verlieren an Legitimität.
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