Die Russische Revolution ist das grösste Ereignis der Menschheitsgeschichte: Zum ersten Mal hat die Arbeiterklasse nicht nur die Revolution angeführt, sondern die Macht in ihre eigenen Hände genommen und die Gesellschaft umgewälzt. Dieses Werk wird gern als «undemokratisch» verschrien, obwohl es die weitreichendste und revolutionärste Demokratie mit sich brachte, die jemals existiert hat. Daniel Morley erklärt, wie diese in der Praxis funktionierte (Original auf Englisch).
Genossen, Arbeiter! Denkt daran, dass ihr selbst nun an der Spitze des Staates steht. Niemand wird euch helfen, wenn ihr selbst euch nicht vereinigt und alle Staatsangelegenheiten in eure Hände nehmt. Eure Sowjets (Räte) sind nun die Organe der Staatsmacht, sie sind bevollmächtigte, gesetzgebende Körper! Sammelt euch in euren Sowjets! Stärkt sie! Beginnt selbst mit eurer Arbeit, beginnt von unten, wartet auf niemanden!»
Lenin, To the Population
Diese machtvollen Worte Lenins, zehn Tage nach der Machtergreifung der russischen Massen gesprochen, widerspiegeln Lenins wirkliche Position zur Arbeiterdemokratie. Einen Tag zuvor hatte Lenin denselben Punkt ausführlicher erklärt:
Die schöpferische, lebendige Tätigkeit der Massen ist der Hauptfaktor der neuen Gesellschaft. Die Arbeiter müssen damit beginnen, die Arbeiterkontrolle in ihren eigenen Fabriken zu organisieren und die Bauernhöfe mit Industrieprodukten im Austausch gegen Weizen zu beleben. Jeder Gegenstand, jedes Pfund Brot sollte gezählt werden, denn Sozialismus ist vor allem Buchhaltung. Lebendiger, atmender Sozialismus ist die Schöpfung der Volksmassen selbst.»
Mit diesen revolutionären Proklamationen kündigte Lenin das grösste Ereignis der Geschichte und den Beginn einer radikal neuen Ära an. Möge niemand lügen, dass die Oktoberrevolution undemokratisch war. Die Russische Revolution leitete, wie diese Erklärungen zeigen, die durch und durch demokratischste Staatsform ein, die je geschaffen wurde.
Im Kapitalismus spricht man viel von Demokratie einer anderen Art. Unsere PolitikerInnen, die Medien, prominente Intellektuelle, das Establishment im Allgemeinen, werden nicht müde, stolz die Werte der «Demokratie» zu preisen, zumindest in abstrakter Form. Wo sie vage und abstrakt sind, wollen wir konkret sein. Die Demokratie, die sie preisen, ist in Wirklichkeit nur eine Form der Demokratie, nämlich die bürgerliche Demokratie. Sie ist, wie Lenin sagte, wie die Demokratie im antiken Griechenland: Demokratie für die Sklavenhalter. Sie verschleiert die Diktatur des Kapitals.
Die Arbeiterdemokratie ist ganz anders, ja, sie ist das direkte Gegenteil der bürgerlichen Demokratie. Die bürgerliche Demokratie ist formell und gekünstelt. Soweit sie überhaupt existiert – und vergessen wir nicht, dass sie über viele Jahrhunderte gegen die herrschende Klasse erkämpft werden musste – sagen ihre Rechte und Freiheiten nur sehr wenig darüber aus, was zu tun wir wirklich die Freiheit haben. Wir alle haben die formelle Freiheit zu wählen – aber dies geschieht im Kontext eines Wirtschaftssystems, über das wir keine Kontrolle haben. Ein deutliches Beispiel aus jüngster Zeit ist das Referendum über die von der EU auferlegten Sparmassnahmen in Griechenland, bei dem 61 Prozent gegen die Sparmassnahmen stimmten. Dies wurde gebührend ignoriert, weil es nicht den Imperativen der wichtigen europäischen Banken entsprach, und noch härtere Sparmassnahmen wurden als Strafe verhängt.
Dass Abstimmungen in diesem System in der Regel wenig bewirken und dass die wirklichen Entscheidungen Tag für Tag von grossen Banken und anderen führenden bürgerlichen Persönlichkeiten hinter den Kulissen getroffen werden, ist eine weit verbreitete Meinung, und das zu Recht. Das Parlament ist grösstenteils eine Schwatzbude. In der letzten Zeit waren die Kämpfe innerhalb der britischen Labour-Partei sehr aufschlussreich dafür, in welchem Masse die herrschende Klasse hinter den Kulissen den demokratischen Prozess manipuliert und hemmt. Ja, die ArbeiterInnen können der Labour-Partei beitreten und sich an ihr beteiligen, was eine echte Freiheit ist. Aber sollten sie für einen Führer von links stimmen, wird dies auf den unerbittlichen Widerstand von Organisationen wie «Progress» stossen – einer rechten Fraktion der Labour-Partei, die von MilliardärInnen finanziert wird. Bei jedem Schritt lässt die Bourgeoisie ihr Geld und ihre Agenten die Fäden ziehen, während die ArbeiterInnen mit mageren Einkommen kämpfen und nicht die Zeit haben, sich der Politik zu widmen. Demokratie ist am Ende eine materielle und vor allem eine Klassenfrage.
Die Arbeiterdemokratie ist eine ganz andere Form der Herrschaft – sie ist die Herrschaft der Mehrheit. Sie ist kein ausgeklügeltes und starres Regelwerk, das aufgestellt wurde, um zu verschleiern, was wirklich geschieht. Und sie dient auch nicht dazu, so viel zu blockieren wie zu befähigen. Die Arbeiterdemokratie legt die wirkliche Macht in die Hände des Proletariats. Sie ist eine reale, praktische und zunächst spontane Entwicklung. Sie ist nicht irgendein idealer Plan, der von MarxistInnen erfunden wurde. Stattdessen haben wir ihn aus realen Ereignissen abgeleitet. Das erste Beispiel, von dem Marx und Lenin sich stark inspirieren liessen, war die Pariser Kommune von 1871.
Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller andern Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts, musste der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. […]
In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune nicht die Zeit hatte, weiter auszuarbeiten, heisst es ausdrücklich, dass die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfs sein, und dass das stehende Heer auf dem Lande durch eine Volksmiliz mit äusserst kurzer Dienstzeit ersetzt werden sollte. Die Landgemeinden eines jeden Bezirks sollten ihre gemeinsamen Angelegenheiten durch eine Versammlung von Abgeordneten in der Bezirkshauptstadt verwalten, und diese Bezirksversammlungen dann wieder Abgeordnete zur Nationaldelegation in Paris schicken; die Abgeordneten sollten jederzeit absetzbar und an die bestimmten Instruktionen ihrer Wähler gebunden sein. […] Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen […]»
Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich
Aus dieser inspirierenden und heroischen Anfangserfahrung leiteten Marx und dann Lenin allgemeine Prinzipien der Form eines demokratischen Arbeiterstaates ab, die wir später diskutieren werden. Der Hauptpunkt für uns hier ist, dass die Arbeiterdemokratie ein Produkt der praktischen Erfahrung der Arbeiterklasse ist und die wirklichen Bedürfnisse des revolutionären Kampfes der ArbeiterInnen um Selbstbefreiung widerspiegelt. Diese Erfahrung führte Marx zur Entwicklung des Begriffs der «Diktatur des Proletariats». Gemeint ist nicht eine Diktatur über das Proletariat, sondern genau das, was wir in der Pariser Kommune beobachten konnten: Die Arbeiterklasse organisiert sich demokratisch selbst als herrschende Klasse und führt die Gesellschaft in ihrem Interesse. Zu Marx’ Zeiten hatte der Begriff «Diktatur» noch nicht die negativen Konnotationen, die er heute besitzt. Er war eigentlich ein Rückgriff auf eine Tradition des alten Roms.
Eine der Abstraktionen der bürgerlichen Demokratie ist, dass wir alle gleiche «Atome» seien, die über gleich viel Ressourcen und Zeit verfügten, und deshalb besitze jede Stimme denselben Wert. Doch hinter dieser Fiktion verborgen liegt die Realität unglaublicher materieller Ungleichheiten und, das ist entscheidend, widersprüchlicher Klasseninteressen. Doch in der bürgerlichen Demokratie werden diese grundlegenden Tatsachen unter den Teppich gekehrt, und hinter den Kulissen regiert der ungeheure Reichtum der KapitalistInnen. Vom Standpunkt dieser liberalen Abstraktionen erscheint die Arbeiterdemokratie als weniger demokratisch, da sie notwendigerweise KapitalistInnen ausschliesst. Das ergibt sich aber schlicht aus den Bedingungen, aus denen sie entspringt. Als praktische und echte Demokratie ist dies notwendig. Die bürgerliche Demokratie gibt jedem das Stimmrecht (zumindest nachdem verschiedene Bewegungen das allgemeine Stimmrecht erkämpft haben), um die wirklichen Machtverhältnisse zu verschleiern und um das demokratische System auf eine nutzlose Quasselbude zu reduzieren.
Wenn ArbeiterInnen eine Gewerkschaft gründen, laden sie dann ihre Bosse ein? Wäre es demokratischer, wenn sie das täten? Oder würde sie das in ihrer Fähigkeit einschränken, frei zu diskutieren und ihre Entscheidungen durchzuführen? Die Arbeiterdemokratie muss in der Gesamtgesellschaft die Diktatur des Proletariats bedeuten, so wie sie am Arbeitsplatz den Ausschluss des Bosses bedeutet. Sie ist darin ehrlich. Die bürgerliche Demokratie ist in Wahrheit die Diktatur der Bourgeoisie – nur gibt sie das nicht ehrlich zu.
Der Sowjet-Staat wurde durch ein genau solches spontanes, lebendiges und praktisches Beispiel der Arbeiterdemokratie erschaffen – den Sowjets. Sie waren die bisher grösste Schöpfung der Arbeiterdemokratie. Viele ihrer Regeln und Grundsätze waren von der Pariser Kommune inspiriert, der ersten echten Arbeitermacht.
Die neue Verfassung hat weniger neue Regierungsformen geschaffen als vielmehr diejenigen Formen registriert und reglementiert, die nach dem revolutionären Aufruhr durch unkoordinierte Initiativen aufkamen.»
EH Carr, The Bolshevik Revolution 1917-1932, Bnd. I, S. 134
Das russische Wort «Sowjet» bedeutet Rat, sowohl im Sinne von «Versammlung» als auch «Ratschlag». Zum ersten Mal entstanden Sowjets in der Revolution von 1905. 1917 wurden sie als Verteidigungsorganisationen der Arbeiterklasse erneut gebildet. Sie waren informell und flexibel; ihre Form hing von den Bedürfnissen und der Entwicklung des Klassenkampfes ab. Im Allgemeinen wählten ArbeiterInnen und Teile der lokalen Gemeinde Delegierte von ihrem eigenen Arbeitsplatz oder der Gemeinde, die am örtlichen Sowjet teilnahmen. Dieser besprach die Angelegenheiten der Revolution und setzte die Beschlüsse in die Tat um. Die Erfahrung des Aufbaus von Sowjets begünstigte den grössten Fortschritt des politischen Bewusstseins unter den ArbeiterInnen.
Aufgrund ihres spontanen und informellen Charakters und wegen ihres revolutionären Ursprungs nahmen die Sowjets ganz natürlich die Form einer klassenbasierten Demokratie an. Sie waren Organe der unterdrückten Klassen im Kampf für ihre Emanzipation. Niemand war auf die Idee gekommen, die Reichen formell auszuschliessen, denn diese erschienen ja gar nie. Viele Bolschewiki hatten bei ihrem ersten Auftreten 1905 die Bedeutung der Sowjets nicht begriffen – im Gegensatz zu Lenin. Für Lenin waren sie nicht nur spontane defensive Komitees, sondern potenzielle Organe der Arbeitermacht, der Keim eines neuen Arbeiterstaates ähnlich der Pariser Kommune. Diese Auffassung war 19 17 ein entscheidender Unterschied zwischen den Bolschewiki und Menschewiki (letztere führten zwar oft Sowjets an, begriffen ihre Bedeutung aber überhaupt nicht) – und sie inspirierte die so entscheidende Losung, die die Oktoberrevolution bestimmen sollte: «Alle Macht den Sowjets!»
Nach der Machtergreifung am 7. November (nach unserem Kalender) 1917 wurden die Sowjets schliesslich die Organe des neuen Arbeiterstaates, wie Lenin zwölf Jahre früher vorausgesehen hatte. Am 16. Januar 1918 wurde die «Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes» vom Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitee des Sowjetkongresses angenommen und am nächsten Tag in der Izwestija publiziert. Es wurde formell deklariert, dass die Sowjets in ganz Russland nun souverän seien. Es erstaunt nicht, dass diese Deklaration am nächsten Tage von der rivalisierenden Konstituierenden Versammlung abgelehnt wurde.
Aber wir sollten nicht vergessen, dass zu diesem Sieg der Arbeiterdemokratie in einer sozialistischen Revolution auch die Verwirklichung einer ganzen Reihe von bürgerlich- demokratischen Freiheiten in einem bis dahin unerhörten Ausmass gehörte. Es gab eine enorme Ausweitung der Rechte und Freiheiten. Rede- und Versammlungsfreiheit waren garantiert, und in der Tat wurden die ArbeiterInnen ermutigt, sich zu versammeln! Religionsfreiheit (während der offiziellen Kirche ihr offizieller Status und ihr riesiger Landbesitz entzogen wurden), Freiheit der Sexualität, gleiche Scheidungsfreiheit für Frauen und Männer und Gleichheit in allen anderen Aspekten der Ehe, das Recht auf Abtreibung – all diese Rechte und mehr wurde von der Oktoberrevolution und der Sowjetregierung garantiert.
Am 3. Juli 1918 wurde der Entwurf für die neue Sowjetverfassung fertiggestellt und am nächsten Tag dem 5. Sowjetkongress zur Verabschiedung vorgelegt. Er deklarierte:
Der föderale Charakter der Republik; die Trennung von Kirche und Staat und Schulwesen und Kirche; Freiheit der Rede, der Meinung und der Versammlung für ArbeiterInnen, gesichert durch zur Verfügung gestellte technische Mittel zum Druck von Zeitungen, Flugschriften, Büchern einerseits und Räumlichkeiten für Versammlungen andererseits; die Verpflichtung aller BürgerInnen zur Arbeit unter dem Grundsatz ‘Wer nicht arbeitet, der nicht isst’ [dies war gegen bürgerliche Individuen gerichtet, die von der Arbeit anderer lebten, nicht gegen beeinträchtigte oder arbeitslose ArbeiterInnen]; die Verpflichtung aller ArbeiterInnen zum Wehrdienst zur Verteidigung der Republik; das Recht auf Staatsbürgertum aller ArbeiterInnen auf russischem Boden und das Recht auf Asyl für religiös oder politisch verfolgte AusländerInnen; und die Abschaffung aller Diskriminierung aufgrund von Ethnie oder Nationalität.»
EH Carr, The Bolshevik Revolution 1917-1932, Bnd. 1, S. 135
Es ist ein typisches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft, dass sie nicht einmal ihre eigenen «Freiheiten» garantieren kann. In Grossbritannien, der «Mutter der Parlamente», existiert ein zweites, ungewähltes Parlament, das jede Gesetzgebung aus der anderen, gewählten Kammer aussetzen darf. Dieses Parlament besteht aus Beauftragten, Adligen und völlig zeitfremden Kirchenoberhäuptern. Staatsoberhaupt ist die Queen, der das Militär auch Gehorsam schwört. Es ist die Aufgabe der sozialistischen Revolution, alle demokratischen Freiheiten vollständig zu realisieren wie auch die organisierten ArbeiterInnen ans Ruder zu setzen und den Kapitalismus zu beenden. Die sowjetische Verfassung deklarierte, wer der neue Souverän war:
Der Gesamtrussische Sowjetkongress ist die höchste Gewalt der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Der Gesamtrussische Sowjetkongress besteht aus den Vertretern der Stadtsowjets (je ein Deputierter auf 25000 Wähler) und aus den Vertretern der Gouvernementssowjetkongresse (je ein Deputierter auf 125000 Einwohner). […] Der Gesamtrussische Sowjetkongress wählt das Gesamtrussische Zentralexekutivkomitee der Sowjets, das aus nicht mehr als 200 Personen besteht.»
Grundgesetz der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik
Ähnlich geregelt waren die regionalen Sowjetkongresse, die wiederum aus kleineren, lokalen Sowjets bestanden. Diese Unterteilungen waren laut Verfassung «bis hin zum kleinsten Sowjet vollständig autonom in lokalen Fragen, in ihrer allgemeinen Tätigkeit aber an die Dekrete und Resolutionen der Zentralmacht und übergeordneten Sowjets gebunden».
Der Gesamtrussische Kongress bestand nicht aus professionellen PolitikerInnen, die alle fünf Jahre gewählt wurden, sondern aus Delegierten aus der Arbeiterklasse, aus allen Teilen der Gesellschaft. 1918 versammelte sich dieser Kongress vier Mal, normalerweise etwa eine Woche lang. Er debattierte intensiv die grundlegenden Fragen der Revolution und wie eine neue Gesellschaft aufzubauen sei. Genauer ausgedrückt «autorisiert, verändert und ergänzt er die Verfassung, steuert die allgemeine Politik, erklärt Krieg und Frieden, plant das wirtschaftliche Leben der Nation, stimmt über das Budget ab, reguliert finanzielle und andere Angelegenheiten, erlässt Gesetze und Straferlässe.» (Serge, Year One of the Russian Revolution, 1992, S. 273).
Die sowjetische Verfassung forderte mindestens zwei solche Kongresse pro Jahr, was bedeutete, dass das Exekutivkomitee mindestens zweimal pro Jahr von den Delegierten zur Rechenschaft gezogen und neu gewählt wurde. Das Exekutivkomitee oder ein Drittel der lokalen Sowjets waren dazu berechtigt, Notkongresse einzuberufen. Diese Körperschaft war keine Erfindung der Bolschewiki. Tatsächlich war der erste Kongress Mitte 1917 abgehalten worden, bevor er durch die Oktoberrevolution ermächtigt worden war. Er war ein lebendiges Produkt der revolutionären ArbeiterInnen und besass deshalb in ihren Augen demokratische Legitimität.
Die allgemeinsten Grundsätze dieser Demokratie formulierte Lenin in Staat und Revolution. Sie waren von den Erfahrungen der Pariser Kommune inspiriert (wie auch von den russischen Sowjets von 1905 und den frühen Sowjets 1917). Diese Grundsätze waren:
Dies sind die Prinzipien und Leitsätze der proletarischen Macht, die Regeln, nach denen die Arbeiterklasse am besten die demokratische Kontrolle über ihren Staat erhält. Am siebten Kongress der Kommunistischen Partei Russlands im Jahre 1918 argumentierte Lenin ferner für zehn Prinzipien der neuen Staatsmacht:
Eine Eigenschaft der Pariser Kommune, die Marx positiv aufgefallen war, war die Vereinigung von Exekutive, Legislative und Judikative. Die bürgerliche Demokratie besteht auf ihrer Trennung, vorgeblich als Schutz gegen «Tyrannei». Aber Tyrannei in den Augen der bürgerlichen Liberalen bedeutet in erster Linie staatliche Tyrannei gegen Privateigentum, und für sie bildet das Privateigentum den Schlüssel zur Freiheit. Diese Gewaltentrennung dient dazu, den kapitalistischen Status Quo zu erhalten und dem Kapital die Kontrolle hinter den Kulissen zu gewähren, während der Staat seine eigene Macht beschränkt. Die sozialistische Umwälzung der Gesellschaft ist eine riesige Aufgabe, welche die Teilnahme aller erfordert. Die ArbeiterInnenklasse mit ihrem Finger am Puls der Produktion muss ihre kollektive Macht über die Wirtschaft und Gesellschaft ausüben, um sie nach den Bedürfnissen der Massen zu reorganisieren und die Anarchie des Marktes zu beenden.
Indem sie die Sowjets zum Souverän erhob, beschränkte die Verfassung das Wahlrecht ausschliesslich auf Arbeitende, Soldaten und Beeinträchtigte; wer andere anstellte, war von der Teilnahme ausgeschlossen. Natürlich spielte das Geschlecht beim Wahlrecht keine Rolle. Sowjets konnten ihre Delegierten jederzeit abwählen, wenn sie mit ihnen nicht zufrieden waren. Wie Lenin sagte: «Alle bürokratischen Formalitäten und Beschränkungen verschwinden aus den Wahlen, und die Massen entscheiden selber ihre Reihenfolge und ihren Zeitpunkt, mit freiem Abwahlrecht für Gewählte.»
Die Sowjets waren die echten Machtorgane, welche die ArbeiterInnen selber schufen. Sie waren aus den Fabriken gewählt und spiegelten getreu die Interessen und die Macht der ArbeiterInnen. Sie konnten die KapitalistInnen nicht mit einbeziehen, die niemals überhaupt versucht hatten, an den Sowjets teilzuhaben. Damit das Sowjetsystem sein konnte, was es sein musste – das demokratischste System, das je geschaffen wurde – musste es sich ausschliesslich auf den lebendigen Kampf der Massen gegen ihre Ausbeuter stützen. Lenin schrieb, dass die Sowjets ursprünglich politisch offene und inklusive Instanzen waren, und bemerkt in Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky:
Der Bourgeoisie das Wahlrecht entziehen, ist, wie ich schon gezeigt habe, kein unbedingtes und notwendiges Kennzeichen der Diktatur des Proletariats. Auch in Russland haben die Bolschewiki, die lange vor dem Oktober die Losung einer solchen Diktatur aufgestellt hatten, nicht von vornherein davon gesprochen, den Ausbeutern das Wahlrecht zu entziehen. Dieser Bestandteil der Diktatur erblickte das Licht der Welt nicht ‘nach dem Plan’ irgendeiner Partei, sondern er erwuchs von selbst im Laufe des Kampfes. Der Historiker Kautsky hat das freilich nicht bemerkt. Er hat nicht begriffen, dass die Bourgeoisie noch unter der Herrschaft der Menschewiki (der Paktierer mit der Bourgeoisie) in den Sowjets sich selbst von den Sowjets absonderte, sie boykottierte, sich ihnen entgegenstellte, gegen sie intrigierte. Die Sowjets sind ohne jede Verfassung entstanden und haben über ein Jahr (vom Frühjahr 1917 bis zum Sommer 1918) ohne jede Verfassung existiert. Die Wut der Bourgeoisie gegen die selbständige und allmächtige (weil allumfassende) Organisation der Unterdrückten, der Kampf, und zwar der skrupelloseste, eigennützigste, schmutzigste Kampf der Bourgeoisie gegen die Sowjets und schliesslich die offensichtliche Teilnahme der Bourgeoisie (von den Kadetten bis zu den rechten Sozialrevolutionären, von Miljukow bis zu Kerenski) am Kornilowputsch – eben das hat den formellen Ausschluss der Bourgeoisie aus den Sowjets vorbereitet.»
Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky
Im gleichen Werk argumentierte Lenin, dass für die praktische Realisierung der Demokratie nicht die Gewährung formeller Rechte (wie zum Beispiel Redefreiheit) zentral ist, sondern die praktischen Mittel zur Wahrnehmung dieser Rechte. Diese müssen wiederum Klassencharakter annehmen. Es war also notwendig, die Zeitungen, Radiosender, Versammlungsräume usw. zu verstaatlichen und unter Arbeiterkontrolle zu stellen, damit den ArbeiterInnen der Zugang garantiert werden kann. Sie füllten die rein legalen Massnahmen mit tatsächlichem materiellem Gehalt.
Lenin erklärte:
Der alte bürgerliche Apparat – das Beamtentum, die Privilegien des Reichtums, der bürgerlichen Bildung, der Beziehungen usw. (diese tatsächlichen Privilegien sind um so mannigfaltiger, je entwickelter die bürgerliche Demokratie ist) – all das fällt bei der Sowjetorganisation fort. Die Freiheit der Presse hört auf, eine Heuchelei zu sein, denn die Druckereien und das Papier werden der Bourgeoisie weggenommen. Das gleiche geschieht mit den besten Gebäuden, Palästen, Villen, Herrensitzen. Die Sowjetmacht hat Tausende und aber Tausende dieser besten Gebäude den Ausbeutern kurzerhand weggenommen und hat dadurch das Versammlungsrecht für die Massen, jenes Versammlungsrecht, ohne das die Demokratie ein Schwindel ist, Millionen Mal ‘demokratischer’ gemacht. Die indirekten Wahlen zu den nichtlokalen Sowjets erleichtern das Zustandekommen der Sowjetkongresse, machen den gesamten Apparat billiger, beweglicher und für die Arbeiter und Bauern zugänglicher, und das in einer Zeit, wo das Leben brodelt und es erforderlich ist, besonders schnell die Möglichkeit zu haben, einen örtlichen Abgeordneten abzuberufen oder ihn zum allgemeinen Sowjetkongress zu entsenden. […]
Gibt es unter den demokratischsten bürgerlichen Ländern auch nur ein Land in der Welt, in dem der durchschnittliche Arbeiter aus der Masse, der durchschnittliche Landarbeiter aus der Masse oder überhaupt der Halbproletarier aus dem Dorfe (d. h. der Vertreter der unterdrückten Masse, der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung) auch nur annähernd eine solche Freiheit geniesst, Versammlungen in den besten Gebäuden abzuhalten, eine solche Freiheit, zur Äusserung seiner Ideen, zur Verteidigung seiner Interessen die grössten Druckereien und die besten Papiervorräte zu besitzen, eine solche Freiheit, gerade Menschen seiner Klasse mit der Leitung und ‘Einrichtung’ des Staates zu betrauen, wie in Sowjetrussland? […]
In Russland aber wurde der Beamtenapparat vollständig zertrümmert, kein Stein wurde hier auf dem anderen gelassen, alle alten Richter wurden vertrieben, das bürgerliche Parlament auseinandergejagt – und gerade den Arbeitern und Bauern eine viel zugänglichere Vertretung gegeben, durch ihre Sowjets wurden die Beamten ersetzt oder ihre Sowjets wurden über die Beamten gesetzt, ihre Sowjets wurden zu Wählern der Richter. Diese Tatsache allein genügt, damit alle unterdrückten Klassen anerkannten, dass die Sowjetmacht, d. h. die gegebene Form der Diktatur des Proletariats, millionenfach demokratischer ist als die demokratischste bürgerliche Republik.»
Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky
Die erste Arbeiterregierung, die 1917 aus diesem Prozess entstand, war eine Koalition zwischen den Bolschewiki und den Linken Sozialrevolutionären (SR). Zu dieser Zeit nahmen alle Parteien – linke und rechte SR, alle Menschewiken usw. – an den Sowjetwahlen teil, wurden in den Sowjetkongress gewählt und veröffentlichten frei ihre Zeitungen. Es stimmt, dass im Laufe des Bürgerkriegs ab Mitte 1918 viele dieser Freiheiten eingeschränkt wurden. Dass dies notwendig war, zeigt auf, dass es keine Demokratie geben kann, die über den Klassenverhältnissen steht. Diese anderen Parteien bewaffneten sich gegen das Regime, und verschworen sich mit imperialistischen Regierungen während des Bürgerkriegs, der zu so vielen Toten und so viel Not führen würde. Unter diesen Umständen ist es unmöglich, sie wie Mitglieder eines fairen Debattierklubs handzuhaben!
Nachdem die Konstituierende Versammlung die Resolution des Bolschewiken Tschernow, dass die Versammlung die Souveränität der Sowjets akzeptieren solle, in ihrer ersten Session am 18. Januar 1918 abgelehnt hatte, löste sich die Versammlung – dem Wesen nach ein bürgerliches Parlament – in Luft auf, als sich die Wachen aus Müdigkeit weigerten, weiterhin Wache zu stehen. In anderen Worten: Die tatsächliche, materielle Macht lag bei den Sowjets. Sie führten die «Formationen bewaffneter Menschen», nicht durch Zwangsmassnahmen, sondern durch Klassenloyalität, waren diese bewaffneten Menschen doch Rote Garden aus der Arbeiterklasse. Ein Staat, den niemand zu verteidigen beabsichtigt, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Am folgenden Tag erklärte ein Dekret zur Auflösung der Konstituierenden Versammlung knapp, dass «die arbeitenden Massen aufgrund ihrer Erfahrungen davon überzeugt sind, dass der bürgerliche Parlamentarismus überholt ist; dass er völlig unvereinbar mit der Errichtung des Sozialismus ist; denn nur Klasseninstitutionen, nicht nationale Institutionen, können den Widerstand der besitzenden Klasse brechen und den Grundstein für eine sozialistische Gesellschaft legen.» (Zitiert nach Serge, ebd., S. 135)
1918 verstrickte sich das Land in einen offenen Bürgerkrieg. Die politischen Bedingungen wurden erwartungsgemäss immer angespannter und gewaltvoller, da die Machtübernahme der Sowjets das Ende der Privilegien der zuvor herrschenden Klasse bedeutete. Ein typischer Vorwurf gegen die Bolschewiki und die Russische Revolution ist die Unterdrückung anderer Parteien und der «Pressefreiheit». Nie wird aber eine Erklärung geboten oder Kontext gegeben. In liberalen Kreisen ist die Verehrung für die «Pressefreiheit» so ausgeprägt, dass die blosse Erwähnung der Tatsache ihrer Aufhebung dazu ausreicht, um die gesamte Revolution zu verurteilen. Was waren aber die tatsächlichen Umstände?
Im Mai 1918 erklärte der Bolschewik Wolodarski, dass «wir allen unseren Gegnern Freiheit der Kritik an der Sowjetregierung und Freiheit der Agitation für eine andere Regierung gewähren. Wir werden die Pressefreiheit garantieren, wenn ihr sie in diesem Sinne versteht. Die Falschinformationen, Lügen und Verleumdung müsst ihr aber aufgeben». Man muss verstehen, dass in diesem Bürgerkriegszustand, in dem die gesamte imperialistische Welt mitmischte, Lügen bewusst und ohne Unterbruch in der immer noch freien, bürgerlichen Presse gedruckt wurden. Diese unterstützte direkt und mit Absicht die Konterrevolution.
Wolodarski sollte in seiner Vorsicht bestätigt werden: Einen Monat später wurde er von einem Sozialrevolutionär erschossen. Urizki, ein führender Bolschewik und Leiter der Tscheka, der revolutionären Geheimpolizei, wurde einen weiteren Monat später von einem Militärkadetten ermordet. Am genau gleichen Tag schoss Fanny Kaplan, eine weitere Sozialrevolutionärin, drei Mal auf Lenin, als er unbewacht eine Arbeiterversammlung verliess. Er überlebte, die Verletzungen führten aber zu den Schlaganfällen, an denen er 1924 verstarb. Diese drei Attentate führten die Bolschewiki dazu, die Todestrafe wieder einzuführen, die bei der Machtübernahme abgeschafft worden war, und dazu, den Roten Terror zur Bekämpfung des Weissen Terrors zu organisieren, der sich im Bürgerkrieg ausbreitete.
Der vierte Sowjetkongress im März 1918 ratifizierte den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der den Frieden brachte. Die Linken Sozialrevolutionäre, zu diesem Zeitpunkt Koalitionspartner der Bolschewiki, konnten dies nicht dulden, da sie den Krieg mit Deutschland auf revolutionärer Grundlage weiterführen wollten. Deshalb verliessen sie an diesem Kongress die Arbeiterregierung, was zu einer rein bolschewistischen Regierung führte. So gross war ihre Begeisterung für den Krieg mit Deutschland, dass Mitglieder der Linken SR durch ihre Positionen in der Tscheka sich Zugang zur deutschen Botschaft verschafften und den Diplomaten Mirbach ermordeten.
Dieser Schlag wurde vom Versuch, in Moskau die Macht zu übernehmen, und von Aufständen in verschiedenen Provinzzentren gefolgt. […] Der bekannte SR-Terrorist Sawkinow behauptete später, diese Revolten organisiert zu haben und vom französischen Militärattaché in Moskau finanziert worden zu sein. Angesichts des Ausmasses dieses Landesverrats zu einem Zeitpunkt, da alliierte Truppen in Murmansk und Wladiwostok landeten, da tschechische Legionen den Bolschewiki die offene Feindschaft erklärt hatten, und da in jeder Richtung Krieg drohte […] erliess [der fünfte Sowjetkongress] eine vorsichtig formulierte Resolution mit der Aussage, dass ‘insofern als gewisse Teile der Linken SR damit liebäugeln, durch Mord an Mirbach den Krieg gegen Deutschland und die Auflehnung gegen die Sowjetmacht zu befeuern, insofern können diese Organisationen keinen Platz im Arbeiter- und Bauernsowjet erhalten.»
Carr, ebd. S. 173-174
Im Mai 1918 forderten die Rechten SR offen den Sturz des bolschewistischen Regimes und eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie (als ob das in diesen Umständen möglich gewesen wäre!). Sie zählten dabei auf die Unterstützung des britischen und französischen Imperialismus (was laut ihnen notwendig war, da au ch der Krieg mit Deutschland fortgesetzt werden sollte). Dieser Aufruf der SR zum Krieg führte zu deren Ausschluss aus dem Zentralexekutivkomitee, von der Empfehlung gefolgt, dass die lokalen Sowjets im Sinne der Bürgerkriegsbemühungen ebenso verfahren sollten. Dasselbe galt für Menschewiken, die eine ähnliche Position vertraten. Im Bürgerkrieg kämpften SR und Menschewiken Seite an Seite mit den imperialistischen Armeen und reaktionären weissen Generälen des Zarenregimes. So steuerten sie mehr zu Tod und wirtschaftlicher Zerstörung bei als jede bolschewistische Repression zu dieser Zeit.
Wir dürfen das Mass an Repression, zu dem die Bolschewiki sich gezwungen sahen, aber nicht übertreiben. Trotz des Dekretes, das Parteien und Zeitungen verbot, die offen Ungehorsam und Gewalt gegen die Arbeiterregierung predigten, blieben die meisten Parteien und Zeitungen aktiv, von den Kadetten (den bürgerlichen Liberalen) bis zu den Menschewiki und AnarchistInnen.
Als der sechste Gesamtrussische Sowjetkongress, der erste fast ausschliesslich bolschewistische Kongress, sich am ersten Jahrestag der Revolution versammelte, erliess er umgehend eine Massnahme, die als ‘Amnestie’ beschrieben wurde und die Freilassung aller befahl, die ‘von den Organen zur Bekämpfung der Konterrevolution’ verhaftet worden waren, es sei denn, gegen sie wurde eine definitive Anklage wegen konterrevolutionärer Aktivitäten erhoben.»
Carr, ebd. S. 178
Dieser Kongress gewährte auch allen BürgerInnen das Recht auf Widerruf der Beamten und sprach den lokalen Sowjets mehr Macht gegenüber der nationalen Exekutive zu. Der Kongress suchte ebenfalls die Versöhnung mit den Menschewiken, die zu dieser Zeit eine Konferenz abgehalten hatten, die zum Beschluss geführt hatte, dass die Oktoberrevolution akzeptiert und die «Kollaboration mit feindlichen Klassen beendet» werden sollte. Ab diesem Zeitpunkt, also Ende 1918, war es den Menschewiki und SR gestattet, aktiv zu sein, in die Sowjets gewählt zu werden, ihre Zeitungen zu veröffentlichen usw. Über die nächsten zwei Jahre (also während des Bürgerkriegs) agierten diese Parteien in der Öffentlichkeit und wurden auch in Sowjets gewählt. Von Zeit zu Zeit fielen sie in die Unterstützung der Konterrevolution zurück, was zu Razzien in ihren Büros, Beschlagnahmung gewisser Zeitungsausgaben usw. führte.
Wir dürfen nicht vergessen, dass während alledem ein ungeheuerlich brutaler Bürgerkrieg wütete. Sowjetrussland wurde von den westlichen Imperialisten unter ein Embargo gesetzt und gezielt ausgehungert. Es herrschten gelinde gesagt unglaublich schwierige Bedingungen, um eine blühende Demokratie zu pflegen (was Liberale scheinbar vom ersten Tag an von der Revolution erwarten). Dennoch waren ArbeiterInnen, abgesehen von sporadischen Verboten und Repressionen anderer Parteien, dazu berechtigt, ihre Fabriken zu verwalten und Delegierte in die Sowjets zu wählen. Und noch immer hatten sie in einem Ausmass Zugriff zu Kommunikationsmitteln und Versammlungen, wie es unter der vorherigen Herrschaft des Privateigentums unmöglich gewesen war.
Die Bolschewiki sind für ihre Praxis des «demokratischen Zentralismus» bekannt. Daraus wird viel Aufhebens gemacht, vor allem von AnarchistInnen. Sie stellen ihn als rein zentralistisch oder autoritär dar. Tatsächlich ist der demokratische Zentralismus nur das allgemeine Prinzip der Arbeiterdemokratie. Die Entscheidung der ArbeiterInnen zum Streik wird nach einer offenen Debatte und Abstimmung gefasst. Das ist der eine Bestandteil der Demokratie. Wenn die Entscheidung zum streiken jedoch einmal getroffen wurde, muss sie stark zentralisiert durchgesetzt werden, das heisst, dass diejenigen, die dagegen stimmen, nicht einfach aussteigen können. Könnten alle ArbeiterInnen so verfahren, wie sie wollten, was ist dann der Sinn des Streiks oder einer Gewerkschaft? StreikbrecherInnen müssen zur Niederlegung der Arbeit gebracht werden. Das ist Zentralismus: der notwendige zweite Teil der Demokratie.
Dies bedeutet in einer revolutionären sozialistischen Regierung, dass ArbeiterInnen die volle Freiheit dazu haben, sich an Diskussionen, Sowjetwahlen und der Kontrolle über ihre Arbeitsplätze zu beteiligen. Dieser Prozess muss aber von einer übergeordneten politischen Führung und einer nationalen Wirtschaftsplanung gelenkt werden, der alle Arbeitsplätze unter Arbeiterkontrolle unterstellt sind.
Es existieren viele naive Vorstellungen über Arbeiterkontrolle, die den Einfluss des Anarchismus oder des Syndikalismus in der Linken reflektieren. So wird angenommen, Arbeiterkontrolle würde bedeuten, dass alle am Arbeitsplatz volle Autonomie besässen und tun und lassen könnten, was sie wollten. AnarchistInnen betonen die Notwendigkeit eines föderalen Systems anstelle eines zentralisierten. Für sie bedeutet Autorität in dieser oder jener Fabrik oder Industrie eine Verletzung der Arbeiterdemokratie. In den ersten Tagen der Revolution wurden viele Debatten darüber geführt, wie zentralisiert oder föderal der Staat sein sollte. Eine Gruppe, die als «Linkskommunisten» bekannt war und zu der auch hochrangige Bolschewiki wie Bucharin gehörten, sprach sich für viel grössere Autonomie in der lokalen Arbeiterkontrolle und für den vollständigen Ausschluss von Fachleuten des alten Systems aus. Diese Debatte wurde durch die Notstände des Bürgerkriegs unterbrochen.
Sofort nach der Machtergreifung erliess Lenin folgendes Dekret, das die ArbeiterInnen zur Kontrollübernahme in ihren Betrieben aufrief:
«1. In allen Industrie-, Handels-, Bank-, landwirtschaftlichen und sonstigen Unternehmen mit nicht weniger als fünf Arbeitern und Angestellten (insgesamt) oder mit einem Umsatz von nicht weniger als 10.000 Rubel jährlich wird die Arbeiterkontrolle über die Herstellung, die Aufbewahrung und den Kauf und Verkauf aller Produkte und Rohstoffe eingeführt.
2. Die Arbeiterkontrolle führen alle Arbeiter und Angestellten des Unternehmens durch: entweder direkt, wenn das Unternehmen so klein ist, dass das möglich ist, oder durch ihre gewählten Vertreter, die sofort in allgemeinen Versammlungen zu wählen sind. In den Wahlversammlungen müssen Protokolle geführt werden, und die Namen der Gewählten sind der Regierung und den örtlichen Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräten mitzuteilen.
3. Ohne Erlaubnis der gewählten Vertreter der Arbeiter und Angestellten ist es streng verboten, einen Betrieb oder Produktionszweig, der allgemein staatliche Bedeutung hat (siehe § 7), stillzulegen oder irgendwelche Änderungen in seiner Tätigkeit vorzunehmen.
4. Diesen gewählten Vertretern müssen alle Bücher und Dokumente ohne Ausnahme, ferner alle Lager und Vorräte an Material, Werkzeugen und Produkten ohne jede Ausnahme geöffnet werden.
5. Die Beschlüsse der gewählten Vertreter der Arbeiter und Angestellten sind für die Besitzer der Betriebe bindend und können nur durch die Gewerkschaften oder Gewerkschaftskongresse aufgehoben werden.
6. In allen Betrieben von allgemein staatlicher Bedeutung tragen alle Besitzer und alle gewählten Vertreter der Arbeiter und Angestellten, die zur Durchführung der Arbeiterkontrolle gewählt wurden, vor dem Staat die Verantwortung für die strengste Ordnung, Disziplin und den Schutz des Eigentums. Wer sich der Fahrlässigkeit, der Verheimlichung von Vorräten, Rechenschaftsberichten usw. schuldig macht, wird mit Konfiskation des gesamten Eigentums und Gefängnis bis zu 5 Jahren bestraft.
7. Als Betriebe von allgemein staatlicher Bedeutung gelten alle Betriebe, die für die Landesverteidigung arbeiten, ebenso alle Betriebe, die in dieser oder jener Weise an der Herstellung der für die Existenz der Volksmassen notwendigen Produkte beteiligt sind.
8. Genauere Bestimmungen über die Arbeiterkontrolle werden von den lokalen Arbeiterräten und Betriebsrätekonferenzen sowie von den Angestelltenausschüssen in den allgemeinen Versammlungen ihrer Vertreter festgesetzt.»
Lenin, Entwurf des Dekrets über Arbeiterkontrolle
Zu dieser Zeit vereinbarte man auch einen Lohn für Kommissare (mit einem Minister gleichzusetzen) von 500 Rubel, was in etwa dem Lohn eines Facharbeiters entsprach. Lenins vier Prinzipien der Arbeiterdemokratie, weiter oben zitiert, wurden in die Tat umgesetzt! Arbeitertribunale wurden eingerichtet, die das Justizsystem aus den Händen der alten, privilegierten Staatsbürokratie befreien sollten.
Natürlich waren diese Dekrete für sich genommen nur Worte auf Papier – obwohl ArbeiterInnen tatsächlich ihre Arbeitsplätze übernahmen und die Massnahme erfolgreich den bürgerlichen Staat und die bürgerliche Unternehmensführung zerschlugen. Bereits Marx hatte die Notwendigkeit davon erklärt. Doch wirkliche Verwaltung, effektive Kontrolle und Planung, sind in der Praxis nur innerhalb der Grenzen der Technik, Bildung, Zeit, und den materiellen und der kulturellen Bedingungen realisierbar.
In Russland war der Plan, dass das Eigentum zunächst in den Händen der Bourgeois verbleiben sollte, während Arbeiterkontrolle bedeutete, die Einstellungen und Kündigungen, Löhne usw. zu kontrollieren. Trotzki erklärte:
[Mit Kontrolle meine ich], dass wir sicherstellen werden, dass die Fabrik nicht aus Profitinteresse, sondern vom Standpunkt der demokratisch beschlossenen sozialen Wohlfahrt betrieben werden. Zum Beispiel werden wir es nicht erlauben, dass der Kapitalist seine Fabrik schliesst, um seine Angestellten mit Hunger zu erpressen oder weil sie ihm keinen Profit erbringt. Produziert sie ein wirtschaftlich notwendiges Gut, so muss sie weiterlaufen. Gibt sie der Kapitalist auf, verliert er sie vollständig, denn dann wird ein von den Arbeitern gewählter Verwaltungsrat eingesetzt. […]
Nochmals, ‘Kontrolle’ bedeutet, dass die Geschäftsbücher und Korrespondenz des Unternehmens für die Öffentlichkeit zugänglich sind, so dass von nun an kein Geschäftsgeheimnis mehr besteht. Sollte dieses Unternehmen ein besseres Verfahren oder Gerät entwickeln, wird dies allen anderen Unternehmen in der gleichen Branche mitgeteilt, so dass so umgehend der grösstmögliche Nutzen daraus gezogen werden kann. Momentan wird es, motiviert durch das Profitmotiv, vor anderen Firmen verborgen, und das Produkt wird möglicherweise jahrelang für die konsumierende Masse unnötig verknappt und verteuert. […] ‘Kontrolle’ bedeutet auch, dass mengenmässig begrenzte Rohstoffe wie Kohle, Öl, Eisen, Stahl usw. nach sozialer Nützlichkeit an die verschiedenen Werke verteilt werden. [Dies erfolgt nicht] nach wettbietenden, konkurrenzierenden Kapitalisten, einer gegen den anderen, sondern nach vollständigen und sorgfältig erstellten Statistiken.»
Wie man sieht, hatte die von der Oktoberrevolution beschlossene Arbeitermacht einen deutlichen Übergangscharakter. Die Idee, die Bourgeoisie als Eigentümer beizubehalten, widerspiegelte das Verständnis der Bolschewiki dafür, dass den ArbeiterInnen Zeit und Fähigkeiten dazu fehlten, plötzlich die gesamte Wirtschaft zu lenken. Doch den ArbeiterInnen in der oben beschriebenen Weise die Kontrolle zu übergeben, stand im klaren Widerspruch dazu, die Betriebsführung in den Händen der Bourgeoisie und ihrer VerwalterInnen zu belassen. Denn diese wollen nur ihre privaten Profite machen und werden die Vorstösse der ArbeiterInnen und die allgemeinen Bedürfnisse der Bevölkerung nicht tolerieren. So wurde am Arbeitsplatz also eine Situation der Doppelherrschaft geschaffen. In der Praxis zwang der Bürgerkrieg die Bolschewiki dazu, in die Offensive zu gehen und den Besitz der Bourgeoisie zu enteignen, damit diese die neue Regierung nicht mit Produktionsstopps sabotieren konnten.
Der Beschluss der Arbeiterkontrolle überzeugte zu dieser Zeit viele AnarchistInnen – und tatsächlich glich die Situation, die dadurch entstand, der totalen Anarchie! Wie gesagt hängt die Arbeiterkontrolle in der Praxis vom tatsächlichen ökonomischen, technischen Niveau ab, vom Niveau der Bildung so wie auch von der Zeit und der kulturellen Entwicklung. In Russland waren alle diese Faktoren stark eingeschränkt. In der Realität war dieser anarchistische Traum der Arbeiterkontrolle im frühen 1918 sehr chaotisch und die Wirtschaft zerfiel zusehends.
Ein ArbeiterInnenführer der Zeit erklärte das Problem: «Die Arbeiterkontrolle hatte sich in einen anarchistischen Versuch verwandelt, den Sozialismus in einem Betrieb einzuführen, der aber tatsächlich zu Konflikten zwischen den Arbeitern führte und zur Verweigerung von Brennstoff, Metall usw. untereinander.» (Zitiert in Avrich, The Russian Anarchists, S. 164).
Die sehr nachteilhaften wirtschaftlichen Bedingungen drangen einige ArbeiterInnen zum Diebstahl. Manche Fabriken wurden von den Angestellten leergeräumt. ArbeiterInnen in strategisch wichtigen Industrien oder solchen, die sehr knappe und darum sehr gefragte Güter herstellten, verschworen sich teilweise mit den alten EigentümerInnen dazu, die Produktion aufzuhalten, um einen besseren Preis erzielen zu können. In einigen Fällen, wie es zum Beispiel bei einer Moskauer Knopffabrik geschah, hatten die ArbeiterInnen die ehemalige Verwaltung ausgeschlossen, nur um dann festzustellen, dass ihnen das technische Wissen fehlte und sie die Verwaltung dann um ihre Rückkehr anflehen mussten!
Das ist kein Argument gegen Arbeiterkontrolle. Diese Fehler waren teilweise Resultat der frühen Unerfahrenheit und Euphorie der neu ermächtigten ArbeiterInnen, grössenteils aber durch den akuten Mangel und das wirtschaftliche Chaos des dreijährigen Bürgerkriegs bedingt. Niemand konnte sicher sein, ob Rohmaterial zur Produktion bereitstand oder ob Güter abtransportiert werden konnten, und alle waren mit ernstem Hunger und Armut konfrontiert; natürlich ergriffen viele sehr kurzsichtige, aber umso verzweifeltere Massnahmen.
Es gab auch politische Hindernisse zur vollständigen Arbeiterkontrolle. Obwohl der bolschewistische Aufstand von der Mehrheit der Arbeiterklasse aktiv unterstützt wurde, gab es natürlich einen kleinen Teil, der sich dem Wandel widersetzte. Die ArbeiterInnen des Telegrafennetzes zum Beispiel weigerten sich, die Kommunikationen der neuen Regierung zu verarbeiten, denn sie gehörten zu einem relativ privilegierten Teil der Arbeiterklasse, der sich niemals als Arbeiterklasse identifizierte oder sich ihr zugehörig fühlte. Wie John Reed in seinem Klassiker Zehn Tage, die die Welt erschütterten beschreibt, versuchte die neue Arbeiterregierung, sie zur Wiederaufnahme der Arbeit zu bewegen:
Der kleine Wischnjak, Kommissar des Revolutionären Militärkomitees, versuchte die Mädchen zum Bleiben zu bewegen. Er war äusserst höflich. ‘Ihre Arbeitsbedingungen sind doch so schlecht’, sagte er. ‘Die Telefonämter standen bisher unter der Leitung der Stadtduma. Sie verdienen pro Monat 60 Rubel und müssen zehn und mehr Stunden dafür arbeiten. Das wird von jetzt ab anders werden. Die Regierung beabsichtigt, den Telefonbetrieb der Kontrolle des Post- und Telegrafenministeriums zu unterstellen. Man wird ihre Gehälter sofort auf 150 Rubel erhöhen und ihre Arbeitszeit verkürzen. Als Angehörige der arbeitenden Klasse sollten sie darüber froh sein.»
John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, Mehring Verlag, S.170
Dann wurde er aber unterbrochen und sie verweigerten die Arbeit. Auch die Gewerkschaftsführung der EisenbahnarbeiterInnen, als Wikschel bekannt, war unter menschewistsicher Führung. Sie war konservativ und bedrohte das Überleben der neuen Regierung konstant durch das Anhalten der Züge. Eine Minderheit der Arbeiterklasse hielt die Revolution in Geiselhaft.
Eine Arbeiterregierung würde unter diesen Umständen versuchen, diese rückständige Minderheit der Klasse von der harmonischen Zusammenarbeit mit der gesamten Klasse zu überzeugen. Hier besteht aber keine Erfolgsgarantie, und je schwieriger die objektiven Bedingungen, desto stärker werden Teile der Arbeiterklasse dazu verleitet, ihre sektoriellen Partikularinteressen vor die anderen zu stellen. Victor Serge zitiert einen Bolschewiken, der die ausserordentlichen Probleme in der Arbeiterkontrolle im Jahre 1918 ausführlich beschreibt:
Unter diesen Bedingungen war es unbeschreiblich schwierig, die unterschiedlichen Departemente der städtischen Administration wieder zum Laufen zu bringen. Ein Streik aller Angestellten, Doktoren, Lehrer, Ingenieure, ohne Ausnahme; ihr Boykott ihrer Aufgabenbereiche; die Sabotage, die von den neuen Amtsinhabern ausgeübt wurde, nebst der Notwendigkeit, den Handarbeitern ihren normalen Lohn auszuzahlen (die zivile und militärische Verwaltung in Moskau beschäftigte über 200’000 solcher Arbeiter); die Notwendigkeit, zehntausende Flüchtlinge zu ernähren und um jeden Preis Wasser, Abwasser, Strassenbahnen, Gas, Strom und Schlachthöfe in Betrieb zu halten: Diesen Problemen mussten sich unsere Arbeiter und Aktivisten sofort stellen, trotz ihrer extremen Unerfahrenheit in diesen Belangen, ohne irgendwelche Mittel abgesehen von ihrem Verstand.»
Serge, ebd., S. 90
Was sollte eine Arbeiterregierung in so verzweifelten Bedingungen tun? Es gab in der Tat viele Uneinigkeiten innerhalb der Regierung und der bolschewistischen Partei, die oft die oben erwähnte linkskommunistische Fraktion involvierte. Lenin antwortete bei einer Versammlung der sowjetische Exekutive im März 1918 auf die linke Kritik zur Abhängigkeit der Regierung von der zentralen Autorität:
Wenn ich hunderttausende Beschwerden höre, wenn im Land Hunger herrscht, wenn du siehst und weisst, dass diese Beschwerden alle der Wahrheit entsprechen, dass wir Brot haben, es aber nicht befördern können [weil die konservative Gewerkschaft Wikschel sich weigerte und tatsächlich kurz davor gedroht hatte, Petrograd vollständig von der Versorgung abzuschneiden], wenn uns wegen Massnahmen wie unserem Eisenbahndekret von Linkskommunisten Häme und Protest entgegenschlägt…» (Lenin brach ab mit einer Geste der Verachtung.)
EH Carr, The Bolshevik Revolution 1917-1932, Bnd. II, S. 395
Es gab keine Alternative, als die Bestimmung zur Arbeiterkontrolle von oben aufzuheben. AnarchistInnen beklagen sich über diese «Ein-Mann-Verwaltung» (im Gegensatz zur kollektiven Verwaltung), welche anderen Möglichkeiten boten sich aber in dieser Situation?
Darüber hinaus kann Arbeiterdemokratie, und Sozialismus im Allgemeinen, sogar unter den allerbesten Bedingungen nicht bedeuten, dass jeder einfach tun und lassen kann, was er will. Arbeiterkontrolle ohne übergeordneten Plan ist nur ein System von Genossenschaftskapitalismus, in dem jeder Arbeitsplatz – zwar demokratisch – Entscheidungen trifft, die aber weiter auf der Grundlage der Marktanarchie und der Profitjagd geschehen müssen, nicht auf der Grundlage der sozialen Bedürfnisse. Sozialismus bedeutet die vollständige Harmonisierung der Anstrengungen der gesamten Gesellschaft zur Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Erst diese Errungenschaft kann echte Freiheit für das Leben der Massen bringen, indem sie sie von Armut, langen Arbeitszeiten, Wettstreit um knappe Ressourcen usw. befreit.
Trotzki erklärte, was Sache war:
Nein, Arbeiter werden nicht die vollständige Kontrolle über ihren Arbeitsplatz haben. Sie werden sich an Richtlinien halten müssen, die vom lokalen Sowjet der Arbeiterdelegierten ausgehen […] und ihre Entscheidungsfreiheit wird wiederum begrenzt von den Regelungen, die für jede Industriebranche von den Ämtern und Ministerien der Zentralregierung ausgehen. Kropotkins Kommunalismus würde in einer einfachen, auf Landwirtschaft und Heimwirtschaft aufbauenden Gesellschaft funktionieren, ist aber für die Gegebenheiten einer modernen, industriellen Gesellschaft völlig unzulänglich. Die Kohle aus dem [ukrainischen] Donbass wird nach ganz Russland gebracht und ist in einer ganzen Reihe von Industrien unverzichtbar. Nun ist doch logisch, dass, wenn die organisierten Bewohner dieses Bezirks mit der Kohle verfahren könnten, wie es ihnen beliebte, sie den ganzen Rest Russlands aufhalten könnten, wenn sie es nur wollten? In einer Gesellschaft, welche die Stufe der lokalen Spezialisierung der Industrie erreicht hat, würde vollständige Unabhängigkeit jedes Ortes in Bezug auf seine Industrien endlose Reibereien und Schwierigkeiten bedeuten. Sie könnte sogar den Bürgerkrieg bedeuten. Kropotkins Russland ist das Russland von vor 60 Jahren, das Russland seiner Jugend.»
Trotsky, In Defence of the Russian Revolution, Workers’ Control and Nationalisation
Mit Arbeiterkontrolle meinen wir die lokale Kontrolle über Einstellungen und Kündigungen, die Wahl des Managements, und natürlich das Recht, Delegierte in die lokalen Sowjets und in andere Versammlungen zu wählen, welche Wirtschaftspläne entwickeln. Aber der gesamtheitliche Plan muss, wenn er einmal erstellt ist, den Vorrang haben. Ein Arbeitsplatz kann sich nicht einfach vom Plan ausnehmen, obwohl er ihn natürlich frei kritisieren und an seiner Ausarbeitung teilnehmen kann.
Ursprünglich wurde in Russland der WSNCh als oberster wirtschaftlicher neben dem politischen Rat gebildet. Er sollte einmal im Monat zusammenkommen. Sein Aufgabengebiet war die Regulierung und Organisation aller Produktion und Verteilung sowie die Verwaltung aller Betriebe der Sowjetrepubliken. Es bestand aus zehn Mitgliedern aus der Exekutive des politischen Sowjets, 20 Mitgliedern aus der regionalen Industrie und nochmals 30 aus den Gewerkschaften. Die Wirtschaftsplanung erfolgte hauptsächlich durch Kreditvergabe an verstaatlichte Industrien.
Unter dem WSNCh wurde jede Industrie von einem «Glawki» verwaltet, der für die Umsetzung des allgemeinen Plans und die Organisierung der verstaatlichten Industrie zuständig war. Glawki-Departemente bestanden zu 10 Prozent aus ehemaligen Angestellten, 9 Prozent TechnikerInnen, 38 Prozent Regierungsbeamten und 43 Prozent ArbeiterInnen oder ihren VertreterInnen.
Während des Bürgerkriegs konnten diese Gremien aber nur selten einmal pro Monat tagen. Der WSNCh und die Glawkis tendierten zu stark zum Zentralismus. Immer weniger und weniger Genossen trafen die Entscheidungen. Dies war hauptsächlich den dringenden Notwendigkeiten des Bürgerkriegs geschuldet. Entscheidungen mussten innerhalb von Sekundenbruchteilen getroffen werden. Man hatte ein wirtschaftliches und organisatorisches Chaos geerbt. Das bedeutete in Verbindung mit dem Bürgerkrieg, dass alles flüssig, alles unsicher war. Deswegen mussten die Pläne aus grösseren Versammlungen immer wieder von kleineren Gruppen abgeändert werden. Es bestand Uneinigkeit über den Druck zur Produktivitätssteigerung. Beispielsweise mussten einige unproduktive Fabriken geschlossen werden, was aber Streiks und Konflikte zwischen der Regierung und einigen ArbeitervertreterInnen provozierte. Das ist ein weiteres Beispiel für die Probleme der Arbeiterkontrolle unter diesen schwierigen Umständen. Diese Tendenz zum Konflikt zwischen dem Zentrum, das den übergeordneten Plan darstellte, und den lokalen ArbeiterInnen, führte unausweichlich zur Überzentralisierung.
Dieselben Drücke wirkten sich auf den Sowjetkongress aus, dem Souverän. Während des Bürgerkriegs konnte er nicht die vorgesehenen halbjährlichen Treffen abhalten, sondern konnte nur einmal pro Jahr zusammenkommen. In einem Land, das gerade durch einen brutalen Bürgerkrieg verwüstet wurde, war es schlicht nicht möglich, in einem solchen Takt hunderte Arbeiterdelegierte zu wählen und aus dem ganzen Land anreisen zu lassen. Tatsächlich kämpften viele der potenziellen Delegierten selber im Bürgerkrieg. Hier sehen wir, dass die objektiven Bedingungen einer Revolution in einem isolierten und rückständigen Land die für die Errichtung des Sozialismus so zentrale Arbeiterdemokratie erst konstant untergrub und schliesslich komplett vernichtete. Die Sowjets verkümmerten. Statt gemeinschaftlicher Arbeiterverwaltung herrschten zusehends professionelle Bürokraten:
Es ist unbestreitbar, dass der Sowjetbürokrat dieser frühen Jahren in der Regel ehemals der bürgerlichen Intelligentsia oder der Beamtenklasse angehörte und viele Traditionen der alten russischen Bürokratie mit sich brachte. Die selben Gruppen verfügten aber über die Spur von Wissen und technischer Fertigkeiten, ohne die der Staat nicht hätte überleben können.»
EH Carr, The Bolshevik Revolution 1917-1932, Bnd. I, S. 187
Für Marxisten ist die Arbeiterkontrolle keine abstrakte Frage. Sie beruht nicht auf formalen Regeln – einem blossen Recht zu diesem oder jenem. Die Arbeiterklasse braucht wirkliche, materielle Macht, um die Gesellschaft zu verändern und die Anarchie, Armut und Entfremdung des Kapitalismus zu beenden. Dafür benötigen wir gut ausgebildete Arbeitskräfte, die über genügend Zeit verfügen, um an der Arbeiterdemokratie teilzunehmen. Wir brauchen fortgeschrittene und integrierte Industrien, die gut koordiniert und hochproduktiv sind, um Jahr für Jahr alle Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigen zu können. Wir müssen die Produktivität steigern, um Arbeitszeiten zu reduzieren und die Teilnahme der ArbeiterInnen an der alltäglichen Verwaltung der Gesellschaft zu ermöglichen. Die blosse Kontrolle am Arbeitsplatz an sich ist kaum dazu geeignet, dies zu verwirklichen, und sie ist nur ein Teil der Rechnung. In Russland waren die materiellen Bedingungen schlichtweg zu schlecht, um ohne revolutionäre Hilfe aus den fortgeschritteneren Ländern diese Ziele zu erreichen. Diese Hilfe kam nie.
Lenin versuchte stets, die Initiative von unten zu befeuern. Nach dem Sieg im Bürgerkrieg versuchte die Kommunistische Partei an ihrem 10. Kongress, sich nach diesen argen Jahren zu öffnen. Sie ermutigte breite Debatten über ihre Entscheidungen und die Kontrolle über zentrale Organe vonseiten der Basismitglieder. Leider wurde dies von einer tiefen wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Krise und einer Hungersnot begleitet (die zur Neuen Ökonomischen Politik führte), einem Notstand, der alle Bemühungen zur Demokratie unterbrach.
War Lenin auch von den praktischen Zwängen dazu gezwungen, eine stets wachsende Zentralisierung der Autorität hinzunehmen, so gibt es keine Belege dafür, dass er von seinem Glauben in das Gegengift der ‘direkten Demokratie’ abgefallen wäre. Doch er begann zu verstehen, dass der Prozess langsamer sein würde, und der Sumpf der Bürokratie schwieriger zu beheben, als er zuerst gehofft hatte […] Im April 1921 erliess der Rat der Volkskommissare ein Dekret, dessen ausdrückliches Motiv es war, ‘die Verbindung zwischen sowjetischen Ins titutionen und den breiten Arbeitermassen aufrecht zu erhalten, den sowjetischen Apparat zu beleben und ihn nach und nach von bürokratischen Elementen zu befreien’. Dieses Dekret verfolgte unter anderem den Zweck, Arbeiterinnen und Bäuerinnen in die lokalen Sektionen der Exekutivkomitees und der Sowjetkongresse zu bringen.»
EH Carr, The Bolshevik Revolution 1917-1932, Bnd. I, S. 230
Letztlich machten die objektiven Bedingungen der russischen Revolution – Isolation, Armut, Analphabetismus und lange Arbeitszeiten – die grossflächige Aussortierung privilegierter BürokratInnen durch eine proletarische Bewegung unmöglich. Die Bemühungen der Massen und der Kommunistischen Partei in diese Richtung waren aber sehr echt. Sie waren nicht vergebens und gingen viel weiter als in jedem anderen Fall in der Geschichte. Die Arbeitermacht in der Russischen Revolution ist eine enorme Inspiration und unschätzbar wertvolle Lektion für RevolutionärInnen und ArbeiterInnen rund um die Welt. Und sie wird eine grosse Hilfe für zukünftige Arbeiterregierungen sein, wenn sie dereinst versuchen, die Arbeiterkontrolle der Produktion in die Tat umzusetzen. Nur wird dieser Versuch in den fortgeschrittenen Bedingungen der modernen Industrie ein vollkommener Erfolg werden.
Die Arbeiterdemokratie wird erneut verwirklicht werden und sie wird eine Breite und Tiefe einnehmen, die für uns, die wir in der kapitalistischen Scheindemokratie leben, unvorstellbar ist.
Von Daniel Morley, Original auf Englisch
Bild: Public Domain, Wikimedia
Perspektive — von der Redaktion — 20. 12. 2024
Nah-Ost — von Hamid Alizadeh, marxist.com — 08. 12. 2024
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024