In Serbien ist es in den vergangenen Tagen zu Massenprotesten gekommen, deren konkreter Auslöser die Verhängung einer Ausgangssperre war. Tatsächlich ist diese jüngste Entscheidung der serbischen Regierung nur ein Fokuspunkt, an dem sich nun der gesamte aufgestaute Unmut und Hass gegenüber den Zuständen des Kapitalismus in Serbien entlädt.

Die Proteste sind wohl die größten seit dem Sturz des Diktators Slobodan Miloševićs in den frühen 2000ern. Wir veröffentlichen hier eine Übersetzung der ersten Stellungnahme unser jugoslawischen Schwesterorganisation „Crveni“ vom 8. Juli. Inzwischen wurden die Maßnahmen der Regierung bereits zurückgenommen, aber die Proteste gehen weiter.

Allen ist klar, dass die Verhängung der Ausgangssperre für das Wochenende keinen gesundheitstechnischen Zweck im Kampf gegen Corona erfüllt. Vielmehr ist es der jüngste Akt von Missbrauch der Regierung an der Bevölkerung. Ihre Grundlage ist die Tatsache, dass sich die Regierung zunehmend ihrer Unfähigkeit, die Gesundheitskrise zu überstehen bewusst wird, und panisch Maßnahmen einführt.

Die gestrigen Proteste haben gezeigt, dass die Geduld der Massen vor dem Ende steht, und dass eine immer größere Bereitschaft besteht, auf die Vergehen des Regimes mit zivilem Ungehorsam zu antworten. Sie sind jedoch auch tiefer Ausdruck der allgemeinen Unzufriedenheit. Aufgrund des spontanen Charakters der Proteste sowie ihrer politischen Orientierungslosigkeit haben sie jedoch kaum Kapazitäten, die gewünschten Veränderungen zu erbringen. Im Gegenteil – solche spontanen Proteste vergeuden nur Energie und machen die Bewegung anfällig für die Einflüsse von Provokateuren und parteipolitischen Profitträgern. Zusätzlich gefährden die Proteste auch die Gesundheit der Demonstranten, die sich durch engen Körperkontakt einer möglichen Ansteckung aussetzen. Dies kann für manche gar lebensbedrohlich sein. Der spontane Charakter des Proteste und das Fehlen artikulierter politischer Forderungen hat auch den Faschisten Raum gegeben. Diese haben die ganze Nacht über versucht soziale Forderungen in ihrem Geheul über den Kosovo zu ertränken. Nationalistische Forderungen mögen vielleicht kämpferisch wirken, aber sie führen zu keinem reellen Kampf. Im Gegenteil – sie lenken vom wahren Kampf gegen die ständigen Angriffe des Regimes auf unser Leben ab.

Die Faschisten diskreditieren mit ihrem patriotischen und rassistischen Wahn die legitime Wut der Massen und geben so dem Regime die Gelegenheit sich selbst und die eigenen kriminellen Maßnahmen als „vernünftig“ darzustellen. Außerdem benutzt die Regierung die Faschisten, um jede Bewegung, die sich der Repression widersetzt, fälschlicherweise als extremistisch darzustellen. Bereits heute profitiert Vučić von diesem Bild der Proteste, wobei die Verantwortlichkeit dafür weniger bei dem Großteil der Protestierenden, sondern eher bei einer Handvoll rechter Provokateure liegt – die Instrumente der Polizei.

Die Provokation diente dem Regime als Rechtfertigung dafür, ihre polizeilichen Schlägertypen auf die Demonstranten losgehen zu lassen. Neben Tränengas wurden auch Polizeihunde sowie -Pferde und gepanzerte Fahrzeuge eingesetzt. Offensichtlich probt das Regime seine Unterdrückungsmaßnahmen, was wiederum bedeutet, dass sie noch viel größere soziale Konflikte und Kämpfe erwarten. Davon zeugt auch die neue Ausrüstung, die man gestern bereits an den Polizisten sehen konnte.

Wir müssen der organisierten Repression vonseiten des Regimes eine organisierte Massenbewegung entgegenstellen, die klare politische Ziele hat. Diese Ziele dürfen keine abstrakten Parolen über Nation, Zivil- und Rechtsstaatlichkeit oder ähnliches sein. Ein Aufzählen dieser trivialen Dinge bringt uns nirgendwohin. Eine ernste Bewegung gegen das Regime muss, um Erfolg zu haben, auch gleichzeitig antirassistisch sein. Sie muss sich der Aufgabe annehmen, mit allen Ursachen des aktuellen Zustandes in Serbien aufzuräumen, nicht nur mit diesem oder jenem Symptom.

Es ist klar, dass die aktuelle Situation ein Resultat der über 30 Jahre andauernden Zerstörung der Wirtschaft und des Sozialstaates im Interesse einer Handvoll Tycoone und ausländischen Investoren ist. Das sind die Interessen, denen Vučić und all seine Vorgänger tatsächlich dienen.

Außerdem wird es immer weniger möglich, durch den Verweis auf das Ausland ein Ventil zu haben, da aktuell auch alle EU-Länder bereits in einer neuen globalen Krise stecken, die wohl die größte der Geschichte sein wird. Diese Krise ist keine Folge der Corona-Pandemie, aber die Pandemie hat sie beschleunigt. Einer der wichtigsten Indikatoren der Krise ist die immer schneller fallende Nachfrage nach Arbeitskraft.

Auch die Gesundheitskrise ist eine Folge des Systems, das Profit vor Menschenleben stellt – des Kapitalismus. Der Kampf für unsere Gesundheit heute und der Kampf gegen Massenkündigungen und weitere Einschnitte im öffentlichen Bereich müssen demnach ein gemeinsamer Kampf für die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft sein, für die Macht der Arbeiterklasse.

Eine einzige Kraft, die dieses Regime umwerfen kann ist die organisierte Arbeiterklasse. Nur die organisierte Arbeiterklasse hat die Möglichkeit, über die gemeinsame Aktionen der Massen das Regime zu entmachten und die gesamte Infrastruktur zu übernehmen. Der Kampf gegen das Regime muss demnach in erster Linie ein Kampf der ArbeiterInnen sein. Er darf nicht ausbruchhaft oder abenteuerlich sein, sondern muss vonseiten der Organisationen der Arbeiter durchgeführt werden, am jeweiligen Arbeitsplatz. Das Regime wird nicht durch spontane Ausbrüche von Frustration gestürzt werden – so gerechtfertigt diese auch sein mögen.

Die Chancen stehen gut, dass Vučić die Ausgangssperre wieder zurücknimmt. Es ist bereits das zweite Mal, dass sich das Regime vor der glühenden Wut der Massen zurückzieht. Jedoch kommt mit diesem zweiten Rückzug eine klare Nachricht, dass Vučić die Macht nicht so leicht abgeben wird wie die Maßnahmen, die er einführen wollte. Die brutale Polizeirepression und die heutige Pressekonferenz zeigen dies ganz klar.

Für einen effizienten und siegreichen Kampf gegen das Regime brauchen wir umfassende Arbeitsniederlegungen, Übernahme der Betriebe durch die Beschäftigten sowie die Selbstorganisation der Gesundheitsgewerkschaften zur Formierung eines unabhängigen und kompromisslosen Krisenstabes für den Kampf gegen Corona.

Um erfolgreich gegen das Regime und die herrschende Klasse, die hinter ihm steht, vorzugehen, muss die Arbeiterklasse jeden Versuch auf Übernahme und Instrumentalisierung vonseiten bürgerlicher Parteien, die alle nur ein größerer Vučić als Vučić selbst sein wollen, abwehren. Die Arbeiterklasse braucht eine unabhängige politische Organisation – eine revolutionäre Arbeiterpartei mit einem kommunistischem Programm, die die Wirtschaft wieder in die Hände des Volkes legt, in gesellschaftliches Eigentum umwandelt.

Die Marxistische Organisation „Crveni“ ruft alle auf, die systematische Veränderungen suchen, die dem Jahrzähnte währenden Diebstahl ein Ende setzen wollen, egal welche Gesichter hinter ihm stehen, sich uns anzuschließen.

Genug haben sie von uns gestohlen, genug von uns haben sie ermordet! Jetzt ist es an der Zeit für eine Revolution!

Bild: FONET