Die Bourgeoisie Deutschlands bricht ihr scheinheiliges «Tabu». Sie kollaboriert mit dem ultrarechten Flügel der AfD, um eine Regierung zu bilden, – um einen Tag darauf genauso scheinheilig eine entrüstete Kehrtwende zu machen. Warum? Und was tun gegen die extreme Rechte?
Der Kampf gegen die AfD läuft auf den Widerstand gegen das kapitalistische System selbst hinaus.
Die Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten in Thüringen am 5. Februar 2020 lenkte alle Aufmerksamkeit auf das ostdeutsche Bundesland Thüringen. Mit nur einer Stimme Vorsprung gegenüber Ramelow (Die LINKE) wurde Kemmerich mit den Stimmen der FDP, CDU und der ganzen völkisch-nationalistischen Thüringer Sektion der AfD gewählt. Die Sache war offensichtlich abgesprochen. CDU und FDP kollaborierten mit der extremen Rechten, von der sie sich in Worten immer distanziert hatten. Lange war Kemmerich jedoch nicht Ministerpräsident: Ganze 25 Stunden später wurde das Abenteuer durch die CDU-Spitzen unter Druck der bürgerlichen Presse und spontaner Demonstrationen abgebrochen. Dieser «Tabubruch» der deutschen Bourgeoisie war kein zufälliger Schnitzer, sondern hat System: und zwar kapitalistisches. Ein Blick zurück ist nötig, um zu sehen, wie es dazu kam.
Die deutsche Arbeiterklasse hat mindestens dreissig Jahre Angriffe auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen im Nacken. Die deutsche Bourgeoisie erschuf mit der sogenannten Agenda 2010 und den Hartz-Reformen ab den 00ern den grössten Niedriglohnsektor der EU. Es wurden Einsparungen durchgeführt, Produktion ins Ausland verlagert und Löhne gedrückt. Dass die Krise von 2008 in Deutschland nicht denselben krassen Einschnitt hinsichtlich Konterreformen zur Folgen hatte wie in anderen europäischen Ländern, hat nichts mit vermeintlicher Gutmütigkeit der deutschen herrschenden Klasse zu tun, im Gegenteil. Diese hatte die Angriffstaktik bereits antizipiert und konnte gleich weiterfahren.
Spätestens mit den Bundestagswahlen von 2017 traten die Konsequenzen davon mit einem Ruck an die Oberfläche. Der Unmut drückte sich auf politischer Ebene aus. Die grossen «Volksparteien» der Nachkriegszeit, welche über Jahrzehnte die Regierungen stellten und die Konterreformen durchpaukten, wurden abgestraft. Die Wähleranteile von SPD und CDU sanken auf rekordtiefe Niveaus. Die AfD füllte das politische Vakuum und trat in den Bundestag ein. Die Wahlen seither zeigten ähnliche Entwicklungen.
Unter Absenz einer wirklichen linken Alternative konnte die AfD auf demagogische Weise den Unmut bedienen: MigrantInnen wurden zum Sündenbock für die kapitalistische Misere gestempelt. Dass die AfD im Osten Deutschlands überdurchschnittlich gewählt wird und ihr rechter Flügel hier stärker ist, ist kein Zufall. Die Lebensbedingungen in Ostdeutschland standen seit Angliederung der DDR nie auf dem Niveau der westdeutschen. Während im Osten das Kapital von den chronisch tieferen Löhnen doppelt profitiert, stellen diese mitsamt höherer Arbeitslosigkeit und dadurch verschärfter Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt einen doppelt fruchtbaren Nährboden für den Rassismus und Nationalismus der AfD dar.
Der immer stärker werdende völkische Nationalismus rund um den Björn Höcke-Flügel (Höcke ist laut Gerichtsbeschluss ein Faschist) versucht, die harte arbeiterfeindliche Politik der AfD zu vertuschen. Nicht nur möchte diese die Macht der Gewerkschaften brechen, auch ist ihr sozialpolitisches Programm frontal gegen die proletarischen Interessen gerichtet. Sie steht für die Aufkündigung der Sozialpartnerschaft und einen Frontalangriff auf die Arbeiterklasse mit ideologisch schärfstem Rassismus und Nationalismus.
Diese politischen Verschiebungen ritten die Bourgeoisie in eine politische Zwickmühle. Glasklar ist für die Bourgeoisie nur eines. Die kapitalistische Krise ist nicht gelöst, im Gegenteil. Die deutsche Industrie steckt in einer Rezession und ein globaler synchroner Abschwung steht bevor. Die herrschende Klasse hat sich darauf vorzubereiten: Weitere und verschärfte Angriffe auf die Arbeiterklasse müssen her, um Profitbedingungen und Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen.
Die Spannung steckt in den politischen Mitteln: Weder mit noch ohne AfD ist in Thüringen eine Regierung hinzukriegen, welche die Angriffe durchführt. Die rot-rot-grüne Koalitionsregierung der letzten Periode dient immer weniger als der notwendige Rammbock gegen die Arbeiterklasse. Während die Parteien der Grossbourgeoisie, CDU und FDP, entweder arg an WählerInnen verloren oder auf Tiefniveau stagnieren, nahm die AfD stark an Wähleranteilen zu. Der Niedergang ihrer angestammten politischen Steigbügelhalter einerseits, die Notwendigkeit verschärfter Angriffe auf die Arbeiterklasse andererseits drängen die deutsche Bourgeoisie immer mehr dazu, sich politische «Unterstützung» bei der AfD zu holen.
Ein öffentliches Bündnis mit der AfD steht allerdings noch nicht zur Debatte. Aber weder der Rassismus und Nationalismus der AfD noch deren Angriffslust auf die Arbeiterklasse sind der Bourgeoisie ein Dorn im Auge. Vielmehr steckt eiskaltes Kalkül dahinter. Die Grossbourgeoisie ist angewiesen auf die EU: als Absatzmarkt ihrer Exporte und als politischer, ökonomischer, aber auch militärischer Block gegen die grossen imperialistischen Blöcke, die USA und China. Die EU-feindliche und kleinbürgerlich-nationalistische Politik der AfD schmeckt der Grossbourgeoisie nicht. Dazu kommt die Angst vor weiterer politischer Instabilität. Die vorläufige Zurückhaltung der Bourgeoisie gegenüber der AfD liegt in der Sorge um die Stabilität des kapitalistischen Systems, in dem sie herrscht und ausbeutet. Der immense Druck von der Strasse war ein Vorgeschmack davon, was passiert, wenn sie auf die AFD setzt. Er zwang die Spitzen der CDU dazu, den bürgerlichen Block in Thüringen zurückzupfeifen.
Im Kampf gegen die extreme Rechte ist keinerlei Verlass auf die Bourgeoisie. Es sind die jahrzehntelangen Angriffe der Bourgeoisie, die überhaupt den Nährboden für die extreme Rechte hervorbrachten. Es ist das kapitalistische System in der Periode des Niedergangs, wovon Höcke und co. nur ein widerlicher Ausguss darstellen. Die Bourgeoisie wird auf die extreme Rechte setzen, wenn ihr die Mittel im Kampf gegen Arbeiterklasse und Linke ausgehen. Thüringen hat das einmal mehr bewiesen.
Wir können nur auf unsere eigenen Kräfte setzen: die Kräfte der Arbeiterklasse und der Jugend. Und diese entwickeln sich. Die Reaktionen in Form von Demonstrationen in Erfurt und anderen Städten zeigten eindrucksvoll das Widerstandspotential. Dieses Potential muss kanalisiert werden. Es gilt, das politische Vakuum, in das die AfD in demagogischer Manier eintritt, zu füllen – und die einzige wirkliche Antwort auf die Krise zu geben: Kampf gegen die Ursachen der Probleme, nämlich den Kapitalismus. Der Kampf gegen die AfD läuft auf den Widerstand gegen das kapitalistische System selbst hinaus. Nur die Überwindung des Kapitalismus hin zu einer sozialistischen Gesellschaft wird der rechten Barbarei endgültig den Boden unter den Füssen entziehen.
Bild: facebook.com/derfunke.de
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